Anfang Februar dieses Jahres verstarb in Hannover der renommierte Soziologe und Sozialphilosoph Oskar Negt. Solange es seine Gesundheit zuließ war er über viele Jahre hinweg Gast, Freund und geistiger Mentor des Retzhof. Er kam trotz übervollem Terminkalender immer wieder gerne, denn er liebte auch die Menschen, die Landschaft und den Wein der Südsteiermark.
Vom Überlebensglück eines Kriegskindes
Oskar Negt wurde 1934 nahe dem ostpreußischen Königsberg als jüngstes von sieben Kindern in eine Familie aus Kleinbauern und Arbeitern geboren. Mit zwei älteren Schwestern floh der kleine Oskar im Januar 1945 nach Dänemark, wo er, getrennt von seinen Eltern, zweieinhalb Jahre in einem Internierungslager für Kriegsflüchtlinge lebte. Es gelang nach dem Krieg auf glückliche Weise die Wiedervereinigung mit den Eltern und die gemeinsame Übersiedlung nach Niedersachsen. Von diesen, zum Teil traumatischen Erfahrungen und Erlebnissen, erzählte Negt im privaten Kreis auch am Retzhof. Seine Erinnerungen hielt er in einer bewegenden Autobiografie fest. Persönliche Erfahrungen und deren Aufarbeitung waren für sein Bildungskonzept immer wichtig. Dem Buch gab er schließlich den vielsagenden Titel Überlebensglück.
Ein unermüdlicher Bildungsarbeiter und Demokrat
Schon als Jugendlicher erkannte er, dass für ihn eine gute und umfassende Bildung der einzige Weg war, sich aus den begrenzten Verhältnissen und Möglichkeiten seiner Umgebung zu lösen und zu befreien. Den nächstgelegenen Buchhändler fragte der jugendliche Oskar einmal, wie man denn ein gebildeter Mensch werde. Dieser antwortete ihm: Indem Du das alles liest! – und zeigte auf ein altes und gebrauchtes 24-bändiges Lexikon, das in den Regalen stand. Der junge Negt erwarb daraufhin Band für Band, indem er den Buchhändler mit heimlich abgezweigten Naturalien aus der kleinen elterlichen Landwirtschaft versorgte. Und er las und arbeitete tatsächlich alles durch, wie er sich an diese ersten Anfänge seiner Bildungskarriere stets schmunzelnd erinnerte. Diese führte steil nach oben. Er dissertierte bei Theodor W. Adorno und war Assistent bei Jürgen Habermas. In den 1970er Jahren schrieb er als maßgeblicher Wortführer der sogenannten Außerparlamentarischen Opposition in Deutschland Politikgeschichte. Er gilt als einer der wichtigsten philosophischen Vertreter der weltbekannten Frankfurter Schule. Er war aber kein Gelehrter im akademischen Elfenbeinturm. Tief verwurzelt war sein persönliches Engagement in der Praxis der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit.
Es gibt immer eine Lösung
Am Retzhof wurde in Vorträgen und Workshops mit Oskar Negt viel über die offene demokratische Gesellschaft und ihre Gegner diskutiert. Das Erstarken rechter und rechtsextremer Parteien sah er mit größter Sorge. Denn diese schieben sich durch freie Wahlen kontinuierlich immer weiter ins gesellschaftliche Zentrum. Hier entsteht eine Bewegung, die im Grunde Demokratie abschafft mit den Mitteln der Demokratie, so Negt. Am Retzhof wurde mit seinem Einverständnis schließlich auch die Oskar-Negt-Akademie aus der Taufe gehoben. In diesem experimentellen Rahmen gelang es über viele Jahre hinweg, einen anspruchsvollen thematischen Faden zur politischen Bildung zu verfolgen. Zu den Veranstaltungen mit Oskar Negt (manchmal auch gemeinsam mit seiner Gattin, der Sozialpsychologin und Psychoanalytikerin Prof. Christine Morgenroth) reisten Interessierte aus ganz Österreich und dem Ausland an. Kaum jemand hat Kreativität, soziologische Phantasie und den historischen Optimismus der Neuen Linken so verkörpert wie er. Er hatte ein unverbrüchliches und geradezu ansteckendes Vertrauen in die Möglichkeiten des Menschen und des Menschlichen. An der gegenwärtigen Politik kritisierte er vor allem das Fehlen des Möglichkeitssinns. Politische Maßnahmen für alternativlos zu erklären, sei einfach nur deprimierend, meinte er. Denn es gibt immer auch eine alternative Lösung. Oskar Negt schrieb dutzende Bücher, eine Gesamtausgabe seiner Werke ist im Steidl Verlag erschienen. Unmittelbar vor seinem Tod erfuhr er noch vom Erscheinen des letzten Bandes seiner Vorlesungen aus frühen Jahren, die vor einiger Zeit zufällig als Mitschnitt in einem Tonarchiv wiederentdeckt und nun publiziert wurden. Das hat ihn sicher sehr gefreut. //
Joachim Gruber
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