Es war im Jahr 1998, im Grunde wenige Monate nach meinem Dienstbeginn beim Verband Österreichischer Volkshochschulen (VÖV), da bekam der VÖV die Einladung, an der Reihe/Werkstatt Gemeinwesenarbeit mitzuarbeiten, zusätzlich zur Werkstatt Arbeiter*innenbildung, die beide am Bundesinstitut für Erwachsenenbildung geplant wurden und ebendort stattfanden. Und ich erinnere mich noch gut an die Einschätzung des damaligen Generalsekretärs Wilhelm Filla, der im Grunde meinte, die GWA sei bezogen auf ihre Gründungsgeschichte das konservative Gegenstück zur Werkstatt Arbeiter*innenbildung. Damit hatte er theoretisch recht, die Praxis der GWA in Strobl sollte uns aber überraschen. Gründungsgeschichte hin oder her, es gibt wenige Werkstätten, die mich derart und immer wieder durch ihren Lebensbezug, ihre Buntheit, Heterogenität und Innovativität überraschen, bis heute.
Die Werkstatt Gemeinwesenarbeit am Bundesinstitut für Erwachsenenbildung (BIFEB)
Die Werkstätte Gemeinwesenarbeit (GWA) am BIFEB existiert bereits seit mehr als 45 Jahren: Der Ring Österreichischer Bildungswerke brachte die gemeindebezogene Erwachsenenbildung (EB) am BIFEB ein.
Abb. 1: Werkstatt GWA 2024, im Vordergrund von links Nikolaus Ecker und Barbara Brunmair (Ruth Maier Projekt) sowie Ondrej Lastovka, 2024 Koordinator der GWA am BIFEB
Foto: Stefan Vater
Ab 1979 etablierte sich die GWA in jährlichen Tagungen mit über 200 Projekten als Impulsgeberin des bildungs-, sozial- und kulturpolitischen Handelns in der gesellschaftskritischen Praxis der Erwachsenenbildung – und sie war nicht von Beginn an Freire und anderen emanzipatorischen Traditionen orientiert. So war die GWA in der Erwachsenenbildung etwa Pionierin bei der Einführung aktivierender Methoden wie Zukunftswerkstätten.1 Die GWA versteht sich als freie Arbeit am Gemeinwesen, auch im Verständnis einer „befreienden Praxis“ im Sinne Paolo Freires. Hauptziel ist dabei, Probleme von Bürger*innen oder Minderheiten in Gemeinden oder Stadtteilen als gesellschaftliche Probleme zu erkennen, zu analysieren und zu lösen. Handlungsanleitend sind hierfür solidarische und demokratische Grundwerte sowie Bildung im Gemeinwesen. Genannt werden – bezogen auf die Reihe/Werkstatt GWA am BIFEB – sollten Hannelore Blaschek (Institut für Erwachsenenbildung), August Pöhn (BIFEB), Ernst Gattol (BIFEB) aber auch Christian Kloyber (BIFEB) und Wolfgang Kellner (Ring) als Gründer und langjähriger Impulsgeber.
2021 konstituierte sich die GWA-Steuerungsgruppe neu und besteht heute aus acht Vertreter*innen von EB-Organisationen und einem Vertreter der Sozialen Arbeit: Genoveva Brandstetter (Ring Österreichischer Bildungswerke), Stefan Vater (Verband Österreichischer Volkshochschulen), Gerda Daniel (Arge-Region Kultur), Rahel Baumgartner (Österreichische Gesellschaft für Politische Bildung), Christoph Stoik (FH Campus Wien, Soziale Arbeit), Simon Andreas Güntner (TU Wien, Raumsoziologie), Karl Hochradl (BIFEB).
Was ist Gemeinwesenarbeit? Und was ist gemeinwesenorientierte Erwachsenenbildung?
Gemeinwesenarbeit (GWA) ist ein Konzept und eine Praxis, die darauf abzielt, Menschen bei der selbstbestimmten Artikulation und Organisation ihrer Bedarfslagen, Interessen und der
Verbesserung ihrer Lebenssituation zu unterstützen.i Gemeinwesenarbeit vernetzt Menschen, die ihren Lebensraum, ihr Leben gestalten wollen und erzeugt ein Bewusstsein des Gestalten-Könnens. Sie macht Menschen – idealtypisch formuliert – zu politischen Menschen im philosophischen Sinne des Wortes Politik. Ich spreche von einer emanzipatorischen Idealversion von Gemeinwesenarbeit. Bezugspunkt ist der politische Lebensraum, das Gemeinwesen.
