Zur Geschichte der VHS Simmering als Lernort
Die VHS Simmering wurde im Jahr 1922 als „Simmeringer Volksheim“ und Zweigstelle der Volkshochschule Ottakring gegründet, nach dem „Anschluss“ 1938 von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet und 1947 schließlich mit eigenem Förderverein neu gegründet. Im Jahr 1996 wurde im Zuge der Stadterweiterung die VHS Leberberg am Rosa Jochmann Ring 5/2 eröffnet und die VHS Simmering bekam eine Zweigstelle inmitten der neu erbauten Gemeindebausiedlung.
Im März 2011 übersiedelte die VHS Simmering zusammen mit Standorten der Büchereien Wien und der Musikschule der Stadt Wien in das neue Bildungszentrum Simmering in der Gottschalkgasse 10, das nach zwei Jahren Bauzeit unter dem damaligen Wohnbaustadtrat Michael Ludwig eröffnet wurde. Für den EU-weiten Wettbewerb für das Bildungszentrum gab es ganze 93 Einreichungen, den Zuschlag bekam der international bekannte Wiener Architekt Martin Kohlbauer. Das durch seine Glasfassade und großzügigen Fensterflächen sowie seinen ovalen Grundriss wirklich einzigartige Gebäude thront am ehemaligen „Simmeringer Markt“, umgeben von Bildungseinrichtungen wie Kindergärten oder Schulen, unweit der U3-Station Enkplatz, des Einkaufszentrums und des Bezirksamtes. Man betritt das Gebäude über das offene Foyer, das ähnlich einem imposanten Atrium alle drei Stockwerke verbindet und durch seine riesigen Glasflächen die Besucher*innen vom Vorplatz in das Gebäude einlädt. Finden Konzerte und Veranstaltungen in der kalten Jahreszeit im großzügigen Veranstaltungssaal statt, so wandern sie in den Sommermonaten wie selbstverständlich auf den Vorplatz und ziehen die sich in der Umgebung aufhaltenden Menschen an. Der Architekt selbst schreibt dazu:
„Nach dem 2. Weltkrieg war der wiederaufgebaute Simmeringer Markt unverzichtbar für die lokale Bevölkerung. Mit der Eröffnung des nahegelegenen Einkaufszentrums am Enkplatz 1981 verlor er jedoch an Bedeutung. Anstelle des Marktes entstand nun ein Bildungszentrum. Drei Bildungseinrichtungen – Musikschule, Zweigstelle der Büchereien Wien und die Volkshochschule Simmering – sowie vier gläserne Marktstände und ein Café, das auch außerhalb der Öffnungszeiten des Bildungszentrums besucht werden kann, bilden an diesem traditionsreichen Ort das bis dahin fehlende Zentrum für die lokale Bevölkerung. [….] Das umweltfreundliche Gebäude ist auch ein ökologisches Vorzeigeprojekt: Mittels Erdwärme aus Erdkollektoren und Tiefenbohrung, Solarkollektoren auf dem Dach sowie kontrollierter Be- und Entlüftung werden rund 50% des Wärmebedarfs durch Alternativenergie abgedeckt; die zweite Hälfte stammt aus der Fernwärme.“2
Der Bildung in Simmering sozusagen eine moderne Kathedrale zu bauen, war ein deutliches bildungspolitisches Zeichen. Seit nunmehr zwölf Jahren kommen Menschen manchmal nur, um das Gebäude zu bewundern, viele bleiben jedoch schließlich wegen seines vielfältigen Innenlebens. Die VHS Simmering bietet mit ihren beiden Gebäuden (Enkplatz und Leberberg) die ideale Voraussetzung für niederschwellige regionale Bildungsarbeit. Beide Gebäude sind barrierefrei, befinden sich unweit großer Parkanlagen inmitten von Gemeindebauten und Schulstandorten und sind mit den öffentlichen Verkehrsmitteln sehr gut erreichbar. Um aber alle in Simmering lebenden Menschen möglichst niederschwellig zu erreichen, braucht es mehr als das. Es reicht nicht zu warten, bis die Menschen zu uns kommen – manchmal müssen wir sie auch aufsuchen.
