Demokratie gibt es nur mit Menschen, die die Demokratie wollen und die die Grunderfordernisse der Demokratie „in ihrer Lebenswelt wertschätzend erlernt, praktisch eingeübt und mental verinnerlicht haben“. (Himmelmann: 2022, S. 46). Gerade gegenwärtig können wir erfahren, dass Demokratie kein Zustand ist, der für immer gesichert ist. Im Gegenteil: Demokratie muss immer wieder neu ausgehandelt werden. Demokratie ist ein Zustand, der als prozesshaft bezeichnet werden kann (vgl. Lange & Straub: 2023, S. 4) und daher ist Demokratiebildung in das lebensbegleitende Lernen einzubetten. Darüber hinaus ist Demokratie nicht nur als nationales Projekt zu betrachten, sondern als globales.
Oskar Negt hat in seinem Referat bei der 60-Jahr-Feier des Verbandes Österreichischer Volkshochschulen am 7. Dezember 2010 in der Wiener Urania von der Demokratie als der einzigen Gesellschaftsordnung gesprochen, die in einem „sehr intensiven Sinn gelernt werden muss“. (Negt: 2010). Der Präsident des Verbandes Österreichischer Volkshochschulen, Heinz Fischer, sprach bei der VÖV-Hauptversammlung am 21. Juni 2016 davon, dass auch im 21. Jahrhundert nicht gelte: einmal Demokratie, immer Demokratie. „Im Gegenteil: Demokratie muss immer wieder aufs Neue bestätigt, gepflegt, am Leben erhalten und verteidigt werden.“ (Fischer: 2016).
Demokratiebildung – ein Anliegen der Volkshochschule
Demokratie und Volkshochschule sind aufs Engste miteinander verbunden. Die Volkshochschule trägt dazu bei, dass sich Demokratiebewusstsein in der Bevölkerung entwickelt. Gleichzeitig entfaltet sich die Volkshochschule in der Demokratie und kann alle ihre Stärken ausspielen. Ziel der Demokratiebildung der Volkshochschule ist es nicht, die Menschen unkritisch und unreflektiert dem politischen System zuzuführen, sondern die Förderung von Mündigkeit, des Verstehens und Einordnens von Ereignissen und Prozessen sowie des kritischen Hinterfragens. Die Volkshochschule baut auf die Menschenrechte, die neben anderen diese grundlegenden Werte definieren: Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Recht auf Bildung, Recht auf Arbeit, Demokratie.
Die Weiterentwicklung der Demokratie ist der Volkshochschule ein Anliegen. Sie vermittelt Wissen zur besseren Orientierung, stärkt die eigene Urteilsfähigkeit und unterstützt ein auf Dialog und Toleranz basierendes Zusammenleben. Die einzelnen Volkshochschulen sind Treffpunkte für Menschen aus den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, aus unterschiedlichen Altersgruppen und mit verschiedenen beruflichen Hintergründen. Volkshochschulen sind Orte und Plattformen des „Probehandelns“. Das Lernen in der Gruppe unterstützt die Menschen, Interaktionen werden ausprobiert, Feedback kommt von den anderen Kursteilnehmer*innen und neue Perspektiven können entwickelt werden. Mit ihrem breiten Angebot leisten die Volkshochschulen einen entscheidenden Beitrag zur persönlichen Weiterentwicklung, zum sozialen Zusammenhalt sowie zur gesellschaftlichen und politischen Teilhabe.
Demokratiebildung, die als Teil der politischen Bildung zu verstehen ist, wird in vielen Veranstaltungen in Volkshochschulen praktiziert. In vielen Fällen handelt es sich um Veranstaltungen, die Wissen und auch Fertigkeiten vermitteln. Dass Demokratiebildung jedoch breiter aufgestellt sein soll, wird im folgenden Abschnitt angesprochen.
Demokratie als Lebensform, Gesellschaftsform und Regierungsform
Demokratie ist kein gesicherter Zustand, sondern sogar ein „ständig gefährdetes soziales Experiment, das sich in gewaltfreier sozialer Interaktion und in ‚Zusammenarbeit zu gemeinschaftlichen Zwecken‘ stetes – auch bei Rückschlägen – neu bewähren muss“. (Himmelmann: 2022, S. 47).
Demokratie als Regierungsform bzw. als Herrschaftsform beruht auf Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit, auf der Anerkennung der Menschenrechte per Verfassung, auf Parlamentarismus und Repräsentation, auf Parteienwettbewerb, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, auf der Gewährleistung einer sozialen Sicherung. Demokratiebildung ist diesem Verständnis nach auf den Bereich des Staates begrenzt und bezieht sich weitgehend auf das Wissen über Institutionen, Prozesse der repräsentativen Demokratie und Gesetze.
