In diesem Band wird ein interessantes arbeitsmarktpolitisches Experiment beschrieben. Das AMS Niederösterreich hat ab April 2017 für mehr als 20 Monate lang 44 langzeitarbeitslos gemeldete Menschen aus dem Waldviertel Transferleistungen bezahlt und sie von der Vermittlung ausgenommen. Sie mussten in dieser Zeit keine Termine beim AMS wahrnehmen, um anspruchsberechtigt zu bleiben, und sie wurden nicht in Schulungen des AMS vermittelt. Geschrieben haben in diesem Buch Projektleiter, SozialpädagogInnen, Wissenschafter und Teilnehmende. Alle berichten über die Veränderungen, die dieses Projekt sowohl bei den einzelnen Beteiligten als auch in der Gesellschaft einer Kleinstadt bewirkt hat.
Das Projekt „Sinnvoll tätig sein“ unter der Leitung der Betriebsseelsorge Oberes Waldviertel setzte auf Ermächtigung und Selbstermächtigung. Aktivierung und Motivation war das Ziel. Dabei ging es insbesondere um vier Aufgaben: Angst zu verlieren, Isolation zu überwinden, Solidarität zu üben und Freunde zu gewinnen. (S. 55).
„Wer arbeitslos ist, ist draußen“, das hörten die Projektbetreiber oft. Daher war eine wichtige Fragestellung, der in dem Projekt nachgegangen werden sollte: „Was verändert sich bei einzelnen Personen und was in einer Kleinstadt wie Heidenreichstein, wenn etwa ein Prozent der Bevölkerung teilnimmt, das bisher vom gesellschaftlichen Leben weitgehend ausgeschlossen war.“ (S. 33 f.).
Die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten war ein zentrales Ziel. Weiters ging es darum, diese mit anderen zu teilen und in die Gesellschaft einzubringen. Monatlich haben sich alle Beteiligten in einem Plenum getroffen, alle ProjektteilnehmerInnen führten ein Tagebuch, in das sie Tätigkeiten oder Erkenntnisse notiert haben.
Es gab keine Kontrolle, denn es war ein persönliches Tagebuch. Jede Person hatte ihr Ziel definiert und mit Hilfe aller vorhandenen Ressourcen und mehrerer begleitender Angebote (z. B. Gesundes Essen, Erste Hilfe, Männerseminar, Rückenfit, Suchtprävention, Tanzen, u. a.) ging es um die Umsetzung des Zieles.
Um das Projekt in der Bevölkerung möglichst gut zu verankern und um Verständnis und Toleranz aufzubauen, wurde eine Begleitgruppe eingerichtet. 40 Vertrauenspersonen waren tätig, mit den Arbeitslosen waren also zirka zwei Prozent der Bevölkerung in das Projekt involviert.
Schade ist, dass die geplante und von LEADER bereits genehmigte wissenschaftliche Begleitstudie mit Beteiligung der Universität Salzburg und der Katholischen Sozialakademie Österreich im Land keine Zustimmung erfuhr. Mit viel Engagement der beteiligten WissenschafterInnen und durch Crowdfunding konnte schließlich die wissenschaftliche Begleitung in dieser Form doch ermöglicht werden.
Dieses inhaltlich zweifelsohne außergewöhnliche arbeitsmarktpolitische Projekt hat, obwohl das nicht intendiert war, einen – selbst im herkömmlichen Sinn – beachtlichen „arbeitsmarktpolitischen Erfolg“ erzielt. Von 44 Personen, die seit vielen Jahren ohne Erwerbsarbeit waren, haben 13 eine unselbstständige und zwei eine selbstständige Tätigkeit begonnen. Die Erfolgsquote betrug somit 34 Prozent. (S. 107). Darüber hinaus nahmen die ProjektteilnehmerInnen ehrenamtliche und gemeinwohlorientierte Tätigkeiten auf, wodurch die vormals Ausgegrenzten in die Gesellschaft hereingeholt werden konnten.
Anerkennung war der wesentliche und erfolgversprechende Punkt in diesem Experiment. Denn „Anerkennung hat eine Voraussetzung, nämlich eine Atmosphäre ohne Druck und ohne sich rechtfertigen zu müssen“. Allerdings gibt es auch „eine Konsequenz, und die heißt Selbstverantwortung“. (S. 40). Der Druck sollte herausgenommen werden, da dieser in die Selbstisolation führt. Menschen, die frei und ohne Zwang eine Tätigkeit ausüben, die auch noch ihren Neigungen und Interessen entspricht, tun dies höchst motiviert und auch mit größerem Erfolg.
Das ,Heidenreichsteiner Experiment‘ leistete darüber hinaus wichtige Dienste an „alternativer Vergemeinschaftung. Bekanntschaften werden geschlossen, Freundschaften entstehen. Sogar gemeinsame Ausflüge wurden bereits getätigt. Menschen lernen einander kennen. Da geht es auch um eine Rückholung in die Kommune, ohne Muster aufzuerlegen. […] Die Leute sollen fitter werden. Geistig und körperlich. In erster Linie handelt es sich dabei nicht um die Erfüllung eines äußeren Anspruchs. Aktiviert werden ist zweifellos wichtig, aber es ist wichtig als Selbstzweck, nicht als Zweck. Ob es dazu führt, sich selbstständig zu machen oder einen Job zu finden, ist nicht vernachlässigbar, aber sekundär. Primär geht es um Selbstermächtigung: Power to the people!“
Fazit: Ein empfehlenswertes Buch für alle, die in der Bildung und in der Arbeitsmarktpolitik gestaltend, konzipierend, beratend und bildend tätig sind. Nachahmung empfohlen. //
Kommentare