„Bildung für alle!“ in Simmering durch Outreach3-Aktivitäten und Sozialraumorientierung
Was macht Simmering so besonders? Was zeichnet diesen 11. Wiener Gemeindebezirk aus? Simmering ist jung, multikulturell und beherbergt die wohl authentischste Sehenswürdigkeit Wiens: den Zentralfriedhof – Europas zweitgrößten Friedhof und Naherholungsgebiet der Simmeringer*innen. Laut Statistik Austria weist Simmering zusammen mit Floridsdorf den höchsten Anteil des öffentlichen Wohnbaus an allen Wohnungen auf. In Simmering wird das relative Bevölkerungswachstum in den nächsten 20 Jahren stärker als in allen anderen Bezirken Wiens ausfallen. Der 11. Bezirk gehört zu den Wiener Gemeindebezirken mit einem im Vergleich zum Wiener Durchschnitt sehr hohen Anteil an arbeitslos gemeldeten Personen und einem sehr geringen Akademiker*innen-Anteil.4
Als Bildungsnahversorgerin ist es unser Auftrag, qualitativ hochwertige und gleichzeitig leistbare Bildung für alle anzubieten und ein Ort der Begegnung für alle im Bezirk lebenden Menschen zu sein. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die enge Kooperation mit anderen Bildungs- und Sozialeinrichtungen in Simmering unerlässlich. Wir sind im Bezirk sehr aktiv und vernetzt, zum Beispiel in zwei Bildungsgrätzln,5 an deren Gründung wir maßgeblich beteiligt waren. Menschen mit niedrigem Haushaltseinkommen bekommen bei uns in allen regulären Kursen soziale Ermäßigung. Volksbildung bedeutet gerade in Simmering aber auch, bestimmte Zielgruppen mit kostenfreien bzw. drittmittelfinanzierten Angeboten zu erreichen. Am Standort Gottschalkgasse befinden sich Büros der Projekte VHS Jugendcoaching, BBE-Ausbildungscheck (im Auftrag des AMS) und „AusbildungsFit BOK“. Freie Kursräume werden für Beratungen und Informationsveranstaltungen genutzt. Im Jahr 2023 waren dies insgesamt über 4500 Unterrichtseinheiten. Die „Schachtelung“ der Raumnutzungspläne ähnelt daher oft einem Tetris-Spiel, gewährleistet aber eine effektive Raumauslastung außerhalb der Kurszeiten. Im Rahmen der Initiative Erwachsenenbildung gibt es außerdem zwei Basisbildungskurse für Menschen mit Deutsch als Erstsprache. Die von der Stadt Wien finanzierte „Gratis Lernhilfe“ in Deutsch, Mathematik und Englisch ist an beiden Standorten der VHS Simmering jeden Nachmittag sehr gut besucht. Für Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch gibt es in diesem Rahmen auch kostenlose Deutsch-Start-Kurse, welche immer schnell ausgebucht sind. Zusätzlich finden Kurse der „Gratis Lernhilfe“ in den Schulen der Sekundarstufe 1 in Simmering statt. Das VHS-Jugendcoaching berät im Auftrag des Sozialministeriumservice alle Jugendlichen am Übergang Schule-Beruf flächendeckend in ganz Favoriten und Simmering – innerhalb und außerhalb der Schule sowie in Justizanstalten. Mit der Bücherei und der Musikschule kooperieren wir in Bezug auf regelmäßig stattfindende gemeinsame Veranstaltungen, beispielsweise einem wöchentlichen Lese-Club oder den „Musiktagen der offenen Tür“. Insassen der Justizanstalt Simmering erreichen wir mit Deutschkursen und beruflichen Vorbereitungskursen im Rahmen von „AusbildungsFit BOK“ (ebenfalls gefördert vom Sozialministeriumservice).
Die Corona-Pandemie machte neben neuen Online-Formaten auch Outdoor-Angebote notwendig, wodurch plötzlich Ideen umgesetzt werden konnten, die davor vermutlich nicht so schnell realisierbar gewesen wären. Einerseits sind uns die beliebten „Heimvorteil-Kurse“ geblieben, an denen man nach Bedarf auch online teilnehmen kann, andererseits finden seit der Corona-Pandemie mit wachsender Beliebtheit in den Sommermonaten neben dem Bezirksferienspiel in Kooperation mit der Bezirksvorstehung „Gratis Kurse im Park“ statt. Die Angebote reichen in Simmering von Bewegungskursen wie Yoga, kreativem Tanz oder Intervalltraining, Sprach- und Fotospaziergängen bis hin zu kreativem Schreiben oder Architekturzeichnen. Auch unsere kostenfreien Deutschkurse im Rahmen von „Deutsch im Park“ waren bisher immer sehr gut besucht. So machen wir Erwachsenenbildung erlebbar und begleiten die Menschen dabei, ihren Wohnbezirk zu erschließen und einander im Sozialraum zu begegnen. Im Zuge dessen hat sich auch eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Wiener Zentralfriedhof ergeben. Von April bis Oktober finden verschiedene Kursangebote und Workshops direkt am Friedhof statt, wodurch dieser als Lern- und Begegnungsort eine neue Konnotation erfährt und durch neue Besucher*innen „zum Leben erweckt“ wird.