Demokratie ist jedoch breiter zu sehen, der Diskurs Anfang der 1990er-Jahre über die Zivil- und Bürgergesellschaft hat gezeigt, dass Demokratie mehr ist als eine bloße Regierungsform. Demokratien brauchen eine gesellschaftliche und eine individuelle Verankerung, um bestehen zu können. Für Demokratiebildung stellt sich daher die Frage, ob „gesellschaftliches Lernen“ Teil der Demokratiebildung sein sollte. Demokratie als Gesellschaftsform meint die soziale Verankerung der politischen Demokratie und umfasst einen gesellschaftlichen Pluralismus, der beispielsweise durch Verbände, Vereine und Initiativen gekennzeichnet ist; Dialog-, Verhandlungs- und Mitbestimmungssysteme; eine freie und vielfältige Öffentlichkeit (Medien) und schließlich ein breites öffentliches Engagement der Bürger*innen, das über die Beteiligung an Wahlen hinausgeht. Demokratie-Lernen und „gesellschaftliches Lernen“ in Bezug auf das Zusammenleben der Menschen sind demnach zentrale Bestandteile von Demokratiebildung. (Vgl. ebd., S. 48).
Demokratie als Lebensform betrifft das Zusammenleben der Menschen, Demokratie ist hier eine soziale Idee, Demokratie ist eine Kultur. Kennzeichnend sind hier, neben anderem: Konfliktregulierung, Ausgleich, Vielfalt, aber auch Chancengerechtigkeit. Demokratiebildung versteht sich nicht als belehrend, nicht als ein Appellieren, sondern es geht um das Ermöglichen von praktischen Erfahrungen mit einer „lebens- und gesellschaftsnahen Demokratie“ (ebd., S. 49). So gesehen ist Demokratie als Lebensform das Rückgrat einer funktionierenden, einer gelebten und auch einer stabil bleibenden Demokratie. Demokratie bezieht sich auf gesellschaftliche Gruppen, auf die Interaktion in Stadtteilen, Familien und schließlich auch in den Lerngelegenheiten der Volkshochschule.
Der Politikwissenschafter und Politikdidaktiker Gerhard Himmelmann beschreibt die Themenbereiche der drei genannten Verständnisse von Demokratie im Hinblick auf die Demokratiebildung wie folgt.
Demokratie als Herrschaftsform
Menschenrecht/Rechtsstaat
Wahlen/Volkssouveränität
Parlamentarismus/Parteienwettbewerb
Gewaltenteilung
Soziale Sicherung
Demokratie als Lebensform
Zivilität/Fairness
Toleranz
Vielfalt der Lebensstile
Chancenvielfalt
Solidarität
Selbstorganisation
Demokratie als Gesellschaftsform
Pluralismus
Soziale Differenzierung
Friedliche Konfliktregelung
Konkurrenz/Marktwirtschaft
Offenheit/Öffentlichkeit
Zivilgesellschaft
Quelle: Himmelmann: 2022, S. 50.
Demokratiebildung erfordert Wissen und Fertigkeiten. Darüber hinaus sind jedoch auch Werte und Haltungen zu berücksichtigen, damit Demokratie und demokratisches Handeln sowie demokratisches Verhalten sozial und individuell sich gut verankert lassen. Im nächsten Abschnitt werden diese weiteren Dimensionen von Demokratiebildung angesprochen.
Dimensionen von Demokratiebildung
Welche Dimensionen Demokratiebildung beinhalten könnte, zeigt ein Blick auf die Schlüsselkompetenzen der Europäischen Union für das lebensbegleitende Lernen. Als Schlüsselkompetenz Nummer sechs firmiert die Bürgerkompetenz („citizenship competence“ im Englischen), die zwar nicht vollständig ident mit Demokratiebildung gesetzt werden kann, aber doch einen ähnlichen Ansatz beinhaltet.
Die Europäische Kommission definiert Bürgerkompetenz als „die Fähigkeit, als verantwortungsvoller Bürger zu handeln und uneingeschränkt am gesellschaftlichen und sozialen Leben teilzunehmen, und zwar auf der Grundlage der Kenntnis gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, rechtlicher und politischer Konzepte und Strukturen sowie einem Verständnis von globalen Entwicklungen und Nachhaltigkeit.“
Neben Wissen spielen auch ein „Verständnis der gemeinsamen europäischen Werte“, ein „Bewusstsein für die Ziele, Werte und politischen Strategien sozialer und politischer Bewegungen sowie für nachhaltige Systeme“ eine Rolle. Gesondert erwähnt werden der Klimawandel, der weltweite demografische Wandel, ein Bewusstsein für die Vielfalt und die kulturelle Identität in Europa und der Welt.
Weiters gehört zur Bürgerkompetenz die „Fähigkeit, Beziehungen zu anderen“ im Sinne gemeinsamer, öffentlicher und an der nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft orientierten Interessen zu gestalten. Ebenso ist die „Fähigkeit zum kritischen Denken und zur integrierten Problemlösung“ zu berücksichtigen, aber auch die Fähigkeit zur „Entwicklung von Argumenten“ und die „konstruktive Teilnahme an gemeinschaftlichen Aktivitäten“ und an der Entscheidungsfindung auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen (lokal, national, europäisch und international).
In diesem Zusammenhang wird auch die Medienkompetenz genannt, das Spektrum reicht von der Nutzung der Medien bis hin zum kritischen Verständnis.
