Vier Fragen vorweg
Wie erläutern Sie einer etwa gleichaltrigen Person Ihre Sicht auf den Zustand der „Welt“? Wie unterscheiden Sie zwischen Bildung und Lernen? Wann haben Sie zuletzt gelernt? Wodurch haben Sie sich zuletzt gebildet?
Verlernen
Seit Kurzem en vogue: „Verlernen!“
„Verlernen“, was die Gesellschaft hindert, neue Wege einzuschlagen, die zu notwendigem Wandel führen. Wandel, um die Klimakrise zu bewältigen, patriarchalische Verhältnisse zu überwinden, die Welt zu einem friedlicheren Ort zu machen. Ein aktuelles Buch, „Unlearn CO2“ (Kemfert, Gupta & Kronenberg: 2024), stellt Bereiche vor, in denen wir uns im „Verlernen“ üben sollen: Ernährung, Medien, Recht, Automobilität, Wachstum, Mode, Desinformation, Arbeit, Patriarchat, Energie, Gesundheit …
Schon diese Auswahl zeigt, es geht um fast alles. Unsere ganze Lebensweise steht auf dem Ver-Lernprogramm.
Aus Verlernen soll Neulernen entstehen. Neues lernen, um Altes zu überwinden.
Lernen verdrängt Bildung
Bildung? Sich bilden? Zeitgemäß? Wer redet noch so antiquiert?
Heute empfiehlt sich von der Wiege bis zur Bahre: lebenslanges Lernen – lifelong learning. Begriffe transportieren Sinn. Begriffe beinhalten Sichtweisen.
Bildung reduziert sich zurzeit auf diverse Lern-Aktivitäten: Wir besuchen ein Seminar; Kollegin ist auf Schulung; keine Zeit, ich muss für meinen morgigen Test lernen; zum Thema gibt es ein Zoom-Meeting; schau dir den Podcast an; bitte zu Hause googeln; das findet sich alles im Internet; nach der Pause ist wieder Unterricht…
Gelernt wird schon im Kindergarten, der „Bildungsgarten“ bleibt eine kleinlaute Vision.
Gelernt wird kooperativ, im Tandem und in Lerngemeinschaften. Gelernt wird das ganze Leben lang und sogar intergenerational.
Gelernt wird in Fernstudien, vornehmlich für Prüfungen. Fallweise Anwesenheit an der Hochschule, um fachlich zu diskutieren, in Gruppen zu arbeiten oder soziale Kontakte zu pflegen, findet kaum Zuspruch. Sichtlich enttäuscht berichtet das eine verantwortliche Lehrgangsleiterin an der Universität für Weiterbildung Krems.
Danke für Vielfalt! Respekt, wieviel es zu lernen gibt und wie viele Möglichkeiten dafür erfunden und geschaffen wurden. Nicht zu vergessen auf die vielen neuen Lern-Tools1 , die das Lernen erleichtern sollen.
Allerdings, die Sorge besteht bereits, dass durch Anwendung von KI die echten – sozialen – Lernbeziehungen reduziert und die simulierten – zu Avataren – zunehmen (Aschemann & Schüßler: 2024). Mit welcher Gewalt Smartphones und insgesamt die sozialen Medien eine „Neuverdrahtung der Kindheit“ und damit nachweislich – von der Psychiatrie inzwischen erkannte – „internalisierende Störungen“ verursachen, stellt der New Yorker Sozialpsychologe Jonathan Haidt in seinem viele relevante Studien zusammenfassenden Buch „Generation Angst“ (2024) vor.
Danke für die vielen Chancen allein zu lernen, im Internet zu lernen – weiter zu lernen. Lernen, um beurteilt, geprüft, zertifiziert zu werden. Lernen, um professionell, kollegial, freundschaftlich, ehrenamtlich andere zu belehren.
Lernen und Bildung – ein Kontinuum
Wie sich Lernen und Bildung unterscheiden? Jetzt erfolgt keine Grenzziehung, keine trennende Definition (lateinisch: fines – Grenze). Trennungen erleben wir mehr als genug.
Ich trenne nicht, sondern betrachte Lernen und Bildung als Teil eines Kontinuums. Lernen und Bildung greifen prozesshaft in einander, stehen in Beziehung zu einander, mit wechselseitiger Wirkung. Sie stehen einander nicht reglos gegenüber, sondern befinden sich in stetem Wandel.
