Andrian Kreye: Der Geist aus der Maschine. Eine superschnelle Menschheitsgeschichte des digitalen Universums.

Andrian Kreye: Der Geist aus der Maschine. Eine superschnelle Menschheitsgeschichte des digitalen Universums.
München: Heyne Verlag 2024, 368 Seiten.

Die Zukunft wird digital. In den letzten fünfunddreißig Jahren entstand ein „digitales Universum“, vor dem wir uns nicht zu ängstigen brauchen. Allerdings sollten wir die neuen Technologien – zuletzt die „Künstliche Intelligenz“ – vorsichtig und aufmerksam beobachten und prüfen, empfiehlt Andrian Kreye. Der langjährige Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung war Ende der 1980er Jahre Auslandskorrespondent in New York. Damals kam er mit den „Computermenschen“ in Kontakt. Bekannt wurde er mit den Pionieren der Digitalisierung durch Gespräche, Interviews und Konferenzen. Als Zeitzeuge beschreibt er in seinem Buch die rasante Entwicklung unserer digitalen Gesellschaft von der Vision bis zur Realität in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten. 

Für die Einteilung seiner kurzen Geschichte der Digitalisierung nimmt Andrian Kreye Anleihen an historischen Epochen. Die „digitale Antike“ verortet er Anfang der 1990er Jahre in San Francisco. Sogenannte Beatniks entwarfen ein erstes soziales Netzwerk im Netz. Begleitet von „Techno-Schamanen“, der Begeisterung für die „Psychedelik der Computer“, Hoffnung auf eine Weltgemeinschaft mit Weltwissen – bereit, einen „Weltgeist“ zu schaffen. Die „digitale Kultur“ wurde nicht als „technische, sondern [als] eine gesellschaftliche Fortschrittsbewegung mit einem Befreiungsmoment“ verstanden (S. 45). Eine digitale Spiritualität flutete das erste Networking, getragen von Professoren, Studenten, Hippies und Aktivisten. Die maskuline Diktion im Buch erklärt der Autor durch die Dominanz des männlichen Geschlechts im jungen Cyberspace.

1990 ging die erste Website der Welt in Betrieb. Mit ihr wurden mehrere dezentrale Einheiten des CERN (Europäische Organisation für Kernforschung) verbunden. Legistische Grundlagen für den Ausbau und die Finanzierung dieser neuen, schnellen Kommunikationsform wurden unter besonderem Engagement des damaligen Vizepräsidenten der USA, Al Gore, geschaffen. Mit dem Cyberspace entstand eine neue Kultur, die in einer 360°-Sphäre die Gedanken fließen lassen sollte. Das World Wide Web, meint Andrian Kreye, saugte den Rest der Welt in die digitale Welt. Waren Mitte der 1990er Jahre 90 Millionen Menschen im Netz, so waren es 2023 etwa fünf Milliarden. 

Andrian Kreye erinnert sich. Als er in den Anfangsjahren des Internets als Krisenreporter z. B. über den Drogenkrieg in Kolumbien berichtete, waren die damaligen Befürworter*innen der digitalen Welt euphorisch bezüglich Demokratie und sozialer Gleichheit gestimmt. Hoffnungsvolle Rollen wurden verteilt. Facebook galt als alle Menschen verbindender „Weltknoten“, Twitter sollte „grenzenlosen Meinungsaustausch“ garantieren und Wikipedia als „Fackelträgerin des Pioniergeistes einer neuen Form der Teilhabe und des kollektiven Willens in den Diensten des Allgemeinwohls“ (S. 91) fungieren.

In wissenschaftlicher Hinsicht wurde entgegen der These von den „Two Cultures“ (dem Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaft) eine „Third Culture“ propagiert. Vernetztes Denken und Interdisziplinarität betraten die wissenschaftliche Bühne. Das bisherige Selbstverständnis der Menschheit wurde in Frage gestellt. 

Doch zugleich erhoben sich warnende Stimmen: Der „Weltgeist“ sei nur ein „Schwarmgeist“, ein „Vorbote des Mobs“, der die „Unbarmherzigkeit der digitalen Massen“ zur Geltung bringe. Diese zunehmend negativen Entwicklungen enttäuschten die Erfinder, die von „zivilisiertem Diskurs“ und „intellektuellem Forum“ „träumten“. Hass und Hetze sowie Rechtsradikalismus fassten Fuß. Dies analysiert und beschreibt Andrian Kreye in weiteren Kapiteln ebenso wie den Aufstand der Massen im „Arabischen Frühling“.

Auch gibt der Autor – immer sachlich, nicht im Stil des Boulevards – Insiderwissen über Protagonisten wie Steve Jobs, Elon Musk, Jeff Bezos sowie über die Whistleblower Julian Assange oder Edward Snowden weiter. Beim Lesen wird bewusst, es handelt sich um unmittelbare Zeitgeschichte, für die sich noch gar kein treffender Begriff gefunden hat. Merke: Das erste iPhone, mit dem das Internet zum ständigen Begleiter werden konnte, wurde 2007 auf den Markt gebracht. 

Zur Aktualität gehört auch ein von Andrian Kreye registrierter „Techlash“ (eine Gegenreaktion). Verursachend ist: Die digitale Kultur führt, wie vielen Menschen bewusst wird, nicht zwangsläufig zu einer besseren Gesellschaft. 

In den abschließenden Kapiteln greift der Autor die aktuellen Innovationen durch den vermehrten Einsatz Künstlicher Intelligenz auf. Drei Schritte waren für ihn in der kurzen Geschichte des digitalen Universums wesentlich (S. 314):

– Das World Wide Web öffnet das Fenster zum digitalen Raum,

– das iPhone holt die digitale Welt aus dem Gehege der Computer, 

– mittels Künstlicher Intelligenz sollen Rechenmaschinen zu Wesen werden, die handeln und idealerweise den Menschen dienen.

In der kontrovers geführten Diskussion über Schaden und Nutzen, über Gefahren und Hilfe neuer Technologien nimmt Andrian Kreye eine positive Position ein. Er verweist auf eine aktuelle Gesetzgebung der Europäischen Union (Gesetz über digitale Dienste1), mit der sich Europa zum Zentrum eines digitalen Humanismus erklärt.

Künstliche Intelligenz, vermutet Andrian Kreye, wird die Rolle des Internets als globale Shoppingmail, als vernetzte Dauerkommunikation und als Tor zum Weltwissen noch mächtiger machen. Die bisherigen Erfahrungen mit den neuen Technologien sollten uns besonders wachsam machen sowie auf unsere Art der Teilhabe und unseren Gebrauch des Internets achten lassen.

Das Sachbuch ist sehr flüssig lesbar. Die differenzierten Kenntnisse des Autors bringen viele Spannungsmomente sowie viel Aufklärung über Vorgänge und Zusammenhänge im Cyberspace in den letzten drei Jahrzehnten mit sich. Sehr klar wird, dass wir – User*innen – ein Teil des Netzes sind und den digitalen Raum mitgestalten. 

Ein wichtiges Buch, das zeigt, wie uns die Welt lenkt und wie wir sie, bescheiden aber doch, mitbeeinflussen können. Es lädt ein, aufmerksam zu lesen, selbstbestimmt mitzudenken und überlegt zu handeln. //

1     Nachzulesen unter: https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/europe-fit-digital-age/digital-services-act_de

Lenz, Werner (2024): Andrian Kreye: Der Geist aus der Maschine. Eine superschnelle Menschheitsgeschichte des digitalen Universums. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst 2024, Heft 283/75. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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