Zur Notwendigkeit einer rassismuskritischen Sprache

Denk- und Handlungsformen, die an rassistische Unterscheidungen anschließen und die kulturell-diskursive Geltung dieser Formen bekräftigen, vermitteln auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit betrifft Einzelperson und Gruppen; sie ist aber auch kennzeichnend für organisationale (etwa für Institutionen des Bildungssystems) und strukturelle Zusammenhänge (etwa Rechtsprechung). Diskurse und Praxen, die Ausdruck natio-ethno-kultureller Dominanzverhältnisse sind, bestätigen und stabilisieren das System rassistischer Unterscheidungen.

Rassismuskritik bezeichnet ein erkenntnispolitisches Engagement, das Deutungen und Termini, eine Sprache also anbietet, erprobt, weiterentwickelt, um dieses machtvolle System als solches zu erkennen, reflexiv, kritisch zu hinterfragen. Mittels Sprache und Kritik können Handlungsalternativen entwickelt werden.

Da Rassismus in Deutschland oft als ein spezifisches Phänomen im Zusammenhang mit der NS-Zeit verstanden wurde und wird, das sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem vergangenen historischen Ereignis wandelte, wurde dadurch Rassismus in Deutschland als Analysekategorie sozusagen geschlossen. Nach wie vor ist es somit ein wichtiges Ziel der Rassismuskritik, darauf zu verweisen, dass die Beteuerung, gewisse Formen der natio-ethno-kulturellen Ungleichheit hätten nichts mit Rassismus zu tun, nicht an sich überzeugend ist und zunächst darauf betrachtet werden muss, inwiefern diese Aussage ein Ausweichmanöver ist, mit dem eine Version der Herrschaft des Menschen über den Menschen – das Herz des Ordnungssystems Rassismus – nicht nur vertuscht, sondern auch bestätigt wird.

Erfahrungen, deren Sinn sich wissenschaftlich und politisch nur mit Bezug auf rassistische Unterscheidungen erschließt, Rassismuserfahrungen also, werden nicht aufgrund bestimmter Merkmale gemacht. Das Kopftuch ist nicht der Grund, warum die kopftuchtragende Person (rassistische) Formen von Diskriminierung erfährt. Diese Erfahrungen kommen vielmehr zustande, weil bestimmte Merkmale mit bestimmten Zuschreibungen (etwa der kulturellen Fremdheit, der sozialen Nichtzugehörigkeit, der zivilisatorischen Rückständigkeit) verknüpft sind. Wäre das Kopftuchtragen assoziiert mit Modernität oder Individualität, so würde die Person andere Erfahrungen machen.

Das soziale Unterscheidungssystem, das rassistische Diskriminierung und Rassismuserfahrungen hervorbringt, operiert mit dem Code der Rasse (und seinen aktuelleren Äquivalenten wie Kultur oder Ethnizität). Rassismus unterscheidet zwischen „Rassen“ (kulturellen, ethnischen Gruppen); wobei es wichtig ist, „Rassen“ als diskursive Konstruktionen, nicht als natürliche Gegebenheiten zu verstehen. Prinzipiell können wir davon ausgehen, dass aktuelle, eher mit der Unterscheidung Kultur operierende, wie eher auf physiognomische Unterscheidungen zurückgreifende und diese Unterscheidungen erfindende Formen und Varianten des Rassismus nebeneinander und vermischt existieren. Die rassistische Ordnung wirkt hierbei nicht allein als äußerliche Verteilung von Ressourcen, sondern ist auch in dem Sinne produktiv, dass sie auf Selbstverständnisse einwirkt.

Rassismuserfahrungen werden in unterschiedlicher Weise, in unterschiedlicher Intensität und Häufigkeit und in verschiedenen Kontexten erfahren und können bei Betroffenen mannigfache Gefühle auslösen. Herabwürdigende Worte und Handlungen können Gefühle wie Verletzung, Herabwürdigung, Beschämung, Verunsicherung und Angst nach sich ziehen.

Eine mögliche Umgangsform mit Rassismuserfahrungen kann aber auch das Leisten von Widerstand sein. Aktiv sein gegen Formen von (Fremd-)Viktimisierung kann sich als eine „Überlebenskunst“ entwickeln, die sich als Stärke weiter herausbilden kann. Das Wissen um und das Erkennen des Rassismus als System kann dazu führen, dass die Person bestimmten Situationen nicht mehr unvorbereitet und im wahrsten Sinne sprachlos ausgesetzt ist, sozusagen eine Art Immunität entwickelt, die sie vor Verletzungen schützt. Wo es gelingt, sich zu wehren, vielleicht mit Humor die rassistischen Worte oder Handlungen ins Lächerliche zu ziehen, wo es gelingt, aktiv zu werden, zu kontern, kann eine Irritation statthaben, eine Stärke auftauchen, die das System rassistischen Unterscheidens schwächt.