Eine kurze Antwort: Lernprozesse umfassen das Aneignen und Übernehmen von Informationen, in Bildungsprozessen beurteilen, integrieren, bewerten wir Gelerntes und ordnen es als Wissen ein.
Lernen als Lebenselixier
Lernen ist ein Potential alles Lebendigen. Lernen ist notwendig, um sich in der ständig wandelnden Umwelt zu behaupten. Lernen hilft, um sich bei den steten Veränderungen selbst zu verändern, um zu überleben. „Survival of the fittest“, die sich ändernden Verhältnissen optimal angepassten Organismen haben, biologisch betrachtet, die besten Chancen, ihre Art fortzupflanzen, zu vermehren und somit ihr längeres Überleben zu sichern.
Die Lektüre von „Wir Tiere“, mit der die vielseitige Forscherin Melanie Challenger (2021) eine „neue Geschichte der Menschheit“ schreiben will, verdeutlicht: Soziale Lernprozesse – Lernen in Gruppen voneinander und miteinander – waren für die Entwicklung unseres Daseins von großer Bedeutung. Darüber mehr zu lernen und das Gelernte in die persönliche Betrachtung des Verhältnisses von Menschen zu Tieren einzubeziehen, ist dann Aufgabe von Bildungsprozessen, um reflektiertes, sinnbestimmtes Handeln anzuleiten.
Lernen erscheint als wiederkehrende und zugleich endlose Tätigkeit. Man lernt nie aus. Stets ergibt sich Neues, das noch unbekannt, das noch hinzuzulernen ist.
Der Zeitdruck wächst. In der Schule folgen Stunden mit unterschiedlichen Inhalten aufeinander, ein Lehrplan will erfüllt sein. An den Hochschulen sind neue Forschungsergebnisse und Publikationen zu verarbeiten. Weiterlernen wird verpflichtend, um im Beruf „konkurrenzfähig“ und „auf der Höhe der Zeit“ zu agieren. Erwachsene fühlen sich unfertig, wollen noch eine weitere Ausbildung absolvieren, sich einen zusätzlichen wichtigen Kurs oder Vortrag nicht entgehen lassen.
In der „beschleunigten Gesellschaft“ hat auch das Lernen Fahrt aufgenommen.
Bildung orientiert
In Anlehnung an den Philosophen Hans Blumenberg (1929 – 1996) meine ich: Lernen schafft ein Lager, ein Arsenal an Informationen, „Bildung ist ein Horizont“ (Blumenberg: 1998, S. 25). Bildung lässt uns Grenzen sehen, metaphorisch zwischen Erde und Himmel, und vermittelt dadurch, es gibt noch etwas, das über unsere momentane Wahrnehmung, über unser bisher Gelerntes hinausgeht. Es gibt noch mehr zu lernen, um sich „weiter zu bilden!“
Für Bildung sollte etwas innegehalten, für Bildung sollte sich etwas Zeit genommen werden. Bildung geht vor sich, wenn zum Gelernten eine Beziehung aufgebaut werden kann. Bildung, als permanente Reflexion, dient, um sich selbst zu vergewissern, was Gelerntes für die persönliche Entwicklung bedeutet. Es wird „nachhaltig“ eingeordnet für das eigene Selbstverständnis, die eigene Selbstwirksamkeit, das eigene Bewusstsein, das eigene Verhalten.
Unter Bildung verstehe ich Suche nach Orientierung im Denken und Handeln. „Suche“ will „versuchen“ einschließen. Ein Bemühen, von Vorsicht beim Finden und Entdecken geleitet – von Zuversicht begleitet, aber von Endgültigkeit nicht überzeugt.
Lernen ist ein vorbeiziehender Fluss, der Wissen spendet. Bildung ist ein See, in dem sich sinnvoll Gelerntes auf Dauer – nachhaltig – sammelt. Wo es geordnet, bewertet, integriert wird und sich schließlich in Haltung und Verhalten ausdrückt. Deshalb: Niemand kann gebildet werden – jede und jeder bildet sich selbst. Ob und wie Gelerntes bildenden Wert erhält, entscheidet jede Person für sich.
Noch mehr lernen?
