Zum Zeitpunkt ihrer Gründung ermöglichten die Volkshochschulen Bildungsteilnahme für von Bildung ausgeschlossene Menschen und verliehen dem Anspruch „Bildung für alle“ (Vater & Zwielehner: 2018) Nachdruck, ein Anspruch, der den Widerstand der „Obrigkeit“ provozierte (siehe Filla: 2001). Die „Obrigkeit“ war – nicht nur – um die Jahrhundertwende des 19. zum 20. Jahrhundert die Verfechterin einer Bildung, die den sozialen Status aufrechterhielt und Menschen aufgrund von Geschlecht und Herkunft und anderen Faktoren ausschloss. Bildung und Beteiligung als Pflichterfüllung – eine besondere Form der Partizipation, die aber nicht mit aktiver Beteiligung/Partizipation verwechselt werden sollte – waren nach dem Verständnis der Obrigkeit keine demokratischen Rechte, sondern eine den Untertanen des Reiches auferlegte Pflicht. Die Gründung von Volkshochschulen – wie dem Volksheim Ottakring (vgl. Filla 2001a, Stifter 2005) – wurde daher von den traditionellen Eliten und staatlichen Autoritäten der österreichischen Monarchie kritisch gesehen. Nicht der Wunsch nach Emanzipation des „Volkes“ oder der Befreiung der kaiserlichen Untertanen, sondern der Bedarf an spezifischen Qualifikationen in der sich modernisierenden Gesellschaft und der Wunsch, soziale Ungleichheit und Hierarchie aufrechtzuerhalten, standen am Anfang des öffentlichen, staatlich gegründeten Schul- und Bildungssystems (Vater, 2020). Dies unterschied sich deutlich von der frühen Erwachsenenbildung, die in den Volksbildungseinrichtungen praktiziert wurde. Die Volkshochschulen sind ein Teil dieser Volksbildungsbewegungen. Sie wurden durch die Selbstorganisation von Bildungssuchenden, Volksbildner*innen oder Wissensvermittler*innen gegründet und propagierten Bildung für alle und manchmal auch Bildung durch alle – ein weitaus radikalerer Anspruch.
Studien (Filla: 2001a+b; Radermacher: 1930; Radermacher, 1931; Stern: 1910; Vater & Zwielehner: 2018) haben gezeigt, dass Gruppen, die von Bildungsaktivitäten und -prozessen aktiv und passiv ausgeschlossen waren, an den Volkshochschulen als Teilnehmerinnen oder Lehrende Chancen erhielten: Frauen, Handwerkerinnen, Arbeiterinnen sowie Jüdinnen und Juden, die von antisemitischen, chauvinistischen, traditionellen oder klassenbedingten Ausschlussmechanismen vor allem an den Universitäten betroffen waren. Emanzipatorische Bildung fand damals an Volkshochschulen statt und nicht an den konservativen, innovationsfeindlichen und elitären Universitäten. Die Bildungspraxis an Volkshochschulen basierte vor allem auf egalitären Beziehungen zwischen Dozent*innen und Teilnehmer*innen und auf dem friedlichen Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft (Stifter: 2017a und 2017b). Die demokratische Ausrichtung der Volkshochschulen drückte sich auch in der Organisationsstruktur aus, satzungsgemäß erhielten sogenannte „Hörervertreter“ – gewählte Vertreterinnen und Vertreter aus dem Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer – die Möglichkeit, im Vorstand des Vereins mitzuwirken. Auf der organisatorisch-administrativen Ebene wurde versucht, durch Dezentralisierung ein demokratisches Konzept der Bildungsarbeit zu erreichen. Auf dieser Grundlage und einer Praxis der Gleichheit schuf die wissenschaftsorientierte Volksbildung eine Schule und ein Laboratorium der Demokratie1 und für eine neue, partizipative und egalitäre Lern- und Lehrpraxis, lange bevor die demokratische Mitbestimmung politische Realität wurde oder auch lange bevor das allgemeine Männerwahlrecht existierte.
