Fritz Breithaupt: Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen.

Fritz Breithaupt: Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen.
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2022, 368 Seiten.

Menschen sind narrative Lebewesen. Narratives Denken – ein Medium des Erlebens und Planens – bereitet auf künftiges Leben vor. Ein weiterer Vorteil: Durch narratives Denken können Erfahrungen von einem Menschen zu den Erfahrungen anderer Menschen werden. Dadurch multiplizieren wir unsere Erfahrungen – wir teilen sie mit anderen und können ihre Erfahrungen miterleben. 

Fritz Breithaupt, Professor für Kognitionswissenschaft und Germanistik an der Indiana University in Bloomington, „erzählt“ sein Verständnis von Narration: Sie bringt Klarheit, gliedert eine Episode in Anfang und Ende und lässt, inklusive emotionaler Belohnung, alternative Versionen zu.

Auf das „narrative Gehirn“ richtet sich das Erkenntnisinteresse des Autors. Seine methodischen Instrumente sind Alltagserfahrungen, interdisziplinäre Forschungsergebnisse sowie Resultate der Studien des Experimental Humanities Laboratory, das er leitet. 

Den einzelnen Kapiteln des Buches liegen Grundbegriffe zugrunde. Zu diesen gehören unter anderen: mobiles Bewusstsein – wodurch wir Situationen anderer begreifen, Simulation – verkörpert Erlebnisse, erlaubt aber auch zu planen und zu phantasieren; „predictive brain“ – produziert Erwartungen; Multiversionalität – lässt verschiedene Möglichkeiten erwägen; Ko-Erfahrungen – Handlungssequenzen leben in Echo-Räumen weiter; kulturelle Evolution – nimmt Anpassungen vor und findet Nischen; serielle Produktion – fungiert analog zum Stille-Post-Spiel.

Breithaupt meint, im narrativen Denken schaffen wir unsere Welt selbst. Er befürchtet allerdings, dass wir dabei sind, narratives Denken zu verlernen. Das wäre schade, denn Narrative haben eine „Gravitationskraft“, „eine kollektive Suggestionskraft“. Sie geben Einzelpersonen Grundmuster und Form. Definitorisch legt sich der Autor fest: Narratives Denken hat die Funktion der Orientierung, der moralischen Leitung, es formt Identität und gibt kulturelle Sinnstiftung; es hat darüber hinaus auch therapeutische Funktion.

Keine sehr zweckmäßige Alternative zum narrativen Denken sieht Breithaupt in der Kausalität, der es an emotionaler Struktur fehle, in festen Identitäten und Bildern, bei denen Pathologien und Festschreibungen drohen sowie in Tagträumen, denen ebenfalls Struktur fehle.

Seine „Hoffnung im narrativen Denken“ ergibt sich, weil es versucht, eine Episode zu Ende zu bringen und zugleich Alternativen zu erwägen. Der Homo narrans hört und erzählt eine Geschichte und sollte erkennen (S. 18): „Alles könnte immer auch anders kommen – selbst wenn es meistens nicht anders kommt.“

Menschen zeichnen sich durch „mobiles Bewusstsein“ aus, erläutert der Autor im letzten Kapitel „Evolution des narrativen Gehirns“. Diese „Bewusstseinsmobilität“ ermöglicht, sich in unterschiedliche Orte und Situationen versetzen zu können. Unter dem schwer zu definierenden Begriff „Bewusstsein“ versteht der Autor das, „was Wahrnehmung ausmacht“. Narratives Denken transferiert Menschen „mental in nichtkörperlich präsente Situationen“ (S. 265). „Bewusstseinsmobilität“ – sie steht der Einbildungskraft oder Imagination nahe – gilt ihm als Voraussetzung für Empathie. Diese ermöglicht, Situationen anderer Menschen mitzuerleben. 

Die Erklärung für die „kulturelle Evolution“ dieser menschlichen Fähigkeit liegt nach Breithaupt in der „Bühne“. Sie ist nicht als ein Ort oder eine Architektur zu verstehen, sondern entwickelte sich durch das Erzählen von Mythen oder vergangenen Ereignissen. Es waren Ereignisse „kollektiver Aufmerksamkeit“, durch die „Bewusstseinsmobilität“ trainiert wurde.

Das Buch liest sich als Plädoyer für narratives Denken. Ohne dieses würde, so urteilt Breithaupt, unsere Fähigkeit zur Empathie verkümmern. Narratives Denken hilft, das Leben in Episoden zu erzählen, sie zu verarbeiten, sie zu einem Ende zu bringen, und, nicht zuletzt, sich in Alternativen und Möglichkeitsräumen zu bewegen. Denn jede Erzählung erlaubt eine Neuerzählung – eine Alternative. Wir sollten narratives Denken fördern, empfiehlt der Autor am Ende seines Buches, denn es motiviert zum Auszug „aus einer zu eng wahrgenommenen Welt“ und eröffnet „ein intensiveres, reicheres Leben“ (S. 299).

Das Buch ist für den Einsatz im natur- und gesellschaftspolitischen Bereich sowie für wissenschaftliche Bibliotheken geeignet. //

Lenz, Werner (2022): Fritz Breithaupt: Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2022, 368 Seiten. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Winter 2022, Heft 278/73. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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