Unser Alltag wurde internationaler und globaler: Urlaub, Herkunft der Nahrung oder Kleidung, alltägliche Berichte über Kriegsschauplätze, weltumfassende Statistiken über Hunger, Analphabetismus oder Auftreten von klimabedingten Schäden – unser Blick „auf die Welt“ hat sich erweitert. Es lassen sich erkennen: Chancen und Gefahren, Gewinne und Verluste, Milliardäre und Obdachlose – vor allem Unterschiede. Um diese alle zu erfassen und zu deuten, sollte viel gelernt werden – über Religionen, Kulturen, Handelswege, Grenzen, natürliche Ressourcen, Lebensbedingungen…
Schulen bieten dazu fächerübergreifenden Projektunterricht, Universitäten Global Studies und die Erwachsenenbildung politische Hintergrundinformationen in Vorträgen und Seminaren.
Die Wissensberge, die in Hinblick auf die „globalisierte Welt“ vor unseren Augen erscheinen, machen deutlich – all das Wissenswerte ist nicht in ein Unterrichtsfach, nicht in eine wissenschaftliche Disziplin, nicht in ein Curriculum oder einen Kanon lesenswerter Bücher zu füllen. Sich auf mehr und neues „Wissen über die Welt“ einzulassen, verlangt nach lebensbegleitender Aktivität – ins Leben integrierte Lern- und Bildungsprozesse.
Lernen – Wissen aneignen, sammeln, vereinnahmen – reicht nicht aus, um die Vorgänge in der Welt zu erfassen. Hilfreich ist es, fähig zu sein, Wissen, das für das Erkennen von Problemen zielführend ist, zu beurteilen und zu bewerten. Diese erforderliche Bildungsdimension macht Lernen erst sinnvoll. Lernen und Bildung zusammen tragen zu einer sich ständig erweiternden Problemsicht bei. Sie tragen zur Fähigkeit und Kompetenz bei, Herausforderungen zu analysieren, Zusammenhänge zu erkennen und Problemlagen zu bewältigen.
Die Welt transformieren
Bildung und Lernen in prozessualer Wechselwirkung lassen Menschen ihr Verhalten und ihre Beziehungen zur Welt erleben, reflektieren und in Handlungen resultieren.
Die „17 Ziele für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals – SDG – seit 2016 in Kraft) postulieren als Ziel 4: „Hochwertige Bildung für alle“. In Verbindung mit den anderen, die globale Entwicklung der menschlichen Gesellschaften betreffenden Ziele wird dabei Bildung in einen größeren (bildungs-)politischen Rahmen gestellt, der über Lernen hinausgeht. Bildungsprozesse sollen Reflexion und Handeln leiten, um zu einer „besseren Weltgemeinschaft“ beizutragen.
Aufgegriffen wird das im Konzept der „Transformativen Bildung“. Ursprünglich vom US-amerikanischen Soziologen Jack Mezirow (1923 – 2014) für eine sich ihrer politischen Dimension bewussten Erwachsenenbildung entworfen, wird das Konzept nun generell für engagierte Bildung und Pädagogik mit Anspruch auf „Selbstermächtigung“ diskutiert, gelehrt und praktiziert. (Österreichische UNESCO-Kommission: 2023)
Lernen für den Markt
Die zunehmend einseitige Betonung des Lernens ist dem ökonomischen Wandel in den letzten Jahrzehnten geschuldet. Mit dem Etikett „Neoliberalismus“ ist auch eine Ökonomisierung des Bildungswesens gemeint. Etwa seit den 1980er Jahren bewirkt neoliberale Politik einen bildungspolitischen Trend mit entsprechenden Begriffen, Sichtweisen und Konsequenzen. Das sind u. a.:
- Kundinnen und Kunden: Konkurrenz und Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Anbietern um Absatz ihrer Lernprodukte
- Rentabilität: die Vermittlung von Lernangeboten soll als Unternehmen geführt werden und Profit bringen; „Future Skills“ sollen Zukunft sichern
- Bedarfe und Bedürfnisse: angeboten soll nur werden, was Nutzen bringt und verwertbar ist
- Maßnahmen: intensiver Einsatz von evaluativen Methoden; Messen, Maßzahlen und Standards von und für Lernleistungen; Bedarfsanalysen und strategisches Marketing, um die Ware Lernen auf dem „Bildungsmarkt“ zu verkaufen.