„ein lebensgefährliches Gedränge“
Die Teilnahme an den Bildungsangeboten der Volkshochschulen war schon zu Beginn des Jahrhunderts sehr rege. Josef Luitpold Stern betont in seiner 1910 verfassten Beschreibung des Wiener Volksbildungswesens das allgemeine Bildungsbedürfnis der Bevölkerung, das die Volksbildung unabhängig von Stand, Geschlecht und Bildungsstand erfüllte (Stern: 1910, S. 2 und S. 73). Er beschreibt das „lebensgefährliche Gedränge“ (Stern: 1910, S. 73) bei den Veranstaltungen im Volksheim, zu denen die Menschen kamen, um die Vorträge zu hören und gemeinsam zu diskutieren. Radermacher (1932, 1930) unterschied in einer Studie an den Volkshochschulen verschiedene Typen von Bildungssuchenden: solche, die in erster Linie daran interessiert waren, Wissenslücken zu schließen und neue „Bildungsgrenzen“ (Radermacher, 1932, S. 482) zu erkunden, und solche, die an „weltanschaulicher Bildung“ (ebd., S. 471) interessiert waren, in der sie ihre Wahrnehmung der Welt in einem politischen Raum gestalten und diskutieren wollten. Ziel war es also, Wissenslücken zu schließen, die die Schule oder das Leben absichtlich oder unabsichtlich hinterlassen hatten, den Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr demokratisches Recht auf Bildung wahrzunehmen und ihre Lust am Lernen zu befriedigen sowie die Schaffung einer neuen demokratischen Kultur.
Die Volkshochschulen waren und sind den Bildungsinteressen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer verpflichtet, die eingeladen sind, sie und die Praxis der Erwachsenenbildung mitzugestalten und zu entwickeln.
Eine lebendige, egalitäre und demokratische Bildungs- und Beteiligungskultur entwickelte sich ab den 1920er-Jahren vor allem im „Volksheim“ in Wien Ottakring, das den Namen „Volkshochschule“ nicht führen durfte. Die Bildungspraxis dort war innovativ, partizipativ und offen für alle. Die Abteilungen (Fachgruppen2) wurden von den Teilnehmer*innen und den Lehrenden geleitet. So entwickelte die englische Fachgruppe unter der Leitung von Amelia Sarah Levetus, die nicht nur Kursleiterin und Dozentin, sondern auch Mitbegründerin und Leiterin der englischen Fachgruppe war, die aus dem 1903 gegründeten Konversationsclub „John Ruskin“ hervorging, ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm.
Sie entwickelten und setzten auf fortschrittliche pädagogische Praktiken, die auch heute noch angewandt werden und modern wirken, wie Konversationsgruppen, Lesekurse und Diskussionen über Werke der englischen Literatur, Vorträge ausländischer Gastdozent*innen über die Geschichte und Politik Großbritanniens, Exkursionen nach England sowie Besuche aus England im John Ruskin Club (vgl. Filla: 2001a, 2001b und Stifter 2020). Die Unterrichtskultur in der von Edgar Zilsel geleiteten Philosophie- und Physikabteilung war ebenso demokratisch und lebendig wie in der englischsprachigen Abteilung. Sie zeichnete sich ebenfalls durch Vorträge, Diskussionen, Beteiligung an der Entscheidungsfindung, Empowerment und eine Praxis der lebendigen und partizipativen Wissenschaft aus (Filla, 2001a, 1993c).
Demokratie, Partizipation und Volksbildung in der Volkshochschule
„Demokratie und Volksbildung sind Begriffe, die sich gegenseitig ergänzen, denn weder wird die Demokratie jemals ihre volle Wirkung entfalten können, wenn sie nicht auf einer allgemeinen Volksbildung beruht, noch wird die wirtschaftliche Volksbildung jemals durchgeführt werden können, wenn sie nicht auf der Grundlage der Demokratie erfolgt.“ (Hartmann: 1919, S. 18).
