Ausgangssituation
Demokratische Institutionen erfahren in vielen Ländern heftigen Gegenwind und stehen vor schwierigen Herausforderungen. Die Kluft zwischen den politischen Verantwortlichen und der Wählerschaft ist größer geworden. Die allgemeine Unterstützung und Legitimationskraft parlamentarischer Institutionen ist geringer denn je und auch die Zahl aktiver Parteimitglieder befindet sich seit Jahrzehnten im Sinken.
Auch wenn in Österreich im europäischen Vergleich nach wie vor noch eine hohe Akzeptanz der Demokratie als Regierungsform besteht, nimmt auch bei uns die Politikdistanz der Bevölkerung zu. Das Bewusstsein für die Bedeutung von demokratischen Entscheidungsprozessen sinkt ebenso wie das Vertrauen in die Institutionen des Staates und das politische System als solches.
Diese Herausforderungen können nicht allein mit den üblichen parlamentarischen Mitteln beantwortet werden, aber auch die direkte Demokratie ist aufgrund ihrer Neigung zur Polarisierung nicht unumstritten. 1969 wollte Willy Brandt „mehr Demokratie wagen“ und Bruno Kreisky prägte in den 1970er-Jahren das Motto „Alle Lebensbereiche mit Demokratie durchfluten“. 50 Jahre danach braucht es eine zeitgemäße Erneuerung eines solchen breiten Demokratieverständnisses. Dies kann nur gelingen, wenn die Bürger*innen, aber auch Parteien und Parlamente die Weichen für eine vielfältigere Demokratie stellen. Die Chancen für eine demokratische Vertiefung und Erweiterung der repräsentativen Demokratie stehen jedoch nicht schlecht. Die Bevölkerung will mehr Mitsprache und Bürgerbeteiligung bei wichtigen politischen Themen.
Erreichen lässt sich eine solche „demokratische Vertiefung und Erweiterung“ etwa durch ein produktives Zusammenspiel von drei verschiedenen Formen demokratischer Beteiligung:
- der repräsentativen Demokratie (Wahlen/ Parlamente; mit einer Abstimmung über Repräsentant*innen mittels Wahlen; Ergebnisse verbindlich),
- der direkten Demokratie (Volks- und Bürgerentscheide; mit einer Abstimmung über Sachfragen; Ergebnisse verbindlich),
- der sogenannten deliberativen Demokratie (verschiedene Formate etwa auf kommunaler Ebene; mit einer Konsultation/Mitwirkung von Bürger*innen; Ergebnisse nicht verbindlich).
Zielsetzungen:
Anknüpfend an die Tradition der Burgenländischen Volkshochschulen, wo Angebote zur Politischen Bildung schon seit der Gründung einen wichtigen Stellenwert haben, war es selbstverständlich, auch bei der Demokratieoffensive des Landes Burgenland mitzumachen. Mittels verschiedener Veranstaltungen wollten und wollen wir auf drei Ebenen (Landesebene, regionale Ebene, kommunale Ebene) die Bedeutung der Demokratie und verschiedene Formen der demokratischen Beteiligung den Menschen näher bringen und diskutieren.
Dabei geht es um Sachinformation und Wissensvermittlung, aber auch um Reflexion und den Diskurs über die Demokratieentwicklung in Österreich und die Bedeutung der Demokratie. Themenstellungen sind die verschiedenen Akteur*innen in unserem politischen System und die unterschiedlichen Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung, von Wahlen über direkte Demokratie bis hin zu den neuen Formen der sogenannten deliberativen Demokratie.
Einen besonderen Schwerpunkt bildet vor allem die kommunale Ebene, wo wir mittels Informationsveranstaltungen in den Gemeinden unter dem Motto „#mitreden – Demokratie erleben“ der Bevölkerung innovative Formen der demokratischen Beteiligung näher bringen wollen, mit dem Ziel, Impulsgeber für weitere demokratische Beteiligungsprozesse zu sein.
Inhalte
Landesebene – Themenführungen mit zwei Schwerpunkten:
Für ein besseres Demokratieverständnis der Bevölkerung ist es erforderlich, über das parlamentarische System und Tätigkeit der einzelnen Akteur*innen der Legislative und Exekutive zu informieren. Dazu wurden zwei Themenführungen zu Geschichte des Landhauses in Eisenstadt und zur Arbeit des Burgenländischen Landtages konzipiert.
