Unser afghanischer Brennnesseltee
Flüchtlinge sind ein Geschenk. Ein Projekt der VHS Hietzing mit jugendlichen Flüchtlingen im Geriatriezentrum am Wienerwald.

„Und das Licht leuchtet in der Dunkelheit und die Dunkelheit hat es nicht erfasst.“ So steht es im Johannesevangelium. Die Dunkelheit kann nichts gegen das Licht einer Kerze ausrichten. Licht im Dunkeln. Die Weihnachtszeit naht. Das ist die Zeit, wo die großen Gefühle auf Geschenkformat gebracht werden und Symphonien zur Berieselung von Kaufhausketten tauglich gemacht werden.

In Österreich gibt es zurzeit alleine im Lager Traiskirchen 550 unbegleitet Jugendliche. Die Verfahren werden, so lautet die Kritik, so lange verzögert, bis sie älter als 18 Jahre sind und ihre Eltern nicht mehr nachkommen lassen können.

Ich kenne Said, Abdulla und Mudaser, wobei kennen sicherlich zu viel gesagt ist. Aber immerhin habe ich sie regelmäßig getroffen bei unserem Projekt „ICH WEISS“, wo diese Drei, neben anderen, die Fassade der VHS Hietzing angemalt haben. Wenn sie Deutschkurs in der VHS hatten, haben wir uns die Hand gegeben. Ich habe erfahren, dass Abdullah gerne Gitarre spielen würde. Ich habe ihm ein Instrument beschafft sowie einige Unterrichtsstunden organisiert. Said, der Klavier spielen will, hat jetzt sogar ein Keyboard. Im nächsten Semester sollen beide in der VHS Hietzing ein Semester lang Unterricht bekommen. Ihre Geschichte kenne ich nicht so genau, die Schilderung der Flucht bleibt ausgeklammert.

Einmal waren wir gemeinsam in der Albertina. Offenbar waren sie noch nie zuvor in einem Museum. Wir sind durch die Prunkräume geschlendert und sie haben dabei begonnen, alles anzugreifen, über den Stein und die Möbel zu streichen. Zwei haben dann sogar die Teppiche umgedreht, um zu prüfen, ob diese von guter Qualität sind. So viel habe ich in der Albertina noch nie gelacht. Als wir durch die Sammlung Batliner gegangen sind blieb Abdullah vor einem Bild von Malewitsch stehen. Auf diesem steht ein Mann mit dem Rücken zum Betrachter. Ein Haus ist zu sehen. Alles wirkt sehr aufgeräumt, zwischen dem Menschen und den Dingen ist viel Platz. Dann sagt er: „Das ist meine Situation, so geht es mir.“ Und Said saß auf einer Bank im Saal mit lauter Aktzeichnungen und fragte mich: „Wie ist das mit diesen Bildern. Warum ist da so viel zu sehen?“

Im Sommer, nachdem die Fassade bemalt worden war, war mein Leben in der VHS fast etwas eintönig. Im Gespräch mit Brigitte Gadnik-Jiskra, die seit 30 Jahren im Geriatriezentrum am Wienerwald als Kursleiterin tätig ist und seit einem Jahrzehnt das Projekt der VHS-Bildungsangebote in der Geriatrie koordiniert, sind wir mit Dr. Fritz Neuhauser zusammengesessen. Mit Fritz haben wir schon einige Projekte im Bereich Gartentherapie durchgeführt. „Warum bauen wir die jugendlichen Flüchtlinge nicht in unsere Kurse im GZW ein?“ Eine Frage, in einem Nebensatz gestellt. Eine Idee mit Folgen.

Anfangs waren die Betreuer/innen im „Haus Sidra“ des Arbeitersamariterbundes, wo die Jugendlichen ein zu Hause gefunden haben, etwas skeptisch. Zum Sommerfest haben wir eine Gruppe aus dem „Haus Sidra“ eingeladen, damit sie einen Eindruck von den Bewohnerinnen bekommen, damit sie wissen, was sie erwartet.

Die Gruppe der Bewohnerinnen, die die Malkurse und Keramikkurse besuchen, haben sich gefreut über die jungen und „feschen“ Männer.

„Abdullah bat um Einverständnis, sich zu unserer Zypriotin setzen zu dürfen, da sie so einsam auf ihn wirkte. Die beiden unterhielten sich über eine Stunde und auf dem Gesicht unserer Dame spiegelte sich ein Lächeln, welches bisher niemand von uns bei ihr gesehen hatte.“ (Aus Brigittes Tagebuch).

Die Ärzte und Pfleger/innen wollen es fast nicht glauben. Abdullah hat eine Oma gefunden. Sie erzählt ihm beim zweiten Treffen nach dem Sommerfest, dass sie sich früher gerne die Fingernägel lackiert habe, aber dass dies jetzt nicht mehr möglich sei. Abdullah kauft von seinem Taschengeld Nagellack, und beim nächsten Treffen lackiert er ihr die Fingernägel.

Said spielt mit Frau P. Schach. Wenn das Wetter es zulässt, übersiedeln alle in den Garten. Ein Feld soll gerodet werden, dort soll ein Therapiegarten entstehen. Die Bewohner/innen sitzen am Rand und beobachten die Jugendlichen. Gitta führt mit ihrem Rollator die Steine aus dem Feld auf einen Haufen. Sie ist stolz, sie hat schwer gearbeitet. Das Brennnesselfeld ist bald Geschichte. Die Pflanzen werden mit der Wurzel ausgerissen, ähnlich den Jugendlichen, die ebenfalls entwurzelt sind. Aber warum wollen wir die Brennnesseln nicht verwenden? Ein Nebensatz: „Könnten wir die Pflanzen nicht trocknen und unseren eigenen Tee in kleine Säckchen abfüllen und verkaufen?“

Wir entscheiden, unseren eigenen Tee zu produzieren: Dr. Neuhausers Brennnesseltee mit Thymian und Wermut. Aber wir wollen nicht Abwarten und Tee trinken, sondern uns auch kennenlernen. Die Bewohnerinnen beginnen nachzufragen. Wo liegt Afghanistan? Brigitte bringt einen Atlas.

Für die Jugendlichen ist nicht ganz klar, warum alte Menschen hier ganz alleine wohnen. Das kennen sie nicht aus ihrer Heimat. Alte Menschen, die ganz alleine, ohne ihre Familie leben. Mehrmals fragen sie nach. Sie wollen unsere Erklärungen nicht so richtig glauben.

Die Betreuer/innen aus dem „Haus Sidra“ berichten uns, dass die Jugendlichen nach den Besuchen im GZW mehr als sonst erzählen. Fast wie aufgezogen berichten sie. Auf Wäscheständern werden die Brennnesseln getrocknet. Brigitte schreibt ein Tagebuch über die Begegnungen und die Gespräche. Monika, die ein Praktikum absolviert, fotografiert die Arbeit. Sie inszeniert das Betrachten der Fotos nach zwei bis drei Treffen wie ein Fest. So entsteht eine gemeinsame Geschichte. Said ist auf dem Aufkleber der Teesackerl zu sehen, inmitten des Felds aus Unkraut, das eigentlich eine Heilpflanze ist.

Für viele Bürgermeister in Österreich sind Flüchtlinge, wenn schon nicht Unkraut, so doch Gewächse, denen man am besten ausweicht, an denen sich niemand die Finger verbrennen will – nur nicht anstreifen!

Dr. Neuhauser Brennnesseltee ist jedoch ein Gesundheitstee. Mit Liebe getrocknet, eingefüllt und beschriftet, signiert mit arabischen Schriftzeichen. Jedes Sackerl ein Kunstwerk. Dass ein Arzt auch im Garten arbeitet, das haben die Jugendlichen nicht verstanden. Wo ist sein weißer Mantel? „Ist das wirklich ein Arzt?“, fragen sie mehrmals, als Dr. Neuhauser mit der Schaufel das Beet umsticht.

Beim Einfüllen der getrockneten Brennnesseln arbeiten alle zusammen. In der Zwischenzeit hat die Gruppe auch Keramikringe hergestellt. Auf langen Stangen werden die verschiedenen Ringe und Elemente aufgefädelt. Kunstvolle Stelen für den Garten. Die arabischen Schriftzeichen der Jugendlichen faszinieren unsere Alten. Sie lachen über ihren ersten afghanischen Witz.

„Monika war mit den Jungs noch am Umstechen auf unserer Brennnesselplantage. Die Burschen lernten die Vokabel der Werkzeuge, die sie verwenden: Gabel, Schaufel, Stichschaufel. Sayed wiederholte >Gabel< – dann erhellte sich sein Gesicht und er deutete auf die Schaufel und sagte: >Dann heißt das Löffel!< Alle lachten. Wir lernten, dass Löffel in afghanischer Sprache >Bill< heißt, und wir bekamen von Sayed unseren ersten afghanischen Witz erzählt: >Ein afghanisches Mädchen wird von ihrer Familie nach Amerika geschickt. Die Mutter ruft sie an und fragt: ‚Wie geht es dir? Was machst du gerade?‘ Das Mädchen antwortet: ‚lch esse mit Bill.‘ Die Mutter entsetzt: ‚Du armes Kind, habt ihr in Amerika kein Besteck, dass du mit Bill essen musst?‘“ (Aus Brigittes Tagebuch).

Die Keramikteile werden gebrannt und aufgefädelt und sollen den Garten im „Haus Sidra“ zieren. Im Frühling oder Sommer werden dann die Bewohner/innen des GZW die Jugendlichen im Haus besuchen. Das wird ein Fest.

„Super Runde und gute Stimmung! Während des Arbeitens plaudern die Jungs mit den Damen und helfen ihnen ihre Tonelemente zu bemalen. Dazu gibt’s Chips und Limo. Schöne Stücke entstehen. Die Jungs ritzen in afghanischer Schrift >Du sollst deine Freunde lieben<, >Afghanistan< und Herzen ein. Manchmal wird es ganz still im Raum, weil jeder in seine Arbeit vertieft ist. Ali gefällt das Auswalken des Tons am besten und Abdullah knetet den Ton weich. Bis auf Sayed hat noch keiner von ihnen mit Ton gearbeitet. Ich habe das Gefühl, dass diese Arbeit nicht nur Spaß macht, sondern auch therapeutisch für die Burschen unterstützend ist.“ (Aus Brigittes Tagebuch, 11. September 2014).

Durch die wöchentlichen Besuche sind unsere Bewohnerinnen im Geriatriezentrum jünger geworden und alle haben etwas gelernt. Das entstandene Wissen ist sicherlich nicht verwertbar und zählt nicht auf dem Arbeitsmarkt, aber es ist Teil einer neuen Heimat: für die Jugendlichen, das Gefühl, dazuzugehören, und für die Alten die Freude, wieder Besuch zu bekommen.

Als wir für die Fassadenmaler einen Deutschkurs finanziert haben, der dann in der VHS stattfand, brauchten wir das nicht eigens auf Plakaten zu drucken. Unsere Kund/innen haben es sofort gemerkt. Am Vormittag sind für gewöhnlich nicht so viele unter 20-Jährige im Haus. Die Kund/innen registrierten, dass mich die Jugendlichen kennen, dass ich mit ihnen durch das Haus ging und begannen daraufhin zu fragen, wurden neugierig, sprachen mit den Jugendlichen und wunderten sich schließlich – viele Bilder, die im Kopf entstehen, passen einfach nicht zur Realität. Ich rede mit einer Kursleiterin für Französisch vor dem Kaffeeautomat. Zwei Jugendliche kommen die Stufen herauf, sehen mich, kommen zu mir, geben mir die Hand, begrüßen mich, begrüßen auch die Kursleiterin und geben auch zwei umstehenden Damen die Hand. Ein großes Staunen. Das ist Bildung, informelle Bildung, die oft wichtiger ist, als alles andere.

Im November verkaufen Teilnehmer/innen unseres Malkurses wieder ihre Bilder im Foyer. Das ist ein besonderer Kurs, das ist der Joschi-Eisenbauer-Kurs. Joschi war unser Spanienkämpfer, der bis zu seinem 93 Jahr unterrichtet hat. Im bürgerlichen Hietzing hat er in seinem Kurs immer über Spanien und den Kampf gegen die Faschisten gesprochen und seine Teilnehmer/innen dabei immer motiviert, ihre Bilder günstig zu verkaufen und das Geld dann zu spenden. Joschi ist 2010 verstorben. Die Gruppe malt weiter, auch ohne Kursleiter. In diesem Jahr verkaufen sie wieder ihre Bilder. Sie spenden das Geld für unsere Flüchtlinge. Am ersten Tag haben sie Aquarelle um 600,– Euro verkauft. Wenn die Leute fragen, zeigen sie Fotos von unseren Flüchtlingen, von der Brennnessellernte und dem gemeinsamen Kaffeetrinken. Am Ende wurden es mehr als 1300,– Euro – damit ist das Projekt bis zum Sommer gesichert.

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Foto: © Robert Streibel

„Abdhullah spielte afghanische Musik übers Handy, die unsere Arbeit beflügelte. Von den Liedertexten lernte ich einen neuen Satz in afghanischer Sprache: >Samo na<. Nun kann ich schon auf afghanisch sagen: >Bill – samo na<, das heißt: >Schaufel – das Leben ist kurz<. lst fast philosophisch.“ (Aus Brigittes Tagebuch, 15. Oktober 2014). Die Übersetzung ist zwar nicht korrekt, aber ob Leben oder Zeit, was spielt das schon für eine Rolle?

„Heute ist mir bewusst geworden, dass von Woche zu Woche das Verhältnis zu den Flüchtlingsburschen näher wird. Das ist schön. Gestern hat Erna zu mir gesagt: >So schön wie mein Leben zurzeit ist, war es noch nie<. Das hat mich sehr berührt.“ (Aus Brigittes Tagebuch, 22. Oktober 2014).

Der Brennnesseltee ist abgefüllt und wird seine heilsame Wirkung im Teeglas entfalten. Die Flüchtlinge sind ein Geschenk. Schade, dass diese Geschenke so wenig angenommen werden. //

Kontakt 

robert.streibel@vhs.at  0664/52 35 277

Streibel, Robert (2014): Unser afghanischer Brennnesseltee. Flüchtlinge sind ein Geschenk. Ein Projekt der VHS Hietzing mit jugendlichen Flüchtlingen im Geriatriezentrum am Wienerwald. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Dezember 2014, Heft 254/65. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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