Ist Citizen Science ein Auftrag für die Erwachsenenbildung?

„Citizen Science soll die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Wissenschaft ermöglichen. Das gemeinsame Ziel ist es, wissenschaftlich wertvolle Informationen zu sammeln und zu analysieren. Unter dem Begriff ‚Citizen Science‘  versteht man also die wissenschaftliche Arbeit, die von der Öffentlichkeit in Zusammenarbeit mit professionellen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Einrichtungen durchgeführt wird“.2

Definiert man bildungs- und gesellschaftspolitische Schnittmengen von Citizen Science, werden hier von Expert*innen im Wesentlichen fünf Bereiche genannt, nämlich „Open Science“, „Wissenschaftskommunikation“, „Public Engagement“, „Bildungsprojekte“, „Open Innovation and Science“. Für die Erwachsenenbildung kann man mit Sicherheit drei Bereiche als ureigenste Anliegen annehmen: „Bildungsprojekte“, „Public Engagement“ und „Wissenschaftskommunikation“. Aber auch die übrigen zwei Bereiche sind durchaus auf der Agenda der EB. Darüber hinaus sind für die Volkshochschulbewegung im Speziellen bereits historisch betrachtet einige Bezüge zu Citizen Science besonders evident. 

Die Volkshochschulen entsprangen einer Bewegung, die sich vom elitären Bildungssystem der Monarchie distanzierte; der Name „Volkshochschule“ bzw. „Volksuniversität“ blieb ihnen zunächst versagt – trotz wissenschaftlicher Arbeitsweise. In der Rückschau bedeutet dies, dass Demokratie, Partizipation und Volksbildung nicht unabhängig voneinander gedacht werden können. Die Volkshochschulidee bedeutet im Kern das Gegenteil von Elitenbildung. Damit befinden wir uns gleichzeitig bis heute in einem gesellschaftspolitischen Spannungsfeld. Das bedeutet umgekehrt: Wie offen, durchlässig, auch soziodemografisch repräsentativ die Volkshochschulen sind, ist bis heute ein wesentlicher Gradmesser dafür, ob Volkshochschulen ihren Bildungsauftrag erfüllen. Die reale Wirkung von Citizen Science, also das „Citizen“ in diesem Begriff, sollte ebenfalls nach diesen Indikatoren gemessen werden.

Volkshochschulen stehen für – weit mehr als – Wissenschaftskommunikation 

Volkshochschulen stehen insgesamt für eine spezifische Tradition des Umgangs mit Wissenschaft, die weit über bloße Wissenschaftskommunikation hinausreicht. Edgar Zilsel, bis 1934 Leiter der philosophischen Fachgruppe an der VHS Ottakring,3 nannte es in einem Nachruf auf den von einem Nationalsozialisten auf der Treppe der Uni Wien erschossenen Moritz Schlick4: „lebendige Wissenschaft“ – ohne etwa das Wort „Amateur“ oder die bloße „Mithilfe“ in den Vordergrund zu rücken. Die Idee und Praxis an der VHS Ottakring damals war eine partizipative, demokratische, gleichberechtigte Wissenschaft, die allen offen steht – die helfen sollte, eine neue demokratische Kultur und Gesellschaft zu verwirklichen.5  Es ging dabei eben nicht (ausschließlich) um Beforschung oder Hilfe, sondern um Gleichberechtigung: und Gestaltung der Welt. Im Vergleich mit den aktuellen vorgefundenen Definitionen von Citizen Science bewegen wir uns – in der Tradition und Theorie der Volkshochschulbewegung – wohl „zumindest“ bei Alan Irwin. Citizen Science bedeutet hier die Entwicklung von Konzepten zur Wissensgesellschaft, welche von der Notwendigkeit geprägt sind, die Wissenschaft und auch die Forschungspolitik gegenüber der Gesellschaft zu öffnen. „Irwin wollte damit festhalten, dass die Wissenschaft den Bedürfnissen der Gesellschaft nicht gleichgültig gegenüberstehen darf, und dass auch Bürger*innen selbst solide Wissenschaft betreiben können.“6  Real bewegt sich die VHS-Tradition im Bereich der „Bürger*innenforschung“ auf der Ebene der „Extreme Citizen Science“ – also der Einbindung aller Beteiligten auf allen Ebenen (inkl. dem Stellen der Forschungsfrage selbst).7 Umgekehrt gilt allerdings: Aktuelle Beispiele dafür – so das Netzwerk „Österreich forscht“ – gibt es in Österreich offenbar wenige. Spannend ist in diesem Zusammenhang, dass es vor einigen Jahren (inzwischen Jahrzehnten) an Volkshochschulen mehrere, sehr partizipative Projekte im Bereich lokalgeschichtlicher Forschung gegeben hat. Deren regionaler Bezug passte gut zum kommunalen Bildungsauftrag von Volkshochschulen. Aber warum setzen Volkshochschulen heute nur wenige Citizen Science Projekte (positive Ausnahme ist z. B. die Urania Graz) um?  

Derzeit kein öffentlich finanzierter Auftrag für die Erwachsenenbildung

Wenn wir die Realitäten der Erwachsenenbildung in Österreich betrachten, ist Citizen Science momentan kein Auftrag für die Erwachsenenbildung. Das gilt zumindest, wenn wir die für Wissenschaft und Forschung, aber auch die für die Erwachsenenbildung relevanten Bundesbudgets betrachten. Das aktuelle Universitätsbudget liegt bei 5,4 Mrd. Euro pro Jahr. Für aktive Arbeitsmarktpolitik, also für die stark von oben gesteuerte berufliche Weiterbildung, sind 2024 1,4 Milliarden Euro vorgesehen. Die für die nicht unmittelbar berufliche/fachspezifische Erwachsenenbildung vorgesehenen Budgets im Bildungsressort machen demgegenüber rund 50 Millionen Euro pro Jahr aus. Diese Position ist vor allem für Angebote der „allgemeinen“ bzw. für die nicht unmittelbar marktförmigen Teile der Erwachsenenbildung relevant. Citizen Science ist darüber hinaus auch kein Begriff des EB-Förderungsgesetzes (was wenig verwundert, das Gesetz ist aus den 1970er Jahren) und kein Teil aktueller Leistungsvereinbarungen der Erwachsenenbildung mit Bund, Land und Gemeinden. Ebenso existieren keine speziellen Förderprogramme im „Science“ Bereich für die Erwachsenenbildung.8

Anknüpfungspunkte im Selbstverständnis von Erwachsenenbildung bzw. Volkshochschulen 

Im aktuellen Selbstverständnis und den Konzepten – zumindest der gemeinnützigen Erwachsenenbildung – gibt es demgegenüber viele direkte Anknüpfungspunkte zu Citizen Science. Dazu gehören9:  

  • ein humanistischer Bildungsbegriff, der – wenn man so will – erweitert wird um die Wertschätzung lebenspraktischer Fähigkeiten und Kompetenzen bzw. auch der Fähigkeit von Lernenden zur Selbststeuerung und Reflexion
  • die