> Landhaus Eisenstadt. Geschichte(n) eines Hauses
Hier sollen den Besucher*innen und Teilnehmer*innen die geschichtliche Entwicklung des Burgenlandes und des Landhauses als Sitz der Landesregierung, der Landesregierung, des Landtages und der Landesverwaltung – beginnend von den Jahren 1919 und 1921 sowie die Brüche in den Jahren 1933/34 und 1938 bis hin zur Wiederentstehung nach 1945 – mit einem Rundgang durch das Gebäude nähergebracht werden.
Begleitend zu dieser Themenführung wurde auch eine eigene Broschüre erarbeitet, die Interessierten zur Verfügung gestellt wird.
> Der Burgenländische Landtag. Schauplatz Parlamentarismus
Bei dieser Themenführung steht der Landtag als ein „Schauplatz“ des Parlamentarismus im Mittelpunkt, in dem über die Aufgaben und Rolle des Burgenländischen Landtages, der Burgenländischen Landesregierung und der Landesverwaltung informiert wird. Beim Besuch des Landtagssitzungssaales gibt es auch Gesprächsmöglichkeiten mit politischen Repräsentant*innen für mehr Hintergrundinformationen und Einblicke in die praktische politische Arbeit.
Regionale Ebene – Themenabende zu verschiedenen Inhalten:
Zusätzlich zu den Themenführungen für einen vermehrten Einblick in die Landespolitik werden in den einzelnen Regionen des Burgenlandes Themenabende zu verschiedenen politischen Inhalten angeboten, bei denen das Interesse an Politik und den politischen Prozessen geweckt, aber auch weiteres Grundlagenwissen über das politische System in Österreich und auf europäischer Ebene vermittelt werden sollen. Hier geht es um die Möglichkeit zur Reflexion und zum Diskurs über die Bedeutung der Demokratie für unsere Gesellschaft bis hin zu den Auswirkungen auf das Leben jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin.
In Form von Themenabenden möchten wir auf die Merkmale und Werte der Demokratie, aber auch auf die Gefahren und Feinde der Demokratie hinweisen und aufmerksam machen.
Die Inhalte umfassen unter anderem die Demokratiegeschichte Österreichs, die Verfassung und Grundrechte in Österreich, das politische Handeln auf nationaler und europäischer Ebene, die Bedeutung von Wahlen und außerparlamentarischen Formen der Mitbestimmung bis hin zur Kontrolle des politischen Systems und Fragen der Radikalisierung unserer Gesellschaft.
Als eine Möglichkeit zum orts- und zeitunabhängigen Online-Lernen verweisen wir auch auf den Demokratie-Mooc des Verbandes der Österreichischen Volkshochschulen.
Kommunale Ebene – Informationsveranstaltung „Politische Bildung konkret“:
Nachdem es vielen Bürger*innen längst nicht mehr reicht, lediglich alle paar Jahre wählen zu gehen, haben wir als Teil der Demokratieoffensive „mitreden“ des Burgenländischen Landtages und der Burgenländischen Landesregierung in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule ein Veranstaltungsformat entwickelt, bei dem wir uns an die Gemeinden des Burgenlandes wenden.
Gerade auf kommunaler Ebene gibt es viele Möglichkeiten, die Gemeindebürger*innen in den demokratischen Prozess stärker einzubeziehen.
Mitreden, Mitmachen und bei manchen kommunalen Fragen – ganz direktdemokratisch –, auch das Mitentscheiden sind wesentlich für eine lebendige Demokratie. Was aber sind die Unterschiede zwischen direkter und partizipativ-deliberativer Demokratie? Wie kann Bürgerbeteiligung die Kommunalpolitik dialogisch ergänzen? Was hat es mit den neuen „Bürgerräten“ auf sich?
Bei der Informationsveranstaltung „>Politische Bildung konkret. Mitreden – mitmachen – mitentscheiden“ stellt die Demokratieberaterin und Politikwissenschaftlerin Dr.in Tamara Ehs anhand von Praxisbeispielen verschiedene Modelle zur Mitsprache und Bürgerbeteiligung vor.
#mitreden – Demokratie erleben:
Das VHS-Projekt „#mitreden – Demokratie erleben“ ist auf der kommunalen Ebene angesiedelt. Demokratie beginnt in der Gemeinde. Dort sind wir verankert, dort können wir leicht ins Gespräch kommen und niederschwellig politisch tätig werden.
