Der 100. Geburtstag unserer Republik ist ein idealer Anlass, um sich mit der Geschichte und dem Wesen unseres Landes, der Befindlichkeit seiner Demokratie und seiner europäischen Vernetzung zu beschäftigen.
Die Befassung mit der Geschichte eines Landes dient aber auch der Schärfung des Blickes für künftige Entwicklungen, Chancen und Gefahren.
Denn um die Zukunft eines Landes beurteilen und gestalten zu können, muss man jedenfalls auch die Vergangenheit und die Fehler der Vergangenheit kennen. Soviel zur Ausgangslage.
Inzwischen sind wir am 11. Tag des Jubiläumsjahres 2018 angelangt und ich stelle mir zunächst die Frage: Wo genau ist Österreich vor exakt 100 Jahren, im Jänner 1918, also im vierten Jahr des Ersten Weltkrieges noch zur Zeit der Monarchie, unter der Führung von Kaiser Karl und Ministerpräsident Ottokar Graf Czernin gestanden? Wie sahen die Zukunftsperspektiven damals aus?
Ich denke, dass man im Jänner 1918 noch wenig Ahnung hatte und haben konnte, wie Österreich und Europa auch nur ein Jahr später, also im Jänner 1919, aussehen werden.
Die Geschichte verläuft eben nicht linear, sie hat immer wieder Bruchstellen, wo sich in wenigen Tagen oder Wochen mehr ändert, als sonst in Jahren oder Jahrzehnten.
Und wie war es vor 80 Jahren, im Jänner 1938?
Auch da konnte man nicht genau wissen, dass zwei Monate später Hitler ein Ultimatum an die österreichische Staatsführung stellen würde, das Bundeskanzler Schuschnigg zum Rücktritt zwingt und den Einmarsch deutscher Truppen bzw. die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich zur Folge haben würde, sodass am 15. März 1938 der Führer und Reichskanzler des Deutschen Reiches, Adolf Hitler, von einem Balkon am Heldenplatz aus, vor mehr als 200.000 fanatisierten und nahezu hypnotisierten Menschen, mit sich überschlagender Stimme, den Eintritt seiner Heimat in das Deutsche Reich verkünden konnte.
Wir kennen den zentralen Satz dieser Rede, welcher lautete:
„Ich kann somit in dieser Stunde dem deutschen Volke die größte Vollzugsmeldung meines Lebens abstatten: Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich! Sieg Heil!“
In einer anderen Rede versprach er der Stadt Wien, „dieser Perle“, eine neue Fassung zu geben, woran sich viele Wienerinnen und Wiener bitter erinnert haben, als die Stadt sieben Jahre später rund um einen brennenden Stephansdom herum in Trümmern lag und sich die Schuttberge hoch auftürmten, und zehntausende getötete deutsche und russische Soldaten sowie Zivilisten zu begraben waren.
Hitler bedeutet Krieg – das haben zwar viele schon Jahre vor seinem Einmarsch in Österreich gewusst. Aber zu wenige haben die Mahnung ernst genommen.
Dabei waren die Ereignisse vor 80 Jahren, also im März 1938, nicht ganz so abrupt über unser Land hereingebrochen wie der Kriegsausbruch 1914 oder der November 1918, weil das Aufkommen des Faschismus und die wachsende Rolle des Nationalsozialismus sowie die Abkehr vom Parlamentarismus und vom Humanismus eine jahrelange Vorgeschichte hatte.
Und wieder anders ist es, wenn wir auf die relativ geradlinige und stabile Entwicklung der letzten 50 oder 60 Jahre blicken, wo vergleichbare, dramatische Entwicklungen – vielleicht mit Ausnahme des Zusammenbruches des Kommunismus in Europa – weitgehend ausgeblieben sind.
Was können wir daraus lernen?
Für mich ergibt sich daraus die Schlussfolgerung, dass weder die personalistische Geschichtsbetrachtung, wonach es primär große Persönlichkeiten, Führer, Generäle oder Revolutionäre sind, die die Geschichte prägen, noch die materialistische Geschichtsauffassung, wonach die Geschichte von der Entwicklung der Produktivkräfte gesteuert wird und der Einfluss einzelner Persönlichkeiten nur relativ gering zu veranschlagen ist, den Schlüssel zur Erklärung historischer Abläufe liefert.
Geschichte ist vielmehr ein ungeheuer komplexer Ablauf von Ereignissen mit überschaubaren Teilstrecken, die Extrapolationen erlauben aber auch mit unvorhersehbaren Stromschnellen, Richtungsänderungen, Katastrophen und ungewollten Entwicklungen.
Gerade deshalb sind wir verpflichtet, Entwicklungstendenzen genau zu beobachten, Zeichen der Geschichte zu studieren und zu analysieren und auf neue Entwicklungen zu achten.
In diesem Sinne müssen wir uns fragen:
- Entwickelt sich die Demokratie in Europa derzeit auf einem soliden Unterbau oder gerät sie in unwegsames und unübersichtliches Gelände?
- Sind wir in der Lage, das Bekenntnis zu den Menschenrechten, zur Würde des Menschen zu festigen oder sind Menschenrechte und Menschenwürde in der Defensive?
- Herrscht Rückenwind für das Bekenntnis zum Pluralismus und zur Dialogbereitschaft oder verstärkt sich das Denken in Schwarz/Weiß-Kategorien?
