In weiterer Folge wurde das auf eine umfassendere Betrachtungsweise ausgeweitet und man wollte alle möglichen Arten von Risiken untersuchen und abschätzen. Jährlich erscheint eine Vielzahl von Risikoanalysen („risk reports“) und eine der prominentesten ist der seit einiger Zeit jährlich erscheinende Global Risk Report des Wirtschaftsforums Davos.
Bevor ich mich einigen interessanten Aussagen aus den jüngsten Global Risk Reports zuwende, noch eine kurze Vorbemerkung.
Die Bedeutung oder Größe eines Risikos setzt sich vor allem aus zwei Faktoren zusammen: der probability, also der Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Risiko eintritt und die magnitude, das heißt die Größe des Schadens, der im Risikofall entsteht.
Davos beschäftigt sich vor allem mit politischen und gesellschaftlichen Risiken.
Dabei sind es zwei verschiedene Dinge, ob man Wissenschafter und Statistiker beauftragt, bestimmte Risiken zu berechnen und einzuschätzen oder ob man Umfragen macht und die Menschen fragt, welche gesellschaftliche Risiken ihnen subjektiv besonderes bedrohlich erscheinen.
Eine weltweite Umfrage auf allen fünf Kontinenten im Jahre 2018 hat zum Beispiel folgende aktuelle fünf Top-Risiken im Bereich der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung nach Einschätzung der Befragten ergeben:
- Arbeitslosigkeit
- Klimakatastrophe
- Energiepreisschock
- Finanzkrise
- Cyberattacken.
Besonders interessant ist das Bild, wenn man es nach Kontinenten oder große Regionen aufgliedert und Vergleiche zieht:
In Europa nehmen Cyberattacken, Finanzkrisen und Klimakatastrophen die ersten drei Plätze unter den aktuellen Risikofaktoren ein.
Im Nahen Osten und im nördlichen Afrika sind es Energiepreisschock, Arbeitslosigkeit und Terrorattacken.
In Nordamerika sind es ebenfalls Cyberattacken, dann Datendiebstahl und Klimakatastrophen.
Bemerkenswert scheint mir auch, dass das Migrations- und Flüchtlingsproblem („the problem of large-scale forced migration“) in der weltweiten Gesamtskala nicht unter den Top Ten aufscheint, in der Europaskala an neunter Stelle steht, aber in Österreich an zweiter Stelle.
Anders schaut übrigens eine Global Risks Tabelle aus, die nur die aktuellen Risikoerwartungen für das Jahr 2019 zum Inhalt hat. Hier steht global an erster Stelle die Gefahr ökonomischer Konfrontationen zwischen den Weltmächten, also vor allem zwischen den USA und China, an zweiter Stelle die Erosion der multilateralen Handelssysteme, an dritter Stelle politische Konfrontationen zwischen den Weltmächten, an vierter Stelle Cyberattacken und an fünfter Stelle der wachsender Einfluss der populistischen Agenda.
Das Executive Summary des Global Risks Reports 2018 begann mit folgenden Worten: „Der vorige Global Risks Report (2017) wurde in einer Zeit steigender globaler Unsicherheiten und wachsender allgemeiner Unzufriedenheit mit der bestehenden, politischen und gesellschaftlichen Ordnung verfasst. Der Bericht fordert daher fundamentale Reformen in der Wirtschaftsordnung und einen Wiederaufbau des Zusammenhaltes innerhalb und zwischen einzelnen Staaten.“
Das Executive Summary des Berichtes 2019 beginnt hingegen mit einer harten und provokanten Frage, welche lautet:
„Taumelt die Welt schlafwandelnd in eine Krise? Die globalen Risiken nehmen zu, aber der kollektive Wille, ihnen zu begegnen, scheint zu fehlen. Stattdessen stoßen wir auf Spaltungen und Verhärtungen. Die Welt bewegt sich in Richtung einer neuen Phase einer stark an Staatsinteressen orientierten Politik, die sich auch im abgelaufenen Jahr fortgesetzt hat.