Mehr Beteiligung vermag hier vieles: die Identifikation der Einwohner*innen mit der Gemeinde zu stärken, das Bewusstsein für das kommunale Miteinander zu unterstützen und das Interesse an politischen Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen zu fördern. Nicht zuletzt verbessert sie die Demokratiequalität und damit die Demokratiezufriedenheit. Doch es bedarf größerer Anstrengung, jene in den politischen Dialog zu holen, die nicht bereits von selbst Aktivbürger*innen sind. Dies kann durch innovative Beteiligungsformen geleistet werden.
In der Folge findet sich ein Überblick zu Mechanismen für mehr Beteiligung in einer Gemeinde, wie sie in der Broschüre „Bürgerbeteiligung. Rahmenbedingungen und Praxisbeispiele“ (2022) näher und mit sämtlichen Quellenangaben erörtert werden. Im Mittelpunkt der Publikation und der darauf basierenden Vorträge von Tamara Ehs steht die Vorstellung von Beispielen guter Praxis, wie sie in anderen Staaten, Regionen und Gemeinden bereits erfolgreich umgesetzt werden. Bei diesen neuen Beteiligungsformaten geht es nicht um die Etablierung einer Volksgesetzgebung durch die Hintertüre, sondern um die Stärkung der repräsentativen Demokratie durch vermehrte Partizipation und erhöhte Deliberation, die alle sozialen Lagen miteinbezieht und sie somit in der politischen Entscheidungsfindung besser abbildet.
Praxisbeispiele für mehr und bessere Beteiligung
> Bürgerrat
Weltweit ist eine Beteiligungsform ganz besonders auf dem Vormarsch: eine beratende Bürgerversammlung, deren Mitglieder auf der Grundlage des Losverfahrens einberufen werden. Sie bringt Menschen in den politischen Prozess, die nicht von selbst Aktivbürger*innen sind, und bietet eine nicht-populistische Möglichkeit zur Partizipation an.
In Österreich hat Vorarlberg, wo seit 2006 Bürgerräte durchgeführt werden, eine Vorreiterposition inne. Nach dem Zufallsprinzip werden aus dem Melderegister Bewohner*innen einer Gemeinde oder der gesamten Region ausgewählt, um an eineinhalb Tagen miteinander ein politisches Problem zu erörtern und Lösungen aufzuzeigen. Um die Vorarlberger Gesellschaft in ihrer Diversität abzubilden, werden die Kriterien Alter, Geschlecht und regionale Verteilung in der Zufallsauswahl berücksichtigt. Aufgrund der Auswahl per Los handelt es sich bei den Teilnehmer*innen um Menschen mit Alltagswissen, die über keinerlei spezielle Expertise oder Qualifikationen verfügen. Insbesondere vertreten sie keine Interessengruppen oder Parteien, sondern ihre persönliche Meinung zum Gemeinwohl. Mittels dieser Teilnehmer*innenauswahl sollen Sichtweisen von Personen Eingang in die politischen Entscheidungsprozesse finden, die sonst ungehört geblieben wären.
Der Bürgerrat trifft keine Entscheidungen, sondern spricht Empfehlungen aus. Er ist rechtlich unverbindlich und dient der Entscheidungsvorbereitung. Bürgerräte entfalten ihre Wirkung jedoch vorrangig auf einer anderen Ebene, nämlich auf der demokratischen: Durch die Zufallsauswahl bringen sie Menschen (zurück) in den politischen Prozess, die sonst vielleicht nicht einmal an Wahlen teilnehmen.
> Jugendrat
Bürgerräte sind auch für die Jugendbeteiligung geeignet. Die Ausgangslage für die politische Einbindung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist jedoch ungleich schwieriger; ihre Partizipation ist im Vergleich mit anderen Altersstufen unterdurchschnittlich, obgleich sie politisch höchst interessiert sind, wie etliche Jugendstudien belegen.
Der Europarat führt in seinem „Handbuch zur Beteiligung der Jugend am Leben der Gemeinde und Region“ (2015) Jugendräte als besonders geeignete Instrumente an, um junge Menschen für Politik zu interessieren. Er spricht sich für deren Institutionalisierung aus und plädiert dafür, Jugendlichen mehr Verantwortung für politische Projekte zu übertragen. Hinsichtlich der soziologischen Zusammensetzung empfiehlt der Europarat, dass Jugendräte die Bevölkerung widerspiegeln, also per qualifiziertem Losverfahren eingeladen werden.