Seit ihrer Gründung haben die Volkshochschulen stets die Teilnehmer*innen in den Mittelpunkt gestellt, und die Bildung wurde stets als Teil der demokratischen Entwicklung der Gesellschaft und nicht nur als nützlich für wirtschaftliche Zwecke betrachtet. In der heutigen Terminologie könnte man sagen, dass sie „die Prinzipien des lerner- und ressourcenorientierten Lernens, des Empowerments, der Wertschätzung der Mehrsprachigkeit der Lernenden, der Authentizität und des selbstgesteuerten Lernens in die Tat umsetzen“ (Alfazentrum, n.d.). Das Bildungsangebot der Volkshochschulen ist situiert; es ist nicht unabhängig von der Herkunft, den Qualifikationen, der sozialen Situation und den Ressourcen der Teilnehmer*innen. Sie berät oder belehrt sie nicht über ihre Interessen, sondern respektiert sie und setzt nicht eine Art idealen, selbständigen Lernenden mit bestimmten Interessen voraus. Der Hintergrund der Lernenden kann das Lernen fördern oder hemmen; die Lernenden stehen im Mittelpunkt, und im besten Fall bestimmen sie die Inhalte durch ihre Interessen und ihre Beteiligung. Bildung wird als Befähigung (Empowerment) verstanden und nicht als Behebung eines Mangels. Ziel der Volkshochschule ist es nicht, eine „Hochkultur“ (Vater: 2007) zu fördern, die der Kultur der Lernenden übergeordnet wäre; vielmehr soll die Praxis der Erwachsenenbildung Teil der Alltagskultur sein (vgl. die Arbeiten von Raymond Williams zum Kulturbegriff, Williams, 19893), die erlebbar und kohärent gemacht werden muss. Das Bildungsangebot der Volkshochschulen nutzt den Hintergrund und die Qualifikationen der Teilnehmenden und fördert ihre Neugierde am Lernen. Wie andere Traditionen emanzipatorischer Bildung ist auch die Volkshochschulbildung nicht ausschließlich an der Bildung und Entwicklung von Humankapital interessiert und zielt nicht auf das „Lernen für den Verdienst“ (Biesta: 2005, S. 688). Es geht auch nicht nur darum, Lücken zu schließen, vor allem nicht solche, die von „gut ausgebildeten“ Menschen aufgezeigt werden, und es ist auch nicht ihre Aufgabe, potenzielle Risiken zu beseitigen, die von ungebildeten Menschen ausgehen.4 Sie ist den Teilnehmer*innen verpflichtet. Diese Bildung soll auch den Wunsch nach Bildung, Scharfsinn und Neugierde wecken und nicht nur einen überprüfbaren Wissenskomplex produzieren.
Volkshochschulen als Teil demokratischen Fortschritts
„Jedes Gemeinwesen konstituiert sich nach der Natur oder dem Willen derer, die es regieren. Daher hat die Freiheit in keinem anderen Staat eine Heimat, außer dort, wo das Volk die oberste Macht innehat. Sie ist das herrlichste Gut, das es geben kann. Wenn sie nicht allen gleichermaßen gewährt wird, ist sie keine Freiheit“ (Cicero: 2010, S. 113).
„Daraus ergibt sich also, dass der Mensch von Natur aus ein politisches Tier ist“ (Aristoteles: 1948, 1253a).
Erwachsenenbildung in der Tradition der österreichischen Volkshochschulen ist Teil einer demokratischen Welt, in der die Teilnehmenden als politische Wesen betrachtet werden und als solche in den Volkshochschulen handeln können (Cicero: 2010; Aristoteles: 1948). Die Volkshochschulen sind Teil des alltäglichen Lebensraumes der Menschen und beziehen sich auf den Bezirk, die lokale Gemeinschaft. Erwachsenenbildung ist keine Reparaturwerkstatt oder staatliche Nachhilfeschule. Die Praxis und Idee der Erwachsenenbildung unterscheiden sich stark von der Idee der Bildung im formalen oder beruflichen Bildungssystem. Die Form der Erwachsenenbildung, von der wir sprechen, ist Teil einer Bewegung hin zu einer demokratischen Gesellschaft. Diese Art der Erwachsenenbildung ist Teil einer Bewegung hin zu einer demokratischen Kultur und orientiert sich an den Teilnehmern und deren Kultur und Gemeinschaft. Sie ist das radikale Gegenteil zu den Bestrebungen der Chicago School um Milton Friedmann oder Gary Becker, für die Bildung immer anderen dient, etwa dem Wohlstand, dem Wohl der Nation, der Oberschicht oder der Wirtschaft.