Betont und gefordert wird eine unmittelbar anwendbare, spezialisierte berufliche Fortbildung. Allgemeine (Erwachsenen-)Bildung verliert an Anerkennung und an Finanzierung.
Das eigenverantwortliche Individuum wurde selbst verantwortlich für die eigene Weiterqualifizierung in lebenslangen Lernprozessen und somit für seine Chancen am Arbeitsmarkt. Egoismus und Selbstbezogenheit lösen solidarisches Denken sowie soziales Verhalten in Gemeinschaft und Verbundenheit ab. Einzelkämpfer*innen, familiäre und nationale „Festungen“ dominieren die neoliberalen Menschenbilder.
Lernen unterstützt Prozesse der Abgrenzung – Bildung fördert Prozesse übergreifenden Zusammenhalts.
Ökonomische, internationale Trends
Die OECD betont, welche Nachfrage nach beruflicher Bildung aufgrund ökonomischer Konkurrenz und des gesellschaftlichen Wandels entstanden ist. Aufgrund der Veränderungen in Arbeitswelt und Gesellschaft schlägt die OECD (2022) vor, neue Bildungssysteme zu entwickeln. Sie sollen sich durch Kooperation mit Arbeitgeber*innen generell und speziell mit Unternehmen für Bildungstechnologie auszeichnen. Besonders die traditionellen tertiären Ausbildungsmodelle, urteilt die OECD, eignen sich nicht länger.
Demographischer Wandel erfordert, Automatisierung und Digitalisierung zu erleichtern, sowie die Verlagerung der Produktion ins Ausland. Arbeitsplätze im Inland werden dadurch reduziert. Aus Sicht konkurrierender ökonomischer und sozialpolitischer Interessen ist es deshalb wichtig, die Kompetenzen bei vorhandenen Arbeitskräften zu erweitern. Passende Tools sind Microcredentials (OECD: 2022, S. 144). Es handelt sich um bis zu 180 Stunden kurze Kurse, Module, spezialisierte Ergänzungen oder Onlineangebote, um neue Qualifikationen und Kompetenzen zu vermitteln. Private und öffentliche Anbieter sind aufgefordert, attraktive Programminhalte zu entwickeln. Unlearn Higher Education!
Der in den 1990er Jahren diagnostizierte „War for Talent“, der Kampf um die besten Mitarbeiter*innen, Student*innen, Führungskräfte, um deren optimal verwertbares Humankapital, wurde zur Herausforderung für Lernen und Weiterlernen. Dieser Kampf um Talent ist nicht geringer geworden – im Gegenteil, aufgrund der sinkenden Geburtenrate in den OECD-Staaten hat er sich noch verschärft.
Der Stellenwert von Emanzipation, Solidarität oder sozialer Verantwortung rückt gegenüber den ökonomischen Interessen in den Hintergrund.
Um höhere Effizienz des österreichischen Bildungssystem besorgt, empfiehlt der Bildungsdirektor der OECD, Andreas Schleicher, der österreichischen Regierung aktuell in einem Interview: „Die Priorität wäre für mich, besseren Zugang zu qualitativ hochwertiger frühkindlicher Bildung zu schaffen. In den ersten Lebensjahren werden die entscheidenden Grundlagen für späteren Erfolg und auch für Chancengerechtigkeit gelegt, und dort hat Österreich besonders hohen Nachholbedarf.“2
Der „Zugriff“ der Lernstrategen auf die frühe Kindheit ist in vollem Gange. Welche „Bildung“ hier wohl gemeint ist? Da könnten wir noch mitreden!
Partizipieren: teil-nehmen und teil-geben
Erwachsenenbildung ermöglicht Bildungs- und Lernprozesse für Teilnehmende, die in Vorträgen, Kursen, Seminaren oder Lehrgängen Wissen, Fähigkeiten, Kompetenzen, Informationen erwerben, sich aneignen und sich weiterbilden wollen.