> Bürgerkomitee
Im selben Ausmaß wie für die indirekte Demokratie können Bürgerversammlungen für die direkte Demokratie als Ergänzung und Korrektiv herangezogen werden. Der schweizerische Kanton Wallis experimentiert mit einer nicht-populistischen direkten Demokratie, indem er den Abstimmungen ein Bürgerkomitee voranstellt. Dieses Komitee basiert strukturell auf denselben Prinzipien wie ein Bürgerrat: Per Losverfahren wird eine Gruppe von 24 Stimmberechtigten ermittelt, die fünf Tage lang mithilfe von Expert*innen den zur Abstimmung stehenden Gesetzestext berät. Abschließend verfasst das Bürgerkomitee eine Erklärung, die im Abstimmungsbüchlein festgehalten und allen Wahlberechtigten zugestellt wird. Der Vorschlag ist nicht bindend, dient den Wähler*innen aber als Anhaltspunkt bei der Entscheidungsfindung.
> Bürgerhaushalt
Bürgerhaushalt (oder: partizipatives Budget) bedeutet, dass die Bewohner*innen einer Gemeinde auf das Budget beziehungsweise dessen Verteilung Einfluss nehmen. Vorbedingung für dieses Instrument ist, den Haushalt für alle verständlich darzustellen. Es muss klar sein, wie viel Geld zur Verfügung steht, wie der Prozess abläuft und nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgt. Weiters muss es einen Rechenschaftsbericht über die Umsetzung geben, in dem auch begründet wird, warum welche Projekte keine Realisierung fanden. Nur so können Bürger*innen das Gefühl entwickeln, dass sie in ihrem Umfeld wirklich etwas verändern können.
Oft werden Bürgerhaushalte genutzt, um (kontroverse) Einsparpotenziale frühzeitig mit den Bürger*innen gemeinsam zu erörtern. In den meisten bislang durchgeführten Verfahren wurde ein bestimmter Betrag zur Verfügung gestellt, über den autonom bestimmt werden kann. Hierfür reichen Bürger*innen (über eine Onlineplattform oder persönlich beziehungsweise per Briefkasten am Amt) Projektvorschläge ein, über die dann abgestimmt wird.
Die Teilhabe von Bürger*innen am Haushalt eines Bezirks oder einer Gemeinde stärkt die Identifikation mit dem Ort. Hier kann man seine Idee direkt umgesetzt sehen und erfahren, dass politisches Engagement Wirkung zeigt. Hinzu kommt die edukative Funktion, die für viele Bürger*innen erstmalig eine Auseinandersetzung mit der Verteilung öffentlicher Geld ermöglicht: Wofür ist die Gemeinde eigentlich zuständig? Wie viel Geld wird wofür ausgegeben? Durch die Transparenz, die das Budget im partizipativen Prozess erhält, wird schließlich das Vertrauen in die Gemeindepolitik und den sorgsamen Umgang mit Steuergeld gefördert.
> Bürgerantrag
Während die oben aufgelisteten Innovationen umfangreiche Gestaltung voraussetzen, gibt es allerdings auch Möglichkeiten, die bestehenden Instrumente der Gemeindeordnung beteiligungsfreundlich zu interpretieren. Die politische Praxis bleibt in dieser Frage bislang hinter dem rechtlichen Spielraum zurück. Einfallsreich ist zum Beispiel der „Bürgerantrag“: In Altmünster am Traunsee haben Gemeindevertreter*innen das Instrument des Bürgerantrags erfunden, indem sie den § 46 Abs. 2 der oberösterreichischen Gemeindeordnung (Aufnahme eines Tagesordnungspunktes in die Gemeinderatssitzung) innovativ auslegen: Mit 25 Unterschriften kann man an eine/n Gemeinderat*in herantreten, der/die daraufhin diesen Tagesordnungspunkt einbringt und damit dem Anliegen im Gemeinderat Gehör verschafft.
Dies ist ein gelungener Versuch, im repräsentativen System ohne großen Aufwand und ohne Änderung der Rechtsordnung mehr Partizipation herzustellen. Hierbei treten Gemeinderat*innen nicht als Vertreter*innen der Parteiendemokratie auf, sondern bieten sich gleichsam als organisatorische Plattform an beziehungsweise stellen ihre politische Infrastruktur den Bürger*innen zur Verfügung. Damit ist das überparteiliche Zusammenwirken von gewählten Repräsentant*innen und Bürger*innen, wie es die partizipativ-deliberative Demokratie ausmacht, beispielhaft verwirklicht. //
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