Wo eine Sprache für Diskriminierungserfahrungen gefunden wird, die nicht auf den Bereich des Persönlichen beschränkt bleibt, sondern Strukturen und Kontexte in kritischer Hinsicht benennbar macht und damit den Weg einer anderen Handlungsfähigkeit anzeigt, kann von Empowerment gesprochen werden.

Der Zurkenntnisnahme und Thematisierung diskriminierender und gewalttätiger Erfahrungen des Rassismus, dem Sprechen und Benennen und Gehört-Werden, kommt gerade in einem Klima der alltäglichen Banalisierung und Dethematisierung von auf rassistische Unterscheidungen verweisenden Diskriminierungserfahrungen eine bedeutsame Rolle zu. Empowerment kann in Räumen gelingen, in denen es möglich ist, durch Reflexion und Aneignung von Wissen aus der eigenen Ohnmacht herauszutreten und sich in der Begegnung mit anderen, im Austausch von Wissen, Erfahrungen und Strategien gegen Rassismus zu stärken. Ein wichtiges Moment von Empowerment-Prozessen besteht hierbei darin, individuelle Erfahrungen zu kontextualisieren. Es geht darum, einen Raum der Auseinandersetzung mit Lebens- und Leidenserfahrungen zu schaffen, in dem diese in einen historischen und sozialpolitischen Kontext gestellt werden.

Sprachliche Rassismuserfahrungen können in primäre und sekundäre Rassismuserfahrungen unterschieden werden. Primäre Rassismuserfahrungen sind solche, die auf direkte oder indirekte Weise Menschen in einer natio-ethno-kulturelle Dominanzverhältnisse bestätigenden Weise herabwürdigen, beschämen oder zum „Anderen“ machen. Das Thematisieren der Rassismuserfahrungen ist schwierig, weil es häufig weder eine geeignete Sprache, noch ein geeignetes „Gehör“ gibt. Häufig werden rassistische Äußerungen überhört, nicht wahrgenommen oder auch nicht verstanden. Warum eine Handlung, ein Wort etwas mit Rassismus zu tun haben soll, ist eine Reaktion der Abwehr, ein defensiver Modus, der zu sekundären Rassismuserfahrungen führen kann.

Es bedarf eines von Wissen um (post-)koloniale und natio-ethno-kulturelle Dominanzverhältnisse begründeten Gespürs, um Rassismus zu thematisieren und die Möglichkeit der Bekräftigung rassistischer Unterscheidungen abzulehnen. Es bedarf einer Sprache, um Rassismuserfahrungen zu thematisieren. Das Empfindungsvermögen und die Sprache, von denen hier die Rede ist, ermöglichen ein Lernen, die Vermitteltheit der migrationsgesellschaftlicher Unterscheidungen von Rassismus und unbewusste Strategien zu erkennen und zu modifizieren, die das Thematisieren erschweren oder unmöglich machen. Rassismuserfahrungen nicht zu bagatellisieren, nicht als Einzelfälle, gar als überreizte Empfindlichkeit oder als Missverständnisse der Betroffenen zu bezeichnen, sind relevante Elemente des Erkennens.

Eine Sprache zu haben, um rassistische Unterscheidungen, ihre zuweilen unmerklichen, subtilen und subkutanen Wirkungen zu thematisieren, muss erwünscht sein, erschaffen, eingeübt und erlernt werden. Auch in pädagogischen Kontexten werden Rassismuserfahrungen gemacht, aber häufig nicht thematisiert. Dadurch wird nicht nur der Realitätscharakter der Erfahrung in Frage gestellt, letztlich wird den Betroffenen ihre Erfahrung abgesprochen.

Orte zu schaffen, an denen Sprachen entwickelt werden können, die strukturelle, politische, erfahrungsfundierte Wirklichkeiten, die von rassistischen Unterscheidungsweisen vermittelt sind, erkennen und zum Ausdruck bringen, diese Wirklichkeiten ernst zu nehmen, ihnen zugleich ihre Schwere zu nehmen, Orte zu schaffen, an denen eine Sprache für die Realität der Diskriminierung entwickelt, erprobt, revidiert und vielleicht wieder verworfen werden kann, sind bedeutsame Aufgaben von Bildung bzw. Bildungsinstitutionen in der von natio-ethno-kulturellen Dominanzverhältnissen geprägten Migrationsgesellschaft. //

Quelle
http://antifra.blog.rosalux.de/zur-notwendigkeit-einer-rassismuskritischen-sprache/; mit freundlicher Genehmigung der AutorInnen und der Rosa Luxemburg Stiftung.

Atali-Timmer, Fatoş /Mecheril,Paul (2016): Zur Notwendigkeit einer rassismuskritischen Sprache. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Dezember 2016, Heft 260/67. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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