- Gewinnt der kritische Rationalismus oder der unkritische Populismus an Einfluss etc.?
Das sind Fragen, die studiert, diskutiert und nach Möglichkeit beantwortet werden müssen. Sie stehen in einem engen Verhältnis mit der Stabilität und den Perspektiven unserer Demokratie.
In der Natur des Menschen liegen offenbar zwei Grundtendenzen im Widerstreit miteinander, nämlich das Prinzip der Herrschaft des Stärkeren einerseits und das Prinzip der Gleichwertigkeit und der gleichen Menschenwürde aller Menschen, wie es in den meisten Verfassungen verankert ist andererseits. Geschichtswissenschaft ist auch Politikwissenschaft und Politikwissenschaft ist auch Geschichtswissenschaft. Robert Michels hat in seinem vor fast 100 Jahre geschriebenen Buch zur Soziologie des Parteiwesens diese Tendenz zur Oligarchisierung und die Gegenbewegung dazu wie folgt beschrieben: „Die demokratischen Strömungen in der Geschichte gleichen mithin dem steten Schlag der Wellen. Immer brechen sie an der Brandung. Aber auch immer wieder werden sie erneuert. Das Schauspiel, das sie bieten, enthält zugleich Elemente der Ermutigung und der Verzweiflung.“
Meine Großmutter pflegte diesen Befund leichter verständlich zu formulieren. Sie sagte: „Der liebe Gott muss immer ziehen, dem Teufel fällt’s von selber hin.“ Also das Sisyphos Phänomen.
Tatsächlich ist Demokratie – und zwar die faire, parlamentarische, sachliche, diskussionsbereite, Minderheitenanliegen berücksichtigende und nicht auf Schwarz und Weiß reduzierte Demokratie – ein kompliziertes System, ein sensibles System, das ohne Unterlass einer Gegenströmung, nämlich Tendenzen zur Oligarchie, zur Machtakkumulation, zur Ungleichheit ausgesetzt ist und daher auf der Hut sein muss.
Ich betrachte die Demokratie in den meisten Staaten Europas dennoch als durchaus gefestigt, aber sie ist nicht unzerstörbar. Sie muss gewollt werden und geschützt werden.
Dieses Thema steht auch in einem engen Zusammenhang mit unseren europäischen Idealen. Wie die Demokratie ist auch die europäische Zusammenarbeit gefestigt, aber nicht unzerstörbar. Auch sie muss gewollt werden. Sie darf sich nicht im Recht des Stärkeren erschöpfen. Sie darf ihren Sinn nicht auf die Durchsetzung eigener Interessen reduzieren.
So wie man – um nicht nur über Österreich zu sprechen – in Deutschland einen vernünftigen und solidarischen Interessensausgleich zwischen Bayern und Sachsen finden muss oder in Italien zwischen dem Norden und dem Süden, so muss man auch in Europa einen vernünftigen Interessenausgleich zwischen den einzelnen Staaten und Regionen suchen und dabei jeweils das Gemeinsame in den Vordergrund stellen. Dieser Ausgleich wird aber nur gelingen, wenn die Solidarität stärker ist als der Egoismus.
Dabei gibt es zwischen dem europäischen Projekt und der Demokratie starke Zusammenhänge und Verbindungen. Wenn sich Europa gut entwickelt, nützt dies der Demokratie in Europa. Und wenn die Demokratie in den Mitgliedsländern der EU gut funktioniert, hat das europäische Projekt Aufwind.
Dies alles gilt es im Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018 zu beachten und zu berücksichtigen. Ich freue mich, dass es in den nächsten Wochen und Monaten zwischen Neusiedlersee und Bodensee noch sehr viele weitere Veranstaltungen, Ausstellungen, Vorträge und Publikationen geben wird, die den historischen Gedenktagen im Jahr 2018 gewidmet sind.
Der Blick wird aber nicht nur zurück auf unsere Geschichte gerichtet sein, sondern auch auf zukünftige Entwicklungen und Zukunftsperspektiven unseres Landes. Ich darf in diesem Zusammenhang z. B. auf eine hochrangig besetzte Veranstaltung der Österreichischen Nationalbank verweisen, die unter dem Titel „Austria’s place in Europe“ am 27. April 2018 – ebenfalls ein historisches Datum – in Wien stattfinden wird. Und wir alle wissen, dass Politik und Geschichte auch durch Kunst und künstlerische Interventionen dargestellt und reflektiert werden können. Auch das wollen wir berücksichtigen.
Den Printmedien und den elektronischen Medien danken wir für die absehbare und bereits in Vorbereitung befindliche, intensive Beschäftigung mit all diesen Themen.
Nicht zuletzt ist es ein schönes und wichtiges Zeichen, dass wir in der zweiten Hälfte des Jahres 2018, wo Österreich den Vorsitz in den Europäischen Räten innehaben wird, endlich auch die Eröffnung eines Hauses der Geschichte in Wien erleben werden.
Dieses wichtige Geschenk der Republik an sich selbst soll gemeinsam mit dem bereits in St. Pölten bestehenden Haus der Geschichte eines ganz besonders verdeutlichen: Demokratie und Friede dürfen nicht als selbstverständlich hingenommen werden, sondern jede und jeder einzelne von uns muss dazu beitragen, dass sie erhalten und verteidigt werden.
Somit danke ich allen, die sich um das Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018 bemühen und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! //
Foto: Copyright: Paul Pibernig
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