Berühmte Beispiele für gemeinschaftliches Lernen und Engagement wie die Escola Cidadâ-(Bürgerschule) in Porto Allegre, Brasilien (Flecha: 2015), La Verneda Sant Martí in Barcelona, Spanien (Sánchez: 1999), und Study Circles in Schweden (Gustavsson: 2013) basieren auf ähnlichen Werten und Idealen wie die der österreichischen Volkshochschulen. Diese Lerngemeinschaften haben sich den egalitären Dialog, die Zusammenarbeit, die Solidarität, die Partizipation, die Emanzipation, das Wohlergehen und die Befähigung der Gemeinschaftsmitglieder als Funktionsprinzipien zueigen gemacht.
Doch was ist mit Partizipation gemeint? In diesem Beitrag definieren wir Partizipation als die gemeinschaftsorientierte Aktivität (Lebensweltorientierung) der Mitgestaltung von Bildung und Wissen. Die wichtigste Voraussetzung für Partizipation ist der Zugang zu Bildung. Partizipation in der Erwachsenenbildung bedeutet mehr, als auf der Makroebene in die Gesellschaft eingebunden zu sein oder gesund zu bleiben. Sie geht weit über die funktionalistische Idee der Inklusion von Menschen hinaus, wobei dies nicht als Argument gegen Inklusion oder Gesundheit, sondern als Unterscheidung gemeint ist.
Partizipation ist in der Erwachsenenbildung ein Aspekt der alltäglichen Praxis des kooperativen, egalitären Unterrichtens von Erwachsenen und des Bezugs zu ihrer lokalen Gemeinschaft. Partizipation ist ein Aspekt der Teilnehmerorientierung, der nur von ihnen selbst definiert wird. Niemandem wird vorgeschrieben, wie er/sie sich zu beteiligen hat, Partizipation ist gelebte Erwachsenenbildung. Emil Reich sprach 1903 von einer Dreiheit der Erwachsenenbildung von demokratischer Bildung, Erhebung5 und Erholung, die unauflöslich in den Volkshochschulen verbunden seien und ihre Verwurzelung im Alltag der Menschen zeigten (vgl. Reich 1903, S. 117).
Unterschiede zwischen den Merkmalen einer gemeinschaftsorientierten Erwachsenenbildungspraxis, die auf Emanzipation und Veränderung abzielt, und formalen, standardisierten (instrumentellen) Bildungsangeboten lassen sich deutlich erkennen. In der instrumentellen/standardisierten Sichtweise wird „Lernen weitgehend als ein Mittel zur Anpassung an die Bedürfnisse und Anforderungen des breiteren soziokulturellen Kontexts verstanden“ (Dirkx: 1998, S. 2), so dass der Einzelne sich in seinen Kontext einfügen und anpassen kann. In dieser Sichtweise wird das Wissen als außerhalb des Lernenden liegend betrachtet und durch den Lernprozess verinnerlicht (Dirkx: 1998). Freire (1970) bezeichnet dieses Konzept der instrumentellen Bildung als „Bankiersprinzip“, bei der die Erzieher/Lehrer als Inhaber der Macht und Sender des Wissens angesehen werden, während die Lernenden als passive Empfänger und Objekte des Lernens behandelt werden.
Eine weiterführende Version dieses Beitrages findet sich unter https://adulteducation.at/sites/default/files/statistikberichte-auswertungen/BeLL-Studie-an-oesterreichischen-Volkshochschulen-2018-2022.pdf //
Kommentare