Kultisch suchen Menschen nach dem eigenen Selbst, aber sie finden es nicht. Kulturkritisch, wenn nicht sogar kulturpessimistisch, beurteilt Alexander Grau, Wissenschaftsjournalist und freier Publizist, das gegenwärtige, weit verbreitete Streben der Menschen nach Identität und Authentizität. Er sieht darin den Versuch, dem Gefühl der Fremdheit gegenüber der Welt, das nach Ansicht des Autors zum Menschsein gehört, zu entkommen. Mit Weltoffenheit und stets Unabgeschlossenem konfrontiert ist der Mensch auch sich selbst gegenüber fremd. Die Hoffnung, das wahre Selbst zu finden, ein festgefügtes Leben aufzubauen, bleibt Illusion.
Etwas pauschalierend zeichnet Grau ein Bild der Moderne, deren Verheißungen sich, sobald sie sich erfüllen, dialektisch ins Gegenteil verkehren: Freiheit wird zur Angepasstheit, Individualität zur Uniformität, Emanzipation zur Unfähigkeit sich zu binden … Eine sehr negative Weltsicht, gestützt auf Urteile wie, das gab es „nie zuvor“, leitet die Argumentation des Autors.
Gesellschaften des globalen Nordens haben sich von ihren natürlichen Grundlagen, Bedürfnissen und Eigenarten so weit entfernt, dass sie für „grundlegende Handlungen“ – für Ernährung, Bewegung, Sex und Karriere – nicht ohne Anweisungen auskommen.
Besorgt beobachtet der Autor den Transhumanismus, die technische Substitution von Körper und Geist – darin sieht er die ihr Selbst Suchenden ihre Natur verleugnen. Zu befürchten ist ein Verlust der Vielzahl von Kulturen, ein „Assimilationszwang“, eine „globale Monokultur“.
Entfremdung von eigenen Traditionen konstatiert Grau mit dem Aufstieg der modernen Kunst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Im damit eingeleiteten Verschmelzen von Kunst und Alltag zu diffuser Popkultur, liegt die Basis für den Glauben, jede*r könne ein Star werden – Selbstfindung und Marketing werden verflochten. Vorbild wird, wer sich „permanent neu erfindet“, allerdings handelt es sich dabei nur darum, Altbekanntes neu zu verpacken.
Die zu bemerkende soziale Beschleunigung gekoppelt mit kurzfristigen notwendigen Entscheidungen führt zu Erstarrungen, zunehmenden sozialen Belastungen und Unfreiheit.
„Der Mensch der Spätmoderne ist ein Gläubiger“ (S. 91), meint Grau. Er bezieht sich auf den Glauben an Universalismus, Globalisierung, Digitalisierung, Menschenrechte und bezeichnet Experten als „Glaubenswächter“. Gegen den bestehenden gegenwärtigen Konformismus setzt Grau – wie der Solipsismus im 19. Jahrhundert – auf radikale Individualität und stellt fest: Mündigkeit heute bestehe in der Fähigkeit, einsam sein zu können.
Verlust von Autonomie und Entfremdung werden aufgrund moderner, medialer Propaganda „allumfassend“. Dass Bildung dem entgegentreten könne, bezeichnet Grau als naiv, die Moderne und ihr Wirken als gescheitert.
Individuen verstricken sich in diesen Zusammenhängen, sie können sie weder beurteilen noch sich aus ihnen lösen. Eine gesellschaftspolitische Reform der von ihm dargelegten Lage, hält Grau für ausgeschlossen. Eine „kathartische Globalhaverie“, die alles ändern würde, fürchtet in ihren Konsequenzen sogar der Autor. Deshalb ist der einzige Ausweg: der Einzelne selbst. Dieser soll mit den bestehenden kollektiven Gewissheiten brechen und größtmögliche Distanz zur Gesellschaft aufbauen.
„Bereitschaft zur Einsamkeit“ sowie „Einsamkeitsfähigkeit“ setzt der Autor voraus, als eine „notwendige subversive Kraft, um deren (der Gesellschaft, W. L.) totalitären Zugriff zumindest auf das eigene Leben abzuwehren“ (S. 122). Autonomie erlangen Individuen nur, wenn sie ihre eigene Fremdheit ertragen und verteidigen.
Grau empfiehlt, seine Reflexionen zusammenfassend, eine „Ethik der Hermetik“. Wie das praktisch zu leben ist, wie es gelingt, sich von anderen abzuschließen ohne Beziehungen zu anderen völlig auszuschließen, überlässt der Autor den Lesenden.
Der oft in apodiktischem Stil geschriebene Text findet sicherlich Leserinnen und Leser mit philosophischem Hintergrund (VHS-Kategorie „Politik, Gesellschaft und Kultur“), die kritischen Widerspruch nicht nur in Einsamkeit pflegen wollen. //
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