Byung-Chul Han: Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie.

Byung-Chul Han: Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie.
Berlin: Matthes & Seitz 2021, 91 Seiten.

Disziplinierungsregime richten sich auf Körper und Energien – Informationsregime beuten Daten und Informationen aus. Machtgewinn besteht im Zugang zu Informationen, die es erleichtern, die Bevölkerung zu überwachen und zu steuern. Informationsregime ist mit Informationskapitalismus – inzwischen ein Überwachungskapitalismus – gekoppelt, der „Menschen zum Daten- und Konsumvieh degradiert“ (S. 7). 

Der Philosoph und Kulturwissenschafter Byung-Chul Han, positioniert auf diese Wiese eingangs die Kerngedanken seiner Reflexionen. Mit konzentrierter, pointierter Sprache analysiert er gesellschaftliche Bedingungen und individuelles Verhalten in der Epoche der Digitalisierung. Smart Phone, Smart Home und ähnliche Vernetzungen ergeben zusammen ein digitales Gefängnis. Influencer agieren als Führer und Vorbilder. Ein „Dataismus“ herrscht, in dem frei zu sein, nicht handeln bedeutet, sondern klicken. Jeder Einzelne erhält ein Verhaltensprofil – es herrscht, wer über die Informationen im Netz verfügt.

Der Philosoph diagnostiziert eine „Infokratie“, die durch „Infotainement“ entmündigt. Die Öffentlichkeit, ein kostbares Gut der Demokratie, zerfällt. Sie wird fragmentiert durch eine Politik der Tweets, der Memes und der schnellen Bilder. 

Der Autor beklagt den Verlust politischer Öffentlichkeit, aufgrund eines Informationsstroms, der von privat zu privat fließt und zu einer Kommunikation ohne größere Gemeinschaft führt. Er bedauert, dass dadurch „die Position der anderen“ verloren geht. Die Menschen werden „diskussionsblind“. An die Stelle bisheriger Diskursräume treten die sogenannten „Echokammern“, in denen man sich nur selbst und Gleichgesinnte sprechen lässt. Als aktuelle Krise der Demokratie bezeichnet Byung-Chul Han das Verschwinden der anderen und die zunehmende Unfähigkeit zuzuhören. Mit dem Ende der „Zuhörer-Gemeinschaft“, eine Umschreibung von Demokratie, endet auch kommunikatives Handeln – letztlich gehen das Gemeinsame und der Gemeinsinn verloren.

Der Autor tritt gegen eine „digitale Rationalität“ auf, die auch die Überlegenheit von Big Data setzt. In den entstandenen kleinen Gruppen, die sich mit Hilfe netzbasierter Lebenswelt neue Identitäten schaffen, tritt an die Stelle von Diskursen ein „Identitätskrieg“. Argumente fehlen und die eigene Meinung, die mit der Identität zusammenfällt, wird „heilig“. Byung-Chul Han erläutert in diesem Zusammenhang das Entstehen und den Nährboden von Verschwörungstheorien.

Letztlich begründet der Autor mit seiner Analyse der Infokratie, wie durch einen neuen Nihilismus Wahrheit als gesellschaftliches Regulativ verloren geht. Fake News werden nicht als Lügen vorgebracht, sondern basieren auf der Gleichgültigkeit gegenüber Tatsachen.

Haben die großen Erzählungen noch Sinn und Identität gestiftet, bieten Informationen keine Orientierungskraft. Informationen sind additiv – Wahrheit ist narrativ. Auch das fördert den Erfolg von Verschwörungstheorien, sie fungieren als Mikroerzählungen, das macht sie glaubwürdig. 

Während die Infokratie ohne Wahrheit auskommt, setzt die Demokratie ein Wahrsprechen, den Mut zur Wahrheit (parrhesia) voraus, sowie das Recht, sich frei zu äußern (isegoria).

Byung-Chul Han ist skeptisch: Parrhesia bedeutet heute die Freiheit, Beliebiges zu sagen – was gefällt und Vorteil bringt. Dadurch ist die Einheit der Gesellschaft selbst gefährdet. Verdrängt vom Informationsregime hält der Autor die Epoche der Wahrheit für beendet. „Die Wahrheit zerfällt zum Informationsstaub, der vom digitalen Wind verweht wird.“ (S. 84).

Byung-Chul Han lässt und gewissermaßen in Staub und Wind zurück. Ob nun praktische Philosophen, die als berufsmäßige Berater agieren, wohl weiterhelfen? 

Aufmerksam macht das Buch darauf, dringend Gemeinsinn zu schützen und Mut zur Wahrheit zu pflegen. Das Konzept der Aufklärung, dem Erwachsenenbildung und Weiterbildung verpflichtet sein sollten, mit ihrer „wahrsprechenden“ Kommunikation ist offensichtlich brandaktuell. Als Slogan formuliert: Bilde dich selbst, kommuniziere mit vielen anderen – und habe Mut dich deines Verstandes in Diskursen zu bedienen. //

Lenz, Werner  (2021): Byung-Chul Han: Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Winter 2021, Heft 275/72. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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