In Kooperation mit Wohnpartner Wien bietet die VHS Simmering verschiedene Kurse im Gemeindebau an, unter anderem eine Smartphone- und Tablet-Sprechstunde, einen Poetry Slam, Street-Dance oder Lernhilfe. Zum ersten Mal findet seit Herbst 2023 ein gemeinsam mit Wohnpartner Wien entwickelter einjähriger Lehrgang zum Nachbarschafts- und Community-Coach in der VHS Simmering statt.6
„Bildung für alle“ durch den Schwerpunkt Inklusion & Vielfalt
Den Bildungsauftrag der Stadt Wien, „Bildung für alle“ zu erfüllen, bedeutet für uns vor allem Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe zu fördern. Deshalb haben wir uns den Schwerpunkt Vielfalt und Inklusion gesetzt. So wie kein einziger unserer Kursräume im Bildungszentrum ein regelmäßiges Rechteck darstellt oder dem anderen gleicht, so heißen wir unsere Teilnehmenden in ihrer Individualität willkommen. In der VHS Simmering sind wir stets bemüht, alle Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen wahrzunehmen. Personen mit Unterstützungsbedarf können erforderliche Begleitpersonen kostenfrei zum Kurs mitnehmen oder ein Abholservice bei den nächstgelegenen Stationen der öffentlichen Verkehrsmittel anfordern. Besondere Bedarfe können bei der Anmeldung im Kund*innenservice bekannt gegeben werden, und wir bemühen uns, den Kursbesuch entsprechend zu ermöglichen. Kurse wie beispielsweise der Chor ohne Grenzen, Yoga im Sitzen, eine offene Theaterwerkstatt oder Selbstverteidigung für Menschen mit Bewegungseinschränkungen ermöglichen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsame Lernerfahrungen und tragen so zur gesellschaftlichen Teilhabe bei. Ausschließlich dort, wo „Spezialangebote“ für eine bestimmte Zielgruppe Sinn machen, werden sie gesetzt, zum Beispiel durch Kurse wie Yoga in Gebärdensprache.
In der VHS Simmering als Lernort findet Lernen formell und informell, geplant und ungeplant statt. Selbstverständlich gilt es Lernziele zu erreichen, doch die gemeinsame Lernerfahrung in einer Gruppe ist ebenso wesentlich. In einer Zeit, in der eine von zehn Personen von gesundheitsgefährdender Einsamkeit betroffen ist (vgl. Beckers et al.: 2022), kommt der persönlichen Begegnung besondere Bedeutung zu.
Entsprechend dem Leitbild der Wiener Volkshochschulen ist Lernen gelungen, wenn fachliche, soziale und persönliche Kompetenzen erworben und die Lernenden befähigt werden, das Gelernte selbständig in ihren individuellen Lebenssituationen anzuwenden. Die Wiener Volkshochschulen verstehen Lernen sowohl als persönlichen, als auch gesellschaftlichen Prozess. Gelungenes Lernen führt demnach auf individueller und kollektiver Ebene zu einer nachhaltigen Veränderung im Wissen, Denken und in der Haltung. Die Lernenden übernehmen Verantwortung für ihren individuellen und Mitverantwortung für den gemeinsamen Lernprozess.7
Universal Design ermöglicht „Bildung für alle!“
Aber wie gestaltet man ein Bildungsangebot „für alle“? Was muss es können, um für möglichst viele Zielgruppen gleichzeitig ansprechend zu sein? Die barrierefreie Gestaltung von Gebäuden und Websites ist gesetzlich geregelt und verpflichtend umzusetzen. Selbstverständlich ist sie zentrale Voraussetzung, doch es braucht mehr als das. Hinter „Universal Design“ steht ursprünglich die Idee, Produkte und Systeme so zu gestalten, dass sie für so viele Menschen wie möglich ohne weitere Anpassung nutzbar sind und Menschen mit ihren individuellen Unterstützungsbedarfen als Teil der Gesellschaft und nicht als Gruppe mit Bedarf an Sonderlösungen zu betrachten. Universal Design denkt Heterogenität und Diversität von vornherein mit (vgl. Bühler: 2015). Eine Klassifikation der Lernenden nach Behinderung, Alter, Geschlecht, Herkunft oder ähnlichen Kriterien ist somit nicht mehr notwendig.
