Karl Kraus Marathonlesung ein großer Erfolg
30 Stunden gelesen, getwittert und gefilmt. Ein Projekt der VHS Hietzing im Gedenkjahr 1914–2014

Der Erste Weltkrieg ist in Ausstellungen, Gesprächsreihen, Vorträgen behandelt worden. „Die letzten Tage der Menschheit“ dämmerten in jeder Form – auch am Theater: Bei den Salzburger Festspielen, im Volkstheater und in der Burg. „Warum dann auch in der VHS Hietzing?“, könnte man fragen. Karl Kraus hat selbst daran gezweifelt, dass es möglich sei, das gesamte Werk auf der Bühne zu präsentieren, und gemeint, dies wäre einem „Marstheater“ vorbehalten. Seit dem 18. Oktober 2014 existiert dieses Marstheater, das aus rund 100 Personen besteht. So viele waren nötig, um dieses Werk lesend vorzustellen. Mehr als 80 Personen haben in 30 Stunden das Werk gelesen, die Vorarbeiten zogen sich über mehr als vier Monate hin. Bei einem Projekt wie diesem sind die Ergebnisse vielfältig für alle Beteiligten, denn Lernen findet längst nicht mehr nur im Kursraum statt.

Dass von den 80 Lesenden nur zwei Personen ausgefallen sind, zeugt von der großen organisatorischen Leistung des gesamten Teams; eine Leistung, die noch dadurch unterstrichen wird, dass punktgenau am Samstag um 15.00 Uhr die letzte Lesende die Worte sprach: „Die Stimme Gottes: Ich habe es nicht gewollt.“

streibl-liest-kraus_rgb

VHS-Direktor Robert Streibel liest Karl Kraus

Der „Weltuntergang“ war eine Veranstaltung, die parallel zur Gänze auf Facebook und Twitter zu verfolgen war. Das heißt, das ganze Werk existiert nun auch in einer Twitter-Kurzform:  Von „LABg Wehsely #kraus in meine Kompetenz gehört die Kapuzinergruft“ zu „#kraus Finale: Der Teufel tanzt mit der Pest“, und von „#kraus Die Niese: Czernowitz genommen“ bis zu „Die Allgemeine Wehrpflicht hat aus der Menschheit ein Passivum gemacht.“

Den Livestream der Lesung haben rund 600 Personen im Internet mitverfolgt.

Fast jede Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter hat bis zum Start der Marathonlesung zumindest einmal von der Lesung und von Karl Kraus geträumt. Die Letzte, deren Nacht auf diese Weise durch Literatur „verkürzt“ wurde, war unser Lehrling Vanesa Kostic, die den Text in 20-minütige Portionen aufgeteilt hat.

Wenn so viele Menschen an einem Projekt beteiligt sind, kommt es zu vielen berührenden Momenten, die auch Ausdruck eines gemeinsamen Lernens sind, das nicht evaluiert werden kann und schwer messbar ist.

Der Reinerlös des Projektes kam den jugendlichen Flüchtlingen im „Haus Sidra“ des Arbeiter-Samariter-Bundes zugute. Zwei Jugendliche, die erst seit einem Jahr Deutsch lernen, haben gemeinsam mit ihrer Betreuerin ebenfalls mitgelesen. Der Zufall führt oft die beste Regie, denn just diese Jugendlichen lasen jene Szene, in der die ausländerfeindliche Wiener Seele zu Wort kommt:

„Die Menge: Japaner san do! Japaner san a no in Wean! Aufhängen sollt ma die Bagasch bei ihnare Zöpf!

Einer: Loßts es gehn! Dös san ja Kineser!

Zweiter: Bist selber a Kineser!

Der Erste: ‚leicht du!

Dritter: Alle Kineser san Japaner!“

Für diese Marathonlesung gab es auch ein eigenes kulinarisches Angebot des Café Prosa. Bildung geht gewissermaßen auch durch den Magen: So gab es „Franz Ferdinand Laibchen mit Generalssauce“ (faschierte Laibchen mit Tomatensauce), „Schalek Schrapnell“ (Schokoladekuchen + Schlagobers) oder „FeigeNuss“ (Feige & Nuss mit Ouzo). Den „Revolutions-Cocktail“ gab es in zwei Ausführungen: „sozialdemokratisch“ (25 Prozent Alkohol) und „kommunistisch“ (40 Prozent Alkohol).

Eine Attraktion der sparsamen Inszenierung der Lesung war ein Krokodil auf der Bühne. Am Beginn des Marathons wurde dieses Requisit erläutert: „Wie hatte Sinowatz bei der Waldheim-Affäre gesagt. Wir nehmen zur Kenntnis, dass nicht der Reiter, aber sein Pferd  … Bei uns heißt es ‚Nicht der Thronfolger, sondern sein Krokodil‘. Normalerweise sehen Sie dieses Spielzeug des Thronfolgers im Museum in Artstetten. Für diese Marathonlesung hat es Ausgang bekommen. Jede Leserin, jeder Leser muss dieses Krokodil füttern und nach der Lesung den Luftballon zum Zerplatzen bringen. Mehr als 71 Mal. Ein Text, ein Weckruf.“

Und was bleibt von dieser Lesung, die von Gerald Buchas und Robert Streibel konzipiert wurde?

Alle 71 Teile (je 20 Minuten) werden online abrufbar sein. Bevor man auf Youtube zu einer Aufführung des Burgtheaters kommt, muss man/frau zuerst die Volkshochschule zur Kenntnis nehmen. „Der letzte Tage der Menschheit-Wein“ des Weinguts Sailer mit einem speziellen Etikett „Limited Edition VHS“ ist noch immer in der VHS Hietzing erhältlich. 50 Prozent des Verkaufspreises werden für Deutschkurse für Flüchtlinge des Heimes „Sidra“ des Arbeiter-Samariter-Bundes verwendet. (Eine Flasche Rotwein Triade kostet 12,– Euro; eine Flasche Veltliner 8,– Euro).

Nach 30 Stunden Lesemarathon haben viele gefragt: „Und was werden wir im nächsten Jahr lesen?“ Die Wiener Volkshochschulen werden diese Form einer breitenwirksamen Leseförderung, die überdies auch Spaß macht, jedenfalls auch im nächsten Jahr durchführen. Was gelesen wird, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Es muss aber ein Buch sein, von dem viel gesprochen wird, das aber die Wenigsten selbst (zu Ende) gelesen haben. Vielleicht führt dieser Hinweis die Leserinnen und Leser dieses Artikels ja dazu, uns Tipps zu geben? //

Robert Streibel

Kommentare

Neuen Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Zurück nach oben