Abb. 2: Mentimeter (Applikation, die eine Sammlung von Stichworten ermöglicht) unter den Teilnehmer*innen der GWA 2024
Foto: Stefan Vater
Bekannt ist diese Tradition aus der Sozialen Arbeit, aber auch in der Erwachsenenbildung findet sich eine Traditionslinie gemeinwesenbezogener Erwachsenenbildung. Was im Grunde nicht erstaunt: Der Zugang der Gemeinwesenarbeit erfolgt lokal, ausgehend vom Stadtteil, Bezirk, Dorf oder Quartier und der konkreten Lebenssituation. Gemeinwesenarbeit betont – ob in Sozialer Arbeit oder Erwachsenenbildung – Partizipation, die Förderung von Selbstbestimmung und Empowerment der Individuen und Gemeinschaften, sowie selbstbestimmte, soziale Integration.
Es geht also um eine Förderung von Teilhabe und Mitbestimmung – Teilhabe im Sinne der Individuen, nach Klärung ihrer Interessen. Es geht nicht um das Vorschreiben einer Partizipationspflicht und das Unterstellen eines etwaigen Versäumnisses, der sich nicht Beteiligenden. Und es geht um Mitbestimmung, nicht um Beratung, wie z. B. in Bürger*innenräten. Es geht darum, Menschen zu ermöglichen, gesellschaftliche Prozesse als gestaltbar zu betrachten und zu gestalten oder mitzugestalten. Historisch etwas verkürzt dargestellt entstanden die Volkshochschulen ja vor dem Hintergrund der Wahlrechtsbewegung des 19. Jahrhunderts, sie könnten also auch als erste Initiativen im Bereich Gemeinwesen verstanden werden. Es ging und geht um Empowerment, das mehr bedeutet als bloß Herstellung von Employability. In der Gemeinwesenarbeit werden durch die Förderung von Selbstorganisation und Selbsthilfe das Selbstbewusstsein, die Handlungsmacht und die Selbstwirksamkeit der Menschen gestärkt. Diese Involvierung und dieses Engagement tragen dazu bei, dass Menschen neue Kompetenzen und neues Wissen schaffen und aktualisieren, und Bildung ganz neu erleben: nicht von außen verordnet, sinnlos und lebensfremd. Es geht um Praxen, die es Menschen ermöglichen, ihre Lebenssituation zu erkennen und zu verbessern und aktiv an der Gestaltung ihrer Gemeinschaft teilzunehmen oder zu erkennen, wer und was dieser Verbesserung im Wege steht. Bildung wird hier kontextbezogen als nah und lokal verstanden, und als nützlich (nicht im engen, beruflichen Sinne, nicht im Sinne von für andere nützlich werden). Bildung ist Teil von Prozessen, wie den oben beschriebenen. Bildungseinrichtungen oder soziale Träger entstehen in solchen Prozessen oder können diesen Prozess begleiten oder hierbei speziell auf die Bedürfnisse der jeweiligen Gemeinschaft abgestimmte Kurse und Programme anbieten. Besonders in sozial benachteiligten oder marginalisierten Gemeinschaften können Lernprozesse wie diese eine besondere Rolle spielen. Prozesse, in denen Bildung, anders als in der Schule, erlebbar wird. So werden Partizipation ermöglicht und Barrieren nivelliert, und es entsteht damit die Chance auf soziale und berufliche Integration. Insofern ermöglicht Gemeinwesenarbeit eine selbstbestimmte Integration und Inklusion, sie schafft Kultur (Williams: 1958). So kann Partizipation real werden. sodass Bildung nicht als leere Parole des Schuldirektors, Lehrmeisters oder anderer Besserwisser verhallt oder (miß-)verstanden wird.
Prinzipien der Gemeinwesenarbeit (GWA) & gemeinwesenorientierter Erwachsenenbildung
Auch wenn der Begriff GWA nicht besonders modern klingt und auch lange Jahre als verstaubt und ländlich-provinziell angesehen wurde, die Prinzipien, denen GWA-orientiertes Tun und GWA-orientierte Praxis folgen, sind heute moderner denn je:
Praxis im Fokus: Ein Grundprinzip der Werkstatt GWA war und ist die Fundierung im Lokalen, in der Praxis, der Bezug zum verändernden oder bewahrenden Tun (z. B. im Widerstand gegen Bau- oder Kraftwerksprojekte) und der Selbstvergewisserung in diesen Prozessen, sowie der Lebensbezug der Bildungsaktivitäten. Dies erinnert nicht zufällig an John Dewey und seine Ideen des Lernens im Alltag, besonders des Demokratielernens im Alltag und an der gelebten Praxis. Ähnliches findet sich auch bei Ludo Moritz Hartmann dem Historiker, Bildungsreformer und Doyen der Wiener Volkshochschulen,2 beispielsweise in seinen Ausführungen zum Zusammenhang von Volksbildung und Demokratie (vgl. Hartmann: 1919). Ein Beispiel für diese Praxisorientierung ist der Einsatz von universitären Inputs bei der Werkstatt GWA, deren Ziel es nicht ist, die Praxis zu erklären, sondern – nach dem Kennenlernen und intensiven Diskutieren von Projekten – Anstöße zur Reflexion für Praktiker*innen zu geben.