Die seit den 1980er Jahren propagierte „Teilnehmerorientierung“ (Breloer u. a.: 1980) bedeutet: Anbietende Institutionen und ihre Lehrenden denken über mögliche Bildungs- und Lerninteressen der voraussichtlich Teilnehmenden nach. Das geht antizipierend vor sich. Anbietende und Lehrende nehmen von den Teilnehmenden an, sie wollen etwas Bestimmtes erfahren und erlernen. Ob und inwieweit die Antizipationen mit den Erwartungen der Teilnehmenden übereinstimmen, stellt sich in der ersten Zeit des Zusammenseins in der Veranstaltung heraus. Dann stimmen Teilnehmer*innen „mit den Füßen“ ab – indem sie erwartungsvoll bleiben oder enttäuscht gehen.
Teilnehmer*innen investieren, nehmen ihren Teil, haben teil, partizipieren. Übersetzt bedeutet der Begriff Partizipation: Beteiligung, Teilhabe, Teilnahme, Mitwirkung, Mitbestimmung, Mitsprache. Teilnehmer*innen sind nicht nur Nehmende. Sie teilen in Bildungs- und Lernprozessen ihre Erfahrungen, ihren Wissenserwerb, ihre Gefühle, ihr Verstehen mit anderen – mit Lehrenden und Lernenden.
Teilnehmende, wenn sie als autonome und selbstbestimmte Lernende akzeptiert werden, nehmen nicht nur ihren Teil, sie teilen und geben. Sie nehmen und geben Anteil. Sie partizipieren, indem sie sich beteiligen, mitwirken, mitsprechen – sie agieren als Teilgebende. Dies äußert sich in Zeit, Kommunikation, Mitdenken: Sie tragen zu Bildungs- und Lernprozessen bei. Die Prozesse beinhalten Nehmen und Geben – es entstehen soziale Beziehungen.
Ehrenhaft nehmen und geben
Erwachsenenbildung sollte kein Serviceladen, kein Ort der Selbstbedienung sein, wo nur Nehmen regiert. Bei der Erwachsenenbildung liegt die Verantwortung, dieses Nehmen und Geben – diese sozialen Beziehungen – in einer zufriedenstellenden Balance zu halten. Zufriedenstellend für die Teilnehmenden und für das Selbstverständnis der Lehrenden und Anbietenden.
Es ist verantwortliche Aufgabe in der jeweiligen antizipierenden didaktischen Vorschau, das Verhältnis des Nehmens und Gebens, individuell und gruppendynamisch zu planen sowie praxisorientiert vorzubereiten. Messstationen oder Messinstrumente dafür sind wohl noch keine vorhanden.
In der derzeitigen Kultur der „Kund*innenorientierung“ besteht ein Übergewicht zu Gunsten des Teilnehmens und zu Ungunsten des Teilgebens. Wahrscheinlich verstellen die glückverheißende Suche nach „Selbstverwirklichung“ und nach dem „Selbst“, das angestrengte Abgrenzen von anderen, der stets wiederkehrende Wunsch nach Individualität, die ständige selbstgewisse Erregtheit oder der permanente Krisenmodus den Blick auf die soziale Bedeutung des Teilgebens – nicht zuletzt der Druck und die Angst, sich qualifizieren zu müssen.
Der Begriff „Ehrenhafte Ernte“ gibt Anlass, über das Verhältnis von Geben und Nehmen gründlich nachzudenken. In diesem Zusammenhang spricht Robin Wall Kimmerer, US-amerikanische Wissenschaftlerin der Botanik, von einer notwendigen „Ethik der Reziprozität“ (Kimmerer: 2023, S. 235). Denn wir nehmen, was uns nicht gehört, und zerstören es unwiederbringlich. Das betrifft z. B.: Regenwälder, Gletscher, Gewässer, Ackerland, Artenvielfalt…
„Ehrenhafte Ernte“ soll Regeln des Verhaltens vorgeben, die unser Nehmen anleiten, unsere Beziehungen zur Natur gestalten und unseren Konsum zügeln. Die Professorin vermisst eine „Kultur der Dankbarkeit“. Eine „Bill of Responsibilities“, ein „Gesetz der Verantwortung“ soll helfen, unser Begehren und unsere Gier einzuschränken. Ziel ist es, unseren Nachkommen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen.
Pädagogisches Ziel kann sein, Mitverantwortung für das Gelingen von Bildungs- und Lernprozessen bei den anderen Teilnehmenden und Teilhabenden wahrzunehmen und zu fördern. Solidarische Bildung!
