Bildpädagogik Bildungsinnovation zur Demokratisierung von Wissen

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Großer Name, wenig bekannt: Otto Neurath

Wien wurde in der demokratischen Periode der Zwischenkriegszeit durch eine Vielzahl herausragender Persönlichkeiten geprägt, von denen viele Weltruf erlangten. Dazu zählte unzweifelhaft auch Otto Neurath (1882–1945), der sich ob der Vielfalt seiner Aktivitäten jeder Kurzcharakteristik entzieht. Überraschenderweise verschwand er nach dem Zweiten Weltkrieg in der öffentlichen Versenkung, wurde aber seit den 1980er-Jahren durch eine Vielzahl von Publikationen und Ausstellungen nach und nach wiederentdeckt. Trotzdem kann ihm allgemeine Bekanntheit, vergleichbar mit der von Freud und Alfred Adler, Wittgenstein, Karl Kraus und vielen anderen, nicht attestiert werden. Dabei hat eine seiner Schöpfungen, die gemeinsam mit Gerd Arntz entwickelte Bildsprache in Form von Piktogrammen einen Siegeszug um die Welt angetreten, wobei sich diese von ihrem Wiener Ursprung und von seinem Schöpfer losgelöst und verselbständigt haben.

Die ursprüngliche Intention der in Wien entstandenen Bildsprache von Neurath und Arntz war eine zutiefst demokratische. Mit Bildpädagogik sollten komplizierte Sachverhalte und Entwicklungen ohne ungebührliche Vereinfachungen selbsterklärend wirken und sich dadurch der interessierten Gesamtbevölkerung auf einen Blick erschließen. In der Demokratisierungsfunktion der Bildpädagogik liegt ihre überzeitliche Bedeutung. In einer Zeit, in der Bilderfluten und das Vermögen zu abstrakt-begrifflichem Denken zunehmend kollidieren, kommt ihr besondere Aktualität zu. Die Bildpädagogik Neurathscher Prägung setzt auf Denken und Vernunft sowie auf Demokratisierung des Wissens und nicht auf Emotionen und gedankliches Verharren in Unmittelbarkeit.

Zum noch immer wenig bekannten Neurath und seiner bildstatistischen Methode erscheinen ständig Publikationen, zuletzt die erste große und, durchaus in seinem Sinn, sehr gut und verständlich geschriebene Biografie des Wiener Politikwissenschafters Günther Sandner1 sowie die auf einer Dissertation beruhende, illustrierte, aber nicht leicht verständlich verfasste Studie von Angélique Groß über die Bildpädagogik Neuraths.Dazu kommt eine Einordnung in die politische Bildung durch den Verfasser.3 Neuraths Präsenz in der Philosophengruppe des „Wiener Kreises“ ist besonders durch eine große Studie von Friedrich Stadler bestens analysiert. Zuletzt wurde dem Wiener Kreis von Karl Sigmund eine sehr populär gehaltene Monografie gewidmet, in der auch Neurath thematisiert wird.Stadler und Sigmund waren überdies für eine große und attraktiv gemachte Ausstellung zum Wiener Kreis, die 2015 an der Universität Wien gezeigt wurde, verantwortlich. Neurath und seine Bildpädagogik sind überdies immer wieder Gegenstand von unveröffentlichten akademischen Abschlussarbeiten mit beträchtlichem Gehalt.5

Volksbildnerische Perspektiven

Als Philosoph, der er auch war, agierte Neurath als Exponent des sogenannten linken Flügels des Wiener Kreises, der in scharfem Gegensatz zu den verschiedenen metaphysischen Philosophenschulen stand, die in Wien agierten, insbesondere dem universitär einflussreichen Kreis um Othmar Spann. Neurath war politisch im „Umfeld des Austromarxismus“ angesiedelt, in der Siedlerbewegung tätig und agierte in der Volksbildung. In Volkshochschulen hielt er Vorträge und das von ihm gegründete Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum war selbst eine originelle Volksbildungseinrichtung. Mit seiner Bildpädagogik, die sich in einer besonderen Form der Bildstatistik manifestierte, schuf er eine Volksbildungsmethode, die Visualisierung von komplexen Zusammenhängen in eine Perspektive gesellschaftlicher und auf Vernunft beruhender Demokratisierung stellte.

