Jean Ziegler, unerschrocken im Einsatz für soziale Gerechtigkeit und menschliche Würde, tritt wieder als Autor an uns heran. Bekannt ist vielleicht sein schon früher formuliertes Diktum: Jedes verhungerte Kind ist ein ermordetes Kind! Für Ziegler ist klar: Niemand müsste auf unserer Erde heute hungern, Nahrung wird ausreichend produziert – doch nicht alle können sich ihr tägliches Essen leisten, weil sie zu arm sind. Hier Mangel, dort Überfluss – dies hält Ziegler für skandalös.
Die bestehende Weltordnung mit ihren Machtverhältnissen, das Leiden vieler Menschen, Abhängigkeit von finanziellen Oligarchien, selbstsüchtiges Leben im Wohlstand aber auch die Hoffnung auf die Kraft der Zivilgesellschaft inspirieren das Buch. Doch Jean Ziegler (geboren 1934) folgt auch einer selbstreflexiven Absicht. Er überprüft, wie nützlich sein berufliches Wirken war, er will den Sinn seines Denkens und Handelns aufspüren. Seine Tätigkeiten waren inhaltlich sehr umfangreich und engagiert: Abgeordneter im Schweizer Parlament, Sondeberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrates und langjähriger Professor der Soziologie an der Universität Genf.
Die Universitäten hält Ziegler übrigens für Orte der Hoffnung. Er sieht in ihnen „die letzten Zufluchtsorte für kreatives Denken. Diesen Freiraum gilt es um jeden Preis zu bewahren.“ (S. 99). Gut gewollt! Aber welchen Preis sind Forschende, Lehrende und Studierende bereit zu zahlen? Sind sie nicht auch schon allzu sehr, wie es Ziegler „seiner Schweiz“ vorwirft – Opfer eines homogenisierten Bewusstseins? Unterliegen sie nicht auch den „transkontinentalen Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals, das die Welt umgestaltet und ihr ihre ungeteilte Herrschaft aufgezwungen“ (S. 122) hat?
Doch Widerstand ist nicht zwecklos. Klare Analysen, Aufklärung, Berufung auf Entscheidungen des Gewissens hält Ziegler für Elemente, die einer sich formierenden Zivilgesellschaft Chance auf gelebte Solidarität geben. Als zwei Mut machende Beispiele führt er den globalen Widerstand gegen die Bedingungen der Textilindustrie in Bangladesch und die „Via Campesina“ an. Letztere ist eine weltweite Organisation, die seit 1993 Interessen von Kleinbauern, Landlosen, Land- und Wanderarbeitern, Pächtern oder autonomen landwirtschaftlichen Gemeinden vertritt – in Kämpfen für das Überleben ihrer Mitglieder und in Gegnerschaft gegen die Macht des globalisierten Finanzkapitals. Jean Ziegler legt in den theoretischen Abschnitten seines Buches die Quellen seiner analytischen sozialwissenschaftlichen Orientierungen offen: Gramsci, Horkheimer, Habermas, Marx, Voltaire und immer wieder Zeilen von Bertolt Brecht, um nur einige zu nennen. Für ältere Leserinnen und Leser ein Tableau der Erinnerung, für jüngere eine Anregung zum Nachlesen.
Jean Ziegler ermutigt uns, an der „Verweigerungsfront“ teilzuhaben: sich gegen eine Ordnung zu stellen, in der wenige Reiche genießen, und große Massen verarmen. Er plädiert für eine solidarische Gesellschaft, in der Menschen ihre schöpferischen Fähigkeiten, ihr Glück und ihre Freiheit entfalten können.
In diesem Aufruf, in dieser Erinnerung an die individuelle Kraft und Verantwortung jedes Menschen sowie an die vielen Möglichkeiten, die wir vor allem in demokratischen Gesellschaften haben, spiegelt sich das bisherige Lebenswerk Jean Zieglers. Sein Buch, in dem er auch spannend über seine Lebenserfahrungen in vielen Teilen unserer Welt berichtet, ist Anlass, sich individuell und gemeinsam weiterzubilden: im Denken und im Handeln. //
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