Mini-Didaktik
Schneller, flexibler, kürzer in und mit allem zu werden, lautet das Gebot der Gegenwart. Insbesondere: effizienter! Die Schule hat die Outcome-Orientierung schon akzeptiert, die Erwachsenenbildung übernimmt sie vor allem in der beruflichen Fortbildung. (Kühlcke: 2013)
Didaktisch wurde das Konzept „nutzenorientierten Lernens“ schon längst eingeführt. Modularisierung von Inhalten, Anbieten von MOOCs (Massive Open Online Courses), Individualisierung, Microteaching, Microlearning, Lern-Tools unlimitiert…
Mit diesen neuen Lernformen müssen die Prinzipien einer teilnehmer*innenorientierten Bildungsarbeit aber nicht über Bord geworfen werden. Der Didaktiker Martin Lehner zeigt z. B. in seinen Publikationen „Viel Stoff – wenig Zeit“ (2011) und „Mini-Aufgaben“ (2023), wie Souveränität, Autonomie und produktive Kooperation von Lehrenden und Lernenden erhalten werden können.
Soziale Krisen
Unsere gesellschaftlichen Probleme und aktuellen Herausforderungen, unsere Krisen und Konflikte haben soziale Ursachen. Sozialwissenschaftler wie Oskar Negt (1997) reagieren darauf mit Vorschlägen, welche Kompetenzen wir für die Bewältigung unserer sozialen Herausforderungen erwerben sollten. Vor allem: Zusammenhänge herstellen, aber auch Identitäts- und Gerechtigkeitskompetenz beweisen sowie technologisch, ökologisch und historisch kompetent sein, lautet die Antwort. Aufgrund der aktuellen Gewaltausbrüche und Krisenherde bieten sich noch Kompetenzen für internationale Beziehungen und für Konfliktlösungen an. Darin steckt ein Plädoyer für Demokratie, denn diese, meint Oskar Negt, ist jeden Tag zu erlernen.
Ähnlich argumentiert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (2022). Er fordert die kompetente Beteiligung von Bürger*innen an demokratischen Prozessen, um Bewusstsein und Engagement für Demokratie zu stärken. Aktive Mitbestimmung in allen Lebensbereichen, an den „Graswurzeln der Demokratie“, sollte von Bildungs- und Lernprozessen unterstützt werden.
Es stellt sich die Frage: Wie wirkt sich der schleichende Demokratieverlust auf Schul-, Berufs- und Hochschulbildung, auf Weiterbildung und Menschenbildung aus?
Subjektiver Blick, nicht ohne Bücher
Wir befinden uns in einer Lernlandschaft. Industriell organisiert, mit der Tendenz, für Kinder aus bildungsaffinen, sozial besser situierten Familien, den Zugang zu erleichtern. Konsequenterweise kommt Weiterbildung eher Erwachsenen mit höherer Vorbildung zu. Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. (Lenz: 2012; Gruber & Lenz: 2023)
Aus ökonomischer Sicht befinden wir uns in globalisierten, international vernetzten Gegenwartsgesellschaften, die sich wieder zunehmend in „Blöcken“ organisieren. „Der Westen“, „der Süden“, die BRICS-Staaten, die OECD-Staaten…
Der internationale Wettbewerb und der Kampf um Einflusszonen äußern sich in kriegerischer Gewalt, in einem aggressiven, konkurrenzierenden Wirtschaftssystem, in einem „War for Talent“, der die Manpower, das Humankapital für eine erfolgreiche Zukunft sichern soll. „Machtwirtschaft“ und Autoritäres fordern „Die Kraft der Demokratie“ heraus. (Weck: 2020)
Die meisten – „alternden“ – Gegenwartsgesellschaften belastet der Mangel an Facharbeiter*innen und der Rückgang der Geburtenrate. Qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland sollen sich den Werten und der Kultur des Gastlandes anpassen und die eigenen möglichst nicht artikulieren. Lernen der Landessprache wird von den Zuwanderer*innen und ihrem Nachwuchs verlangt.