Teilnehmer*innenorientierung: Ausgangspunkt der GWA sind Menschen als Wesen mit Geschlecht, Netzwerken, lokalem Bezug und mit Interessen, die es ernstzunehmen und für die es Möglichkeiten zu schaffen gilt, in einem politischen Raum artikuliert zu werden. Menschen werden als unterschiedlich und divers, und Gemeinschaften als heterogen verstanden. Gerade aus dieser Heterogenität und Vielfalt entstehen die Stärke und Lebendigkeit der Projekte im Raum des Gemeinwesens.
Heterogenität und Unterschiedlichkeit als Stärke: Gemeinwesenarbeit wie Erwachsenenbildung sind vielfältig, das macht beide aus, und das ist den Teilnehmenden nicht nur Hindernis, sie schätzen es (vgl. Vater: 2022b). Gerade die Vielfältigkeit der Zugänge und der Voraussetzungen ermöglichen die Innovationskraft und die demokratiepolitische Relevanz.
„Eine profitorientierte Wirtschaft benötigt an den Rand gedrängte Menschen als Arbeitskraftreserve und kommt deswegen nicht ohne die institutionalisierte Abwertung von Verschiedenheit aus. Als Teil dieses Wirtschaftssystems sind wir alle darauf programmiert, auf Unterschiede zwischen Menschen mit Furcht und Abscheu zu reagieren […]“ (Lorde: 2021, S. 131).ii
Standpunktbezug und Veränderungsanspruch: GWA vertritt die Interessen der Menschen mit Bezug zu ihrem Wohnort, ihren Interessen; mehr noch unterstützt sie die demokratische Organisation derselben oder ist ein Ausdruck dieser Organisation. Dieser Standpunktbezug ist verbunden mit einer gemeinschaftlichen Expertise über notwendige Veränderungen, die Autonomie und gutes Leben zum Ziel haben – ein Leben, das durch die Menschen selbst gestaltet wird. GWA beschreibt einen Prozess dahin, Bildung eine Methode. „[…] als Pädagoge ist es unmöglich, neutral zu sein“ (Freire: 1979b, S. 108) jede Behauptung einer Objektivität und Standpunktlosigkeit bedeutet real meist eine Naturalisierung der eigenen Position und den Ausschluss anderer. Sie bedeutet auch eine Reflexionslosigkeit.
Engagement und Freiwilligkeit: GWA fördert und lebt durch Engagement, Freiwilligkeit und Ehrenamt. Sie postuliert Gestaltungsmacht der Menschen, eine situationssensible, flexible Kompetenz und Praxis auf Veränderung zu reagieren oder diese herbeizuführen.
Regional und weltoffen.
Volkshochschulen spielen und spielten eine wichtige Rolle in der Gemeinwesenarbeit, da sie nicht nur als Bildungs- sondern auch als Begegnungsstätten fungieren – sie erzeugen offenen Sozialraum (diese zeigte die BeLL-Studie, vgl. Vater: 2022a). Sie bieten nicht nur eine Vielzahl von Kursen und Workshops an, die auf die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung zugeschnitten sind, sondern fördern auch den sozialen Zusammenhalt und die Integration innerhalb der Gemeinschaft. Durch ihre Angebote unterstützen sie die persönliche und berufliche Entwicklung der Teilnehmenden und tragen dazu bei, das Wissen und die Fähigkeiten der Bürger*innen zu erweitern. Zudem sind Volkshochschulen oft ein Ort, an dem Menschen unterschiedlicher Herkunft und Altersgruppen zusammenkommen, was den interkulturellen Austausch und durch die Heterogenität der Teilnehmer*innen weltoffenes Gemeinschaftsgefühl stärkt. In diesem Sinne sind sie ein wichtiger Akteur in der Förderung von Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit in der Gesellschaft.
Abb. 3: Teilnehmer*innen der GWA 2024
Foto: Stefan Vater.
Im Rahmen der Werkstatt GWA waren früh die „Aktion Lerchenfeld“ der VHS Krems (1982) vertreten, die Medienwerkstatt der VHS Linz und Bürgerbeteiligungsmodelle der VHS Linz, weiters die Planungszelle der VHS Wien (1998, Manfred Schindler), das Bildungszentrum Saalfelden in Salzburg, die ÖGPB (Wilhelm Filla) und 2024 das Ruth Maier Projekt, um nur einige Beispiele zu nennen.
Aber es könnten auch viele weitere Initiativen und Projekte der Volkshochschulen genannt werden, die zu einer demokratischen und weltoffenen Gestaltung des Gemeinwesens beitragen: die „VHS young“ in Kärnten, die „Science Village Talks“ der Volkshochschulen im Burgenland, Kurse zu Nachhaltigkeit und Garten der VHS Tirol oder Kurse zu ökonomischem Wissen für Vereine in Vorarlberg und viele mehr! //
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