Die Menschenrechte wirken als Grundlage der Demokratie und legen den Grundstein für eine „verantwortungsbewusste“ und „konstruktive“ Einstellung. Daher geht es um das Eintreten „für gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt, die Gleichstellung der Geschlechter, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und nachhaltige Lebensweisen, die Förderung einer Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit sowie die Bereitschaft, die Privatsphäre anderer zu respektieren und Verantwortung für die Umwelt zu übernehmen.“ Soziale Gerechtigkeit und Fairness werden als weitere Anforderungen angegeben. (EU: 2018).
Kompetenzrahmen für eine demokratische Kultur
Eine weitere Rahmung bietet der vom Europarat entwickelte „Kompetenzrahmen für eine demokratische Kultur“. Dabei handelt es sich um ein Modell, das die für demokratische Kultur und interkulturellen Dialog erforderlichen Kompetenzen darstellt. (Europarat: 2023). Der Kompetenzrahmen beinhaltet vier Gruppen: Werte, Haltungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Wissen und kritisches Verstehen, und er umfasst insgesamt 20 Kompetenzen. Im zweiten Band werden die Kompetenzen im Detail beschrieben, und zwar mittels Deskriptoren, die auf Lernergebnissen beruhen. In einem dritten Band werden Richtlinien für die Implementierung vorgestellt.
Quelle: Europarat: 2023, Volume 1: Kontext, Konzepte und Modell, S. 40.
Der Kompetenzrahmen eignet sich für die Planung von Ausbildungen und Lehrgängen. Lernergebnisse aus dem Kompetenzrahmen können auch dafür eingesetzt werden, um Demokratiebildung als Prinzip zu Ausbildungslehrgängen horizontal hinzuzufügen. Bestehende Kurse können mit dem Kompetenzrahmen überprüft und gegebenenfalls ergänzt werden. Ebenso können Train-the-Trainer-Angebote mit dem Kompetenzrahmen entwickelt und bestehende auch angereichert werden.
Demokratiebildung als Teil des Lebenslangen Lernens
Wenn Demokratie nichts Bleibendes und von den Menschen abhängig ist, die in ihr und mit ihr leben, ist es daher gerade auch aus erwachsenenbildnerischer Sicht naheliegend, Demokratiebildung als Teil des Lifelong Learnings zu verankern. Erwachsenenbildung, wie sie in Volkshochschulen praktiziert wird, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich auf Argumente und auf eine Politik der Überzeugung stützt und gleichzeitig ein hohes Ausmaß an Toleranz, Verstehen und Achtung der Würde des Menschen praktiziert. Auch wenn es nicht immer gelingen wird, andere von den eigenen Argumenten zu überzeugen, so ist doch eine wichtige Voraussetzung für einen Dialog auf Augenhöhe, andere mit ihren Erfahrungen und Argumenten zu verstehen. Empathiefähigkeit ist ein Merkmal der Bildungsarbeit der Volkshochschulen. Darüber hinaus ist Erwachsenenbildung in Volkshochschulen auf Wissenschaft und Forschung gestützt und alles zusammengenommen ermöglichen Volkshochschulen die Erprobung demokratischen Handelns. Die Volkshochschulen alleine können jedoch keine merkbare gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten. Eine Einbettung in eine gesamtgesellschaftliche bzw. eine gesamtstaatliche Strategie wäre daher dringend notwendig, um Demokratiebildung voranzutreiben.
Es ist keine Frage, dass es sehr wichtig ist, bei den Schulen anzusetzen. Allerdings darf die Erwachsenenbildung dabei nicht außer Acht gelassen werden. Sinnvoll ist daher eine Versammlung aller relevanten Stakeholder, Institutionen und Organisationen, mit dem Ziel, eine gesamtstaatliche Strategie zur Demokratiebildung zu entwickeln. Erste Ansätze dazu gab es im Projekt „Demokratiebildung“ des österreichischen Parlaments, in dem es darum ging, Angebote für möglichst viele Altersgruppen bereitzustellen. (Vgl. Lange & Straub: 2020). Die Entwicklung einer Strategie zur Demokratiebildung sollte ein Thema einer neu aufzusetzenden bundesweiten LLL-Strategie sein.
Lange und Straub unterscheiden bei der Demokratiebildung drei Handlungsfelder, nämlich die Demokratie, das Demokratische und die Demokratisierung. Die Demokratie bezieht sich auf die institutionellen Strukturen und hier geht es darum, wie in einem demokratischen System allgemein verbindliche Regeln hergestellt werden. Das Demokratische beschreibt die Werte und fundamentalen Prinzipien der Demokratie wie Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Pluralismus und Minderheitenschutz. Bei der Demokratisierung geht es schließlich darum, dass die Demokratie immer neu auszuhandeln ist, was sich in den demokratischen Interventionen der Zivilgesellschaft ausdrückt. (Vgl. ebd., S. 4). Die beiden ersten Handlungsfelder werden in den Volkshochschulen mit entsprechenden Angeboten zum Wissenserwerb gut abgedeckt. Das Letztere erfordert auch eine Einbeziehung von NGOs in einen Strategieentwicklungsprozess und schließlich auch in die Umsetzung einer solchen Strategie. //
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