Steffen Mau/Thomas Lux & Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.

Steffen Mau/Thomas Lux & Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.
Berlin: Edition Suhrkamp 2023, 535 Seiten.

Kamel- oder Dromedar-Gesellschaft? Zwei Höcker, von einem Tal getrennt, gespalten, polarisiert, entgegengesetzt – oder ein ­Höcker, harmonisch, zentriert, integriert, lassen bildlich gesellschaftliche Verhältnisse darstellen. In den letzten Jahren ­haben sich Polarisierungsthesen prominent positioniert. Damit einhergehen Diskussionen um eine bedrohliche Spaltung der Gesellschaft, um Auflösung des sozialen Zusammenhalts, um fundamental einander widerstreitende Interessen und Werte. Das Thema gesellschaftliche Polarisierung ist in Medien und Talkshows unübersehbar und unüberhörbar angekommen – wird aber auch ­wissenschaftlich aufmerksam ­wahrgenommen.

Ein Beispiel dafür ist das aktuelle Buch von drei Soziologen. Ihre Fragestellungen lauten u. a.: Stimmen die Annahmen bezüglich einer sozialen Spaltung der Gesellschaft? Besteht die Tendenz zur „Kamelgesellschaft“? Welche Menschengruppen stehen tatsächlich einander fundamental widersprechend gegenüber? Diese Fragen umgrenzen die Publikation, die „mit soziologischem Blick jene vielfältigen Formen von Ungleichheit in den Vordergrund (rücken), an denen sich die Kontroversen der Gegenwart entzünden“ (S. 8).

Einführend und hilfreich für die weitere Lektüre diskutieren und bewerten die Autoren zu Beginn gängige Polarisierungsthesen. Im 19. Jahrhundert findet sich eine Spaltungsdiagnose bereits im Zwei-Klassen-Modell von Karl Marx (1818–1883), Mitte des 20. Jahrhunderts in der Cleavage-(Spaltungslinie)-Theorie, nach der sich die Bevölkerung entsprechend ihrer sozialen Interessen und Identitäten in Gruppen teilt. Kurzfristig schienen aber Ende des 20. Jahrhunderts Individualisierung, Entstrukturierung des Sozialen und plurale Lebensstile die sozialstrukturierten Großgruppen aufzuheben.

Dagegen wenden sich die aktuellen Diagnosen der Polarisierung. Sie vermelden neue Großgruppen mit divergierenden Interessen und Werten – auch vertreten durch neue politische Parteien. Polarisierung besteht, wenn traditionelle Vorstellungen von sozialer Ordnung unversöhnlich politischem Kosmopolitismus, kultureller Vielfalt oder Anerkennung von Bildung entgegenstehen.

In der Gegenwartsgesellschaft existieren Konflikte und sie werden ausgetragen. Die Forscher widmen sich vornehmlich „Konflikten, bei denen Ungleichheitsfragen im Vordergrund stehen“ (S. 21). Zu bedenken ist, dass sich Konflikte und Ungleichheit ständig wandeln und den sozialen Wandel beeinflussen. Sie sind Teil alltäglicher Dispute. Speziell richtet sich das Forschungsinteresse auf „Triggerpunkte“. D. h. wann schlägt Konsens in Dissens um oder wann wächst die Spannung und Diskrepanz zwischen Einstellungen zu sehr?

Der hohe wissenschaftliche Anspruch des Buches ist am methodischen Design erkennbar. Abgesehen von der Auswertung vorhandener Studien haben die Autoren Gruppen- und Einzelinterviews sowie eine für Deutschland repräsentative Umfrage für ihren Erkenntnisgewinn eingesetzt. Theoriearbeit sowie die Auswertung qualitativer und quantitativer Daten liegen der Forschung zugrunde, um ein „größeres Gesamtbild“ zu bieten.

Ihre Studie verstehen die Autoren als „eine politische Soziologie der sozialen Ungleichheit“. Ihr Forschungsinteresse liegt aber weniger am Entstehen von Ungleichheit, sondern darauf, welcher Streit und welche Kontroversen sich an ihr entzünden. Sie konzentrieren sich auf „Konflikte auf der Einstellungsebene“.

Mit ihren Forschungen wollen die Autoren ein gewisses Verständnis dafür bekommen, welche sozialen Dynamiken in den unterschiedliche „Konfliktarenen“ vor sich gehen. Der Übersichtlichkeit dient ein „Vier-Arenen-Typologie“, die sich für die Autoren aus der theoretischen Literatur und den eigenen empirischen Erkundungen ergeben hat:

  • Oben-Unten-Ungleichheiten: Konflikte um die Verteilung ökonomischer Güter und Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat;
  • Innen-Außen-Ungleichheiten: sozialer Zugang und soziale Teilhabe aufgrund von Migration und Integration;
  • Wir-Sie-Ungleichheiten: Anerkennung und Diskriminierung im Hinblick auf identitätspolitische Konflikte;
  • Heute-Morgen-Ungleichheiten: umwelt- und klimapolitische Konflikte.

Ihre Studienergebnisse resümierend folgern die Autoren: Die mittelschichtsdominierte Gesellschaft in Deutschland entspricht dem „Dromedar-Modell“. Es besteht Tendenz zur Mitte und zu gesellschaftlichem Konsens. Das betrifft Wohlfahrt, Klimaschutz, gesteuerte Einwanderung oder Toleranz. Es existiert ein Spannungsfeld mit Konflikten aber keine Spaltung, keine „Frontstellung“ zwischen zwei Lagern, keine polarisierte Grundstruktur wie etwa in den USA.

Als Gegengewichte zu fortschreitender Polarisierung wirken in Deutschland, meinen die Autoren, das Verhältniswahlrecht, eine Vielzahl von Koalitionsregierungen, geringe politische Berührungsängste, Qualität der Medien und sichere Stellung des öffentlichen Rundfunks. Dies lässt die Forscher von einer „Politisierung ohne Polarisierung“ sprechen.

In Deutschland kann, um das wesentliche Ergebnis der Untersuchungen hervorzuheben, eine empirische Absicherung einer „Zwei-Lager-Theorie“, also ein klarer Polarisierungstrend empirisch nicht belegt werden. Politische Kompromissbereitschaft und Offenheit gegenüber ­Andersdenkenden überwiegen. Das ist in den USA anders, wo sich die politischen Gegner inzwischen als „gut“ und „böse“ gegenüberstehen.

Was dämmt Konflikte ein? Neben der etablierten Politik bedarf es, um Konflikte zu befrieden, kritische Medien, kooperative Kommunen, die aktive Zivilgesellschaft und ein lebendiges Vereinswesen. Zu Letzterem ist folgerichtig die Volksbildung/Erwachsenenbildung/Weiterbildung mit ihren gesellschaftspolitischen Aufgaben zu zählen.

Das Buch verführt zu gründlichem Lesen und ausführlichen Diskussionen. Es regt an, komplexe Themen sorgfältig zu argumentieren, gewonnene Erkenntnisse einzuordnen, Widersprüche zu akzeptieren, neue Denkräume zu erschließen – und somit reflektierte Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen und zu wagen.

Die Eignung des Buches für Theorie und Praxis, für Professionalisierung und innovative Angebote von Bildungseinrichtungen ist sicherlich erkennbar. Nicht zuletzt liegt aber auch für das Feld des „Lernens Erwachsener“ ein Muster vor, wie sozialwissenschaftliche Forschungen gestaltet und wie wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen sowie vermittelt werden können. //

Lenz, Werner (2024): Steffen Mau/Thomas Lux & Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Winter 2023/24, Heft 281/74. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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