Die Prozentzahlen von nicht Deutsch sprechenden Kindern an Schulen werden als Horrormeldungen in den Medien kolportiert. Unter welchem selbst auferlegten Erfolgsdruck Kinder lernen, wird kaum berichtet. (Toxische Pommes: 2024)
Politische Visionäre übergehen die alltäglichen Herausforderungen, Kränkungen, Diskriminierungen von Kindern, Lehrenden, Eltern oder Sozialarbeiter*innen. Vielmehr verweisen die „Retter der Zukunft“ auf den dringenden Nachholbedarf bezüglich Technologie, Digitalisierung oder Künstlicher Intelligenz. Wofür die englische Sprache allerdings essentiell ist. Muttersprache, Gastlandsprache, Englisch als Arbeitssprache! Alles gleichzeitig lernen!? Was könnten wir von Migrant*innen lernen? Welche Beziehungsebene erlaubt uns, mitzufühlen und zu wissen, wie es ihnen geht? (Erkurt: 2020)
Die Betriebsamkeit, um anderen – Mitmenschen, Ländern, Nationen, Blöcken – überlegen zu sein, begehrten Profit einzustreichen, Lebensgenuss nicht einzuschränken, schädlichen Müll und anderes Unbequemes zu exportieren, von uns mitverursachtes Leid in Nähe und Ferne auszublenden, zerstört Lebewesen und ihren Planeten. Übrigens, auch wir Menschen sind Teil der Natur und somit Bestandteil der sich durch uns verringernden Artenvielfalt und Biodiversität. Klimaschutz betrifft nicht nur „die Natur“, sondern beruht auf der Ausweitung von sozialer Gerechtigkeit. (Otto: 2023; Siegmund: 2023).
Noch zwei Fragen
Ein strenger Lerndrill im asiatischen Kulturraum, konkurrenzorientiertes Lernen im „westlichen“/OECD-Raum, ein mit Gewalt eingeschränktes Lernen (auf Geschlecht und/oder auf Inhalte bezogen) oder das Verbot von Schulbesuch aufgrund politischer Ideologien, das sich weltweit in unterschiedlichen Staaten findet, beherrschen die Atmosphäre von Institutionen des Wissenserwerbs und dessen Verwertung.
Lernen hat keine Grenzen – Wissen hat keinen Horizont. Bildung entsteht durch Beziehungen zu Lernen und Wissen über ein Thema, um problemorientiert zu denken und zu handeln.
Bildung stellt Fragen nach dem Sinn von Lernen und Wissen. Wer profitiert von dem, was gelernt wird? Wer profitiert von der industrialisierten Lernlandschaft mit ihren Lerninstitutionen Schule, Hochschule, Universität und zunehmend auch Kindergarten?
Natürlich, eine Antwort ist nicht genug. Ohnedies sollten zunächst Fragen ausgesprochen und gehört, überhaupt angenommen werden. Fragen stehen am Anfang, um zu lernen, um zu wissen und um sich zu bilden.
Bildsames
Ohne Zweifel, viele Projekte, viele Engagierte, viele Anstrengungen tragen schon dazu bei, damit sich Lernen und Bildung verbinden und wirksam werden. Das gibt Anlass zur Hoffnung: Es ist nicht unmöglich, bessere Lebensbedingungen auf dieser Welt zu entwickeln. Vier solche „Entwicklungshelfer*innen“, und wie man sich ihnen lesend annähern kann, werden nun vorgestellt.
- Jane Goodall, weil sie an traditionellen Wissen-schaftler*innen und sonstigen Widerständen nicht verzweifelte.
Selbstbewusst und beharrlich, einfühlsam und geduldig, bestens organisiert und vernetzt erleben wir Jane Goodall in ihrem „Buch der Hoffnung“ (2021). Entstanden ist es auf Basis von Gesprächen, die der Autor Douglas Abrams mit der damals fast neunzigjährigen Forscherin und Klimaaktivistin führte. Es geht um das Beobachten von Schimpansen, um Rückschläge und Erfolge sowie immer um „Hoffnung“. Auf diese, versichert Jane Goodall, können wir wegen vier Ursachen vertrauen: Wunder des menschlichen Intellekts, Widerstandskraft der Natur, Macht der Jugend, unbeugsamer menschlicher Kampfgeist. Beim Lesen mag der Eindruck entstehen, man sitzt mit Jane, Douglas und einem Glas Whisky am Tisch.
Nähe entsteht und Beziehung. - Bartholomäus Grill, weil er seine Liebe zur Landwirtschaft artikuliert, verständlich argumentiert und seine Ansichten offen vermittelt.