Neurath ging davon aus, dass es durch gesellschaftliche Veränderung – und damit durch Praxis – zu einer Veränderung der Menschen kommt. „Sozialistische Sehnsucht genügt nicht, auch nicht Begabung allein oder das bloße marxistische Denken. Der kommende Mensch verlangt lebendige Verknüpfung mit der gesellschaftlichen Umgestaltung“, hielt er in seinem Buch Lebensgestaltung und Klassenkampf fest.6

Neurath verstand es wie kaum ein anderer, utopisches Denken mit Pragmatismus und realer Praxis zu verbinden. In der Bildpädagogik seiner auf „Massenaufklärung“ setzenden Bildstatistik kam dies volksbildnerisch zum Ausdruck, wobei durch die sprachunabhängige Verständlichkeit der Bildstatistik eine internationale, ja weltweite Dimension in die Arbeit Neuraths kam.

Das Besondere der Bildstatistik von Neurath

Die später international ISOTYPE (International System of Typographic Picture Education) genannte Bildsprache unterschied sich von anderen und auch heutigen Bildstatistiken. Sie war

  • an der Idee eines Sozialmuseums“ geknüpft, in dem vorrangig soziales, ökonomisches und politisches Wissen kommuniziert wird;
  • ein der Schriftsprache für Erstinformation überlegenes Kommunikationsmedium, die
  • mit sich selbst erklärenden Symbolen und figurativen Darstellungen arbeitet;
  • auf Vergleichsgrößen konzentriert, die nicht durch verschieden große Symbole, sondern immer durch eine unterschiedliche Anzahl genau gleich großer Symbole wiedergegeben werden, wodurch sie ein hohes Maß an Anschaulichkeit und Einprägsamkeit erhalten.

Ein – grafisch leicht einprägsames – Zeichen bedeutet immer eine bestimmte Menge. Damit kann jede beliebige Menge annähernd durch Wiederholung des Zeichens „verbildlicht“ werden.

Neuraths Bildungsverständnis

Neurath ging es bei Bildung immer um Bildung für alle, aber nicht, und das unterschied ihn von bürgerlicher Seite, um Bildung um ihrer selbst willen, sondern um Bildung zur Gestaltung der Gesellschaft, die wiederum in eine Perspektive zur massenhaften Verwirklichung menschlichen Glücks eingebunden war. Anders ausgedrückt ging es Neurath um ein gutes Leben für alle. Neuraths Denken war das Gegenteil von Populismus und ist insofern in Zeiten gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit aktueller denn je. //

1   Vgl. Sandner, Günther (2014): Otto Neurath. Eine politische Biographie. Wien: Zsolnay.

2   Vgl. Groß, Angélique (2015): Die Bildpädagogik Otto Neuraths. Methodische Prinzipien der Darstellung von Wissen. (Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis, hrsg. v. Friedrich Stadler, Bd. 21), Wien: Springer.

3   Vgl. Filla, Wilhelm (2013): Die Alternative politische Bildung. (Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft, hrsg. v. Klaus Ahlheim, Bd. 7), Hannover: Offizin, 88–120. 

4   Vgl. Stadler, Friedrich (1997): Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext. Frankfurt a. Main: Suhrkamp; Sigmund, Karl (2015): Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rand des Untergangs. Wiesbaden: Springer Spektrum.

5   Vgl. Aigner, Andreas (2012): Demokratisierung von Wissen im Anschluss an Otto Neurath. Soziale Aufklärung in der Wissensgesellschaft. Masterarbeit an der Universität Wien.

6   Neurath, Otto (1928): Lebensgestaltung und Klassenkampf. (Neue Menschen, hrsg. v. Max Adler), Berlin, 28. [Hervorh. im Orig.].

Filla, Wilhelm (2015): Bildpädagogik. Bildungsinnovation zur Demokratisierung von Wissen. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Dezember 2015, Heft 257/66. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien

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