Ein Strukturwandel hat die industrielle Moderne erfasst. Sie wurde von einer an Paradoxien und Polarisierungen reichen Spätmoderne abgelöst. Andreas Reckwitz, Professor für Soziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, gibt in fünf Beiträgen, die unabhängig voneinander zu lesen sind, Einblick in eine „desillusionierte Gegenwart“.
Die Illusion der liberalen Fortschrittsidee eine Gesellschaft, die am Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) – einer behaglichen sozialen Ordnung von Politik und Wirtschaft – angekommen ist, muss leider aufgegeben werden. Reckwitz sieht unsere Erwartungen zwischen Fortschritt, Nostalgie und Dystopie pendeln, wobei er sich für eine „nüchterne Gegenwartsanalyse“ entscheidet, ermöglicht durch eine realistische, keineswegs aber pessimistische Illusionslosigkeit.
Er bezeichnet die Epoche, die sich seit den 1970er-Jahren entfaltete und seit den 1990er-Jahren in ausgereifter Form markant hervorgetreten ist, als Spätmoderne. Er charakterisiert sie, im Gegensatz zum bisherigen linearen Strukturmodell, als widersprüchliche, konflikthafte Gesellschaftsformation, die durch polarisierende Prozesse, z. B. Gleichzeitigkeit von sozialem Aufstieg und Abstieg, gekennzeichnet ist.
Reckwitz beschreibt die Spätmoderne, konträr zur industriellen Moderne, als Gesellschaft der Gleichen und als Gesellschaft der Singularitäten. Besonderheiten und Einzigartigkeiten, radikale Individualität und Außergewöhnliches entsprechen ihr. Nicht mehr der Durchschnitt genügt, sondern nur das, was darüber hinausgeht.
Der Spätmoderne attestiert Reckwitz eine „Doppelstruktur von Singularisierung und Polarisierung“. Diese Doppelstruktur thematisiert er in seinen Beiträgen anhand der Ökonomie, dort steht eine Entwicklung komplexer Güter im Kontrast zu Routinejobs Niedrigqualifizierter, im Bildungssystem, die auf Konkurrenz bedachte Profilierung zwischen den Institutionen oder die Akademisierung, die mit einer Abwertung niederer Bildungsabschlüsse einhergeht. Auch in den Lebensformen ist die Diskrepanz zwischen erfolgreicher Selbstverwirklichung und sozialer Deklassierung, die die traditionelle Mittelklasse und die „prekäre Klasse“ betrifft, deutlich.
Von besonderem Interesse für den Bildungssektor sind Reflexionen über die Lebenssituation von Menschen in der Spätmoderne. Für diese steht Selbstverwirklichung mit positiv gelebter Emotionalität im Zentrum, aber zugleich repräsentieren sie ein „erschöpftes Selbst“. Reckwitz registriert ein paradoxes Hervorbringen negativer Emotionen, denen ein legitimer Ort fehlt, sie methodisch zu bearbeiten. Deshalb äußern sie sich „nach innen“ als psychosomatische Krankheitsbilder, „nach außen“ in Form von Hassreden oder -taten.
Seit den 1970er-Jahren werde das Konzept der „Selbstdisziplin“ durch das der „Selbstverwirklichung“, gefördert durch die sogenannte „positive Psychologie“, abgelöst. Der Druck, alles selbst zu erfahren und zu erleben, setzt, urteilt Reckwitz, eine „Enttäuschungsproduktion“ in Gang, die nur schwer zu verlassen ist. Zwei mögliche Strategien bieten sich an:
– eine Lebensform, die Widersprüche und Ambivalenzen akzeptiert; eine Ambiguitätstoleranz, die nahelegt, den Fortschrittsglauben der Moderne nicht einfach auf die individuelle Biografie zu übertragen;
– sich nicht der eigenen Gefühlswelt – weder den negativen noch den positiven Emotionen – ausliefern, um einen nüchternen Blick „auf die Unkontrollierbarkeiten des Lebens“ zu gewinnen.
Ein Distanzierung von Affekten sowie ein Ablassen von ständiger Selbstoptimierung, das Muster des gesellschaftlichen Fortschritts nicht auf die individuelle Entwicklung zu übertragen – also das Modell des ständigen Wachstums für sich auch psychisch abzulehnen – sieht Reckwitz als aktuelle Herausforderungen für die Menschen in der Spätmoderne.
Wahrscheinlich ist es nicht schwer darin, ein emanzipatorisches Bildungsmodell zu erkennen, das aus dem Netz der Spätmoderne hinausführen soll.
Das im wissenschaftlichen Stil verfasste Buch bietet auf soziologischer Basis einen realistischen Befund gegenwärtiger westlicher Gesellschaften. Das soziologische Vokabular stellt eine gewisse Herausforderung dar – aber keine unüberbrückbare Distanz. Die Fachsprache eröffnet auch Chancen und Wege, Komplexität zu erfassen. Unbedingt für wissenschaftliche Bibliotheken zu empfehlen. //
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