Als Bergbauernbub in Bayern aufgewachsen, bereiste er als internationaler Korrespondent die Welt und wurde profunder Kenner der globalen Landwirtschaft. Mit seiner Kampfschrift „Bauernsterben“ (2023) schont er Leserin und Leser nicht. Weder wenn er den „Agrarkrieg“ beschreibt, den Konzerne, Funktionär*innen und willige Landwirt*innen führen, noch, wenn unsere Ernährung Mitschuld am Klimawandel erhält. „Fleisch frisst Land!“ Weniger Fleischkonsum, ist das so unmöglich? Die Agrarindustrie betreibt „Ökozid“, wir tun mit. Wer setzt sich ein für den Wandel, welche Nahrung erzeugt wird, wenn nicht Bäuerinnen, Bauern und Konsument*innen?
Auch wir sind gefordert. - Robin Wall Kimmerer, weil sie den Unterschied zwischen Wissenschaft und traditionellem, indigenem Verständnis einebnet und über das Leben lehrt, ohne zu belehren.
Die Botanikerin hat eine akademische Karriere durchlaufen, im wissenschaftlichen Feld reüssiert und Traditionen der indigenen amerikanischen Bevölkerung, der sie sich zurechnet, integriert. Ihr Buch „Geflochtenes Süßgras“ (2023) handelt davon. Sie weicht schwierigen Fragen nicht aus. Dürfen wir Leben zerstören, um unser eigenes zu erhalten? Sie tritt auf gegen Begehren und Gier, sie fordert eine „Dankbarkeitskultur“. Zu selbstverständlich nehmen wir und konsumieren zügellos. Sie selbst dankt für Wissen und kollektive Weisheit. Sie fühlt sich verantwortlich, beides nach bestem Wissen und Gewissen weiterzugeben.
Respekt und Dankbarkeit als pädagogische Tugenden. - Das bildungsLab*, weil die Protagonistinnen „hegemoniale Bildung“ widerständig debattieren, entgrenzen und erweitern.
Die Autorinnen, Wissenschaftlerinnen of Color und/oder mit Migrationsgeschichte, treten gegen soziale Ungerechtigkeiten wie z. B. Diskriminierung, Rassismus, Sexismus in der „Lehrmaschine“ auf. In ihrem „postkolonialen Manifest Bildung“ entwerfen sie Alternativen. „Wir sind schon da!“, melden sie sich zu Wort. „Wir lehren und bilden uns […] Wir wollen verändern und nicht bekennen. Uns und auch die (bildungspolitischen) Strukturen.“ (bildungsLab*: 2023, S. 100 f)Ihre „Bildung des Widerspruchs“ umfasst u. a.:
- agieren in und aushalten von Ambivalenzen
- Eindeutigkeiten und Klassifizierungen hinterfragen
- Selbstverständliches prüfen, Widersprüche benennen
- in einer unsicheren und zufälligen Welt kontrapunktisch denken und selbstwirksam leben.Die Nähe zu Vertreter*innen und Praktiker*innen einer „befreienden Bildung“ (Freire: 1998; Illich: 2017) sowie zu einem „Denken ohne Geländer“ (Arendt: 2006) ist gewollt. Selbstbewusst, streitbar und engagiert gibt das bildungsLab* in dieser und in anderen Publikationen Anregungen, wie Lernen und Bildung emanzipatorisch-politisch wirken können.
Motivierend, um weiterzudenken und pädagogisch-aufklärend zu handeln.
Mehr Bildung
Erwachsenenbildung, Weiterbildung, Politische Bildung sind „schon da“. Sie können helfen, sich zu bilden. Sie geben Kraft, Inhalte und Räume für Selbstbildung.
Für Bildung einzutreten, ist nicht schwer, auch nicht als Vorbild: nachdenken, Zusammenhänge suchen, Zweifel zulassen, Alternativen vorstellen, Begründungen verlangen, Vorgegebenes überprüfen, Widersprüche aufzeigen, zuhören, hinhören, freundlich sein, unterstützen, stärken, achtsam, geduldig, einfühlsam, kommunikativ, dankbar und respektvoll sein …
Zur Selbstbildung anregen und ermutigen – alles Weitere wird sich ergeben. Nachhaltig. //











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