Universal Design im Bildungsbereich bezieht sich auf die Schaffung von Lernumgebungen, die es allen Lernenden ermöglichen, möglichst selbstbestimmt ihre individuellen Fähigkeiten zu entfalten. Dies gelingt am besten, wenn man beispielsweise viele verschiedene Sinneskanäle (visuell, auditiv, taktil) gleichzeitig anspricht und Materialien, Methoden und Technologien im Einsatz variiert bzw. kombiniert. Inklusive Kurse unterscheiden sich nicht grundlegend von Kursen der allgemeinen Erwachsenenbildung, außer dass sie darauf ausgerichtet sind, den Bedarfen aller Teilnehmenden zu begegnen. Wir alle unterscheiden uns nach verschiedenen Lerntypen und profitieren von universell gestalteten Lernumgebungen.
Nichts Anderes wäre beispielsweise die mittlerweile selbstverständliche Begleitung eines gesprochenen Vortrages mit einer Powerpoint-Präsentation oder einen Film mit Untertiteln. Eine blinde Teilnehmerin benötigt in einem Sprachkurs vielleicht nicht mehr als die zusätzliche akustische Beschreibung der ihr nicht zugänglichen optischen Inhalte. Vom Einsatz einfacher Sprache und Piktogrammen profitieren nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten oder anderen Erstsprachen als Deutsch, sondern alle Teilnehmenden. Barrieren sowie Lösungs- und Unterstützungsmöglichkeiten sind je nach Mensch und individuellem Unterstützungsbedarf sehr unterschiedlich. Es gibt nicht den einen „Menschen mit Behinderung“. Deshalb sind – zusammenfassend gesagt – einerseits inklusive Rahmenbedingungen und andererseits kreative und flexible Lösungen im Einzelfall gefragt.
Allen Anfang machen jedoch die Haltung und die Bereitschaft der handelnden Personen. So haben wir zum Beispiel Menschen mit Behinderung in unsere Teambesprechungen eingeladen, um von ihnen selbst zu erfahren, was für ihr selbstbestimmtes Lernen in der Lernumgebung und der damit verbundenen Dienstleistung wichtig ist. Das Team der VHS Simmering hat in der persönlichen Begegnung mit Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf wohl am meisten über Inklusion gelernt. Im Rahmen des Projektes „Inklusive Erwachsenenbildung“ vom Verein „biv integrativ “ war die VHS Simmering einer von vier Modellstandorten, an denen in Fokusgruppen von Menschen mit Behinderungen selbst Kursinhalte erarbeitet und umgesetzt wurden.8
Es bedarf in der Erwachsenenbildung im Sinne einer „Bildung für alle“ also einer Abweichung vom klassischen „Behinderungsbegriff“ hin zur Inklusion von „Menschen mit individuellem Unterstützungsbedarf“. Diesen kann eine Schwangere oder ein Mensch mit Fluchterfahrung genauso haben wie eine Person mit Rollstuhl, oder – angesichts unserer alternden Gesellschaft immer relevanter – ein Mensch mit beginnender Demenz, wo hingegen jemand mit einem „Behindertenpass“ nicht zwingend einen erhöhten Unterstützungsbedarf aufweisen muss. Es gilt also Lernumgebungen und -angebote nach dem Ansatz des Universal Design in jeder Hinsicht niederschwellig zu gestalten. Dies betrifft nicht nur die bauliche Gestaltung, sondern auch die Erreichbarkeit, den Zugang, die Methodik und Didaktik, die Finanzierung und allem voran die Haltung aller Beteiligten. Deshalb sind neben dem Ansatz eines „Universal Design for Learning“ auch die Verschränkung des offenen Bildungsangebotes mit drittmittelfinanzierten Maßnahmen und die aufsuchende Bildungsarbeit essentiell im Sinne der Demokratisierung von Bildungschancen und der Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe und Selbstermächtigung. //
Fotos: VHS Simmering/Jennifer Davies
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