„Die konventionellen Bildungseinrichtungen geraten gewaltig unter Druck (…) sobald Big Data zuschlägt, müssen sie einiges anders machen (…) Keine traditionelle Bildungseinrichtung bleibt verschont“. (S. 49 f). So dramatisch urteilen zwei Big Data Experten: Viktor Mayer-Schönberg, Professor am Oxford Internet Institute, und Kenneth Cuckier, Daten-Editor bei „The Economist“. Sie begründen die künftigen Veränderungen im Bildungswesen: Bildungseinrichtungen von morgen werden auf der Basis digitalen Unterrichts zu Produktionsstätten von Daten – diese Daten, z. B. über die individuelle Lerngeschwindigkeit, die Wahl von Lernwegen, die Erfolge oder Rückschläge beim Lernen, an die früher nicht heranzukommen war, werden nun erzeugt, getrennt verarbeitet und genutzt. Den Zweck erklären die Autoren (S. 45): „Wir verwandeln Schulen und Schulbücher in Datenplattformen, um das Lernen zu verbessern.“
Die schmale, kleinformatige, knapp neunzig Seiten umfassende Lektüre beschreibt eine Zukunft, in die wir bereits eingetreten sind. Blended Learning, E-Learning, Moodle-Plattform, Nutzung des Internets für Vorlesungen gehören zum Alltag von Lernenden in Bildungsinstitutionen. Das Verwerten der dabei entstehenden Daten – Big Data bringt die Größenordnung zum Ausdruck – soll analog zum Verkehr, Konsum von Lebensmitteln, Freizeitverhalten oder in der Medizin auf dem Sektor „Bildung und Lernen“ die individuellen Bedürfnisse hervorheben.
Der Trend zu Big Data im Bildungsbereich beruht auf zwei Entwicklungen:
- die Verbindung von Technik und Lernen,
- die Geldmenge, die mit Bildung verbunden ist und in Bildung investiert wird.
Letzteres führte – besonders in den USA – bereits zu vielen Gründungen von Firmen, die vom Bildungsboom profitieren wollen.
So entstehen neue Unternehmen, die den traditionellen Bildungsmarkt in Bewegung bringen. Stundeneinteilung, Schuljahr, Semester, Schulbücher werden in Frage gestellt. Big Data beantwortet nicht allgemein, wie Menschen am besten lernen, sondern speziell: Wie lernt welcher Mensch am besten!
Mit Big Data, erläutern die Autoren, lassen sich drei Aspekte deutlicher erkennen, die das Lernen verbessern können:
Feedback: gegenwärtig widerspiegeln punktuelle Noten die Leistungen von Schülerinnen und Schülern. Diese „Small Data“ geben keine Auskunft über die Qualität von Lehrenden, Schulbüchern oder Tests – dieses Feedback bezieht sich nur auf Resultate, nicht auf den Prozess des Lernens. Big Data, abgerufen von einem Lehrbuch, das auf Tablet oder Computer gelesen wird, gibt Auskunft, wie schnell Gelesenes wieder vergessen wird oder wann Wiederholungen anzubieten sind. Da die Informationen auch in Echtzeit analysiert und alternative Lernmaterialien den Bedürfnissen des Lernenden entsprechend angeboten werden, entstehen unter dem Fachbegriff „adaptives Lernen“ neue personalisierte Lernkontexte.
Individualisierung: Unterrichtsinhalte sind zur Zeit standardisierte und konfektionierte Massenfertigung, die sich an durchschnittlichen Schülerinnen und Schülern, die es gar nicht gibt, ausrichten, kritisieren die Autoren. Big Data, so meinen sie, ermöglicht maßgeschneidertes, an den jeweiligen Vorlieben, Lernumfeldern und Fähigkeiten orientiertes Vermitteln von Wissen. Entstehen soll ein Unterrichtssystem, das nicht mehr an den Interessen der Lehrenden, sondern an den individuellen Bedürfnissen der Lernenden ausgerichtet ist.
Wahrscheinlichkeiten: Big Data garantiert keine Gewissheiten, sondern Wahrscheinlichkeiten, ist aber noch immer dem „herkömmlichen Einheitsunterricht“ überlegen. Die Autoren empfehlen Umdenken: Wir wissen nicht warum etwas, sondern dass etwas geschieht und können darauf unsere Entscheidungen aufbauen. Die Autoren fordern, nicht auf ohnedies allzu seltene Kausalzusammenhänge, sondern auf Korrelationen zu vertrauen.
Big Data setzt voraus, Bildungseinrichtungen, Kurse, Lehrbücher und Lektionen als Plattformen einzurichten, durch die „Daten gesammelt, analysiert und in bessere Erziehung umgemünzt werden können“ (S. 42). Ein Beispiel ist die „Khan-Akademie“, ursprünglich aus einer Anleitung zum Erlernen von Mathematik entstanden, umfasst sie heute 50.000 Videolektionen von Mathematik bis Kunstgeschichte, mit etwa vier Millionen Übungen pro Tag und etwa 50 Millionen Usern seit dem Zeitpunkt ihrer Gründung im Jahre 2004. Big Data können davon abgerufen werden. Die „Khan-Akademie“, schreiben die Autoren, gehört zu den neuen „mächtigen elektronischen Plattformen“, die anstelle bisheriger kleiner Bildungseinrichtungen treten.
In einem eigenen Kapitel werden negative Folgen von Big Data erörtert: z. B. wenn die persönlichen Daten der Bildungswege erhalten bleiben und Einsicht in die unterschiedlichen Leistungen, verbunden mit Umwegen, Fehlschlägen oder Versagen geben. Die Autoren kennen kein Allheilmittel gegen Missbrauch – es sei denn vollständiges Löschen von Daten – und meinen, es liegt an uns, abzuwägen und zu entscheiden, wie weit wir für die Optimierung des Lernens durch Big Data gehen und wie weit wir durch Informationen über unsere Vergangenheit unsere individuelle Zukunft fortschreiben lassen.
Die Publikation verströmt US-amerikanischen Unternehmergeist und die Hoffnung auf finanziellen Profit durch technologische Innovation. Die damit einhergehende Industrialisierung von Bildungsangeboten ist schon in Gang gekommen – Bildung und Lernen werden als Güter und Waren auf dem Markt be- und gehandelt. Diesem mächtigen Marktgeschehen können wir uns nicht entziehen.
Das bisherige Bildungsdenken steht vor einem Meer an neuen Möglichkeiten. Wie werden wir es befahren? Das kleine Buch kann als Warnung vor einem naiven Aufbruch ins Ungewisse gelesen werden. Wer die Flut der Daten nutzt, wer von ihnen profitiert sowie wer damit Individuen dirigiert und kontrolliert, sollte im Bildungsbereich dringend diskutiert werden. //
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