Außerdem schafft die Spannung zwischen der Globalisierung der Wirtschaft und dem wachsenden Nationalismus in der Weltpolitik tiefergehende Risse.“
Noch mehr ins Grundsätzliche gehend heißt es dann weiter, dass die Welt sich nicht nur von einer bipolaren zu einer multipolaren Welt entwickelt, sondern auch von einer bikonzeptionellen zu einer multikonzeptionellen, wodurch nicht nur zwei große gesellschaftspolitische Alternativen, sondern eine Vielfalt gesellschaftspolitischer Alternativen und Zielsetzungen einander gegenüberstehen, was eine „ideologisch“ noch stärker aufgesplitterte Welt mit einer Mehrzahl von Wertesystemen zur Folge hat.
Da ist viel Stoff zum Nachdenken enthalten.
Bei den einzelnen Risikofaktoren wurde – wie schon erwähnt – einerseits die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens („terms of probability“) und andererseits die Intensität der Auswirkungen („terms of magnitude“) berücksichtigt. So stehen z.B. Massenvernichtungswaffen in den Reports der Jahre 2017, 2018 und 2019 global an der Spitze bei „terms of magnitude“, während bei „terms of probability“ Klimakatastrophen in den letzten drei Jahren immer weiter nach vorne gerutscht sind.
Kombiniert man diese beiden Faktoren, nämlich die Massivität des Risikos mal der Wahrscheinlichkeit des Eintretens, dann sind es längerfristig irreversible Klimakatastrophen als Folge der Erderwärmung, die im Zusammenwirken von Impact und Wahrscheinlichkeit laut dem Global Risks Report 2019 die größte Bedrohung für Mensch und Natur darstellen.
Die Auswirkungen solcher Szenarien und Gefahren auf den einzelnen Menschen und unsere Lebenswelt machen es notwendig, auch von einer „human side of global risks“ zu sprechen: Menschen werden im wachsenden Maße ängstlich, unsicher und fühlen sich vereinsamt und machtlos. Geschätzte 700 Millionen Menschen, also 9 Prozent der Weltbevölkerung von 7,7 Milliarden haben heute mentale Gesundheitsprobleme.
Mit besonderem Interesse habe ich auch jenen Teil der Analyse gelesen, wo es heißt, dass in einer Welt der „diverging values“, also von unterschiedlichen Werten, auch Menschenrechte immer mehr in Gefahr geraten. Ich zitiere: „In einer Zeit einer Politik der starken Hand, des starken Staates und der innenpolitischen Polarisierung wird es Regierungen leichter gemacht, individuelle Schutzrechte der gesamtstaatlichen Stabilität unterzuordnen. Das geschieht immer häufiger. Zwar werden Lippenbekenntnisse zu den Menschenrechten abgegeben, aber sie werden mehr und mehr verletzt, und zwar national und international, wenn es im staatlichen Interesse zu sein scheint. Auch in demokratischen Staaten gibt es einen Schub in Richtung eines Illiberalismus, wo sich die Machthaber herausnehmen zu entscheiden, wessen Rechte geschützt werden, welche Individuen auf der Verliererseite stehen oder sich sogar als „enemies of the people“ bezeichnen lassen müssen.“
Das sind Überlegungen, die in manchen anderen Risikoanalysen ausgeblendet bleiben, die aber von großer Relevanz und alarmierender Aktualität sind. Man hat fast den Eindruck, dass die Autoren des Berichtes geahnt haben, dass es in Österreich Politiker gibt, die die Politik (insbesondere ihre Politik) über das Recht stellen wollen, anstatt eine der wichtigsten Errungenschaften des modernen Rechtsstaates anzuerkennen, wonach das Recht die Aufgabe hat, der Politik und der Machtausübung Grenzen zu setzen, Zügel anzulegen und unantastbare Menschenrechte zu definieren. Auch die Änderung von Gesetzen darf in einem Rechtsstaat nur im Rahmen der Rechtsordnung erfolgen und unterliegt konsequenterweise einer rechtlichen Überprüfung.
Ich möchte an dieser Stelle noch einige ergänzende Überlegungen in diese Darlegungen einbringen.
Nach meiner Auffassung ist das größte Risiko für die Menschheit und auch für Europa immer noch und schon wieder ein Krieg mit Massenvernichtungswaffen.
Dieses Risiko konnte zwar in den vergangenen 70 Jahren trotz der gefährlichen Konfrontation zwischen Ost und West und trotz einiger besonders heikler Situationen beherrscht werden, aber es war und ist ein großes und dramatisches Risiko. Der Zusammenbruch des Kommunismus und das Ende der bilateralen Konfrontation zwischen Ost und West haben dieses spezifische Risiko zunächst zwar reduziert, aber es bleibt auch im 21. Jahrhundert in einer multipolaren Welt, in der die Zahl der Atommächte sich der Zweistelligkeit nähert, in der auch nicht atomare Massenvernichtungswaffen eine immer größere Zerstörungskraft haben und in der allein die USA pro Jahr mehr als 620 Milliarden Dollar (mit steigender Tendenz) für Rüstungszwecke ausgeben, ein enormes Risiko.
Labile Persönlichkeiten an der Spitze von Staaten können dieses Risiko noch weiter vergrößern.
In ähnlichen Dimensionen – wenn auch ganz anders geartet – liegt das Risiko von Klimakatastrophen durch eine ungenügende oder verfehlte Klimapolitik.
Das ist zwar ein Risiko mit einer längerfristigen Perspektive – im Vergleich zu einer militärischen Konfrontation, die sich ja auch sehr kurzfristig entwickeln kann – aber es ist ein Risiko mit dramatischer Irreversibilität.
Und was in der eingangs besprochenen globalen Umfrage am zweiten Platz landete, nämlich „failure of national governance“ würde ich im Europa der Gegenwart nicht primär als Regierungsversagen, sondern auch als Krise oder Zusammenbruch der Demokratie bezeichnen und an die dritte Stelle meiner Risikoliste setzen.
Ich betrachte zwar die Demokratie in Österreich und vielen anderen Staaten Europas heute als weitgehend gefestigt, schließlich ist es ja auch historisch nachweisbar, dass es im 20. Jahrhundert trotz Stalinismus und Faschismus letzten Endes eine stärkere Tendenz von der Diktatur zur Demokratie gegeben hat, als in der umgekehrten Richtung. Als Folge davon hat es im Jahr 2000 wesentlich mehr Demokratien und wesentlich weniger Diktaturen gegeben als im Jahr 1900, und diese Tendenz sollte sich fortsetzen.
Aber auch diese gut begründbare Hoffnung ist mit Risiken belastet. Denn es muss uns bewusst sein, dass selbst gefestigte Demokratien nicht unzerstörbar sind: Damit eine Demokratie funktioniert, reichen – zugespitzt formuliert – eine demokratische Verfassung und Wahlen alle vier oder fünf Jahre nicht aus. Eine Demokratie braucht zunächst einmal eine Mehrheit von Menschen, die die Demokratie aktiv wollen und „tragen“. Sie braucht darüber hinaus einen funktionierenden Rechtsstaat, eine bunte und unabhängige Medienlandschaft und ein pluralistisches politisches Klima – also das, was man eine „offene Gesellschaft“ nennt.
Und dazu beizutragen ist auch eine zentrale Aufgabe der Erwachsenenbildung. //
Tipp: Global Risks Report 2019 des Weltwirtschaftsforums
http://www3.weforum.org/docs/WEF_Global_Risks_Report_2019.pdf
Kommentare