Foto: Tomo Jesenicnik
Am 2. Februar 2024 ist Oskar Negt, der Soziologe und Sozialphilosoph, der viele bedeutende theoretische und praktisch wirksame Ideen und Impulse für die Erwachsenenbildung in seinen Schriften, Vorträgen, aber auch in seinem politischen Wirken gegeben hat. In seinem Buch „Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform“, das 2010 erschienen ist, hat sich Negt mit der demokratisch verfassten Gesellschaftsordnung auseinandergesetzt. In seinem Referat bei der 60-Jahr-Feier des Verbandes Österreichischer Volkshochschulen am 7. Dezember 2010 in der Wiener Urania hat er von der Demokratie als der einzigen Gesellschaftsordnung gesprochen, die in einem „sehr intensiven Sinn gelernt werden muss“. (Negt 2011, S. 13).1 Alle anderen Gesellschaftsformen, so Negt, kann man dagegen einfach so haben. Denn „Lernen ist für bestimmte autoritäre Strukturen geradezu hinderlich“. Demokratie hat Negt nicht nur als Regierungsform, sondern auch als eine Lebensform gesehen. Entscheidend ist dabei, was wir unter Erwachsenenbildung und was wir unter Lernen verstehen. Neben dem kognitiven Lernen ist für Negt auch das emotionale Lernen und das soziale Lernen bedeutend. Persönlichkeitsbildung kann nicht auf eine Bedeutung des Lernens reduziert werden. Daher müssen wir uns „damit beschäftigten, was heute Bildung ist und Kritik üben in allen Bereichen der Universität, der Schule, der Erwachsenenbildung, an den betriebswirtschaftlich verengten Blickrichtungen in Bildung und Lernen.“ (Ebd.).
Oskar Negt war kein bloßer Theoretiker, die Umsetzung, die er in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit betrieben hat, war ihm ein Anliegen. Dazu hat er die Methode des exemplarischen Lernens entwickelt und in seinem Buch „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung“ (1968) auch ausführlich begründet.
Im Jahre 1997 veröffentlichte Negt einen Aufsatz über „Gesellschaftliche Schlüsselqualifikationen“. Diesen Schlüsselqualifikationen, die er als „Kompetenzen zur Gesellschaftsveränderung“ verstand, stellte er als grundlegende Kompetenz „Zusammenhänge herstellen“ an den Beginn. Die weiteren Schlüsselqualifikationen lauten: Den Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität lernen (Identitätskompetenz); Gesellschaftliche Wirkungen von Technik begreifen und Unterscheidungsvermögen entwickeln (technologische Kompetenz); Sensibilität für Enteignungserfahrungen, für Recht und Unrecht, für Gleichheit und Ungleichheit (Gerechtigkeitskompetenz); Der pflegliche Umgang mit Menschen, mit der Natur und den Dingen (ökologische Kompetenz); Erinnerungs- und Utopiefähigkeit (historische Kompetenz).(Negt 1997).2
Oskar Negt ist als jüngstes von sieben Kindern in einer Familie von Kleinbauern und Arbeitern nahe Königsberg aufgewachsen. In Frankfurt am Main studierte Negt bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Soziologie und Philosophie. Er promotivierte bei Adorno und war 1962 bis 1970 Assistent bei Jürgen Habermas an der Universität in Heidelberg und Frankfurt am Main. 1970 wurde er auf einen Lehrstuhl für Soziologie der Technischen Universität Hannover berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 2002 lehrte.
Negt war ein gern gesehener und gehörter Referent in Österreich. Am Retzhof in der Südsteiermark wurde auch die Oskar-Negt-Akademie aus der Taufe gehoben, die sich in ihren Veranstaltungen vor allem der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Schlüsselkompetenzen von Oskar Negt widmete.3
Mit Oskar Negt verliert die Erwachsenenbildung einen bedeutenden Intellektuellen, der kritisches Denken immer verstand als die Bereitschaft, offen und an die Wurzeln gehend Aufgabenstellungen und Herausforderungen anzugehen. Ganz im Sinne der Aufklärung: Habe „Mut, dich deines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Denn hier handelt es sich um einen „Akt der Herstellung von Würde des Menschen, das heißt eines Zustandes, in dem so etwas wie eine Persönlichkeitsbildung überhaupt stattfinden kann.“ Und das ist „im Großen der Zielinhalt nicht nur der politischen Bildung, sondern der Bildung überhaupt. (Negt 2011, S. 16). //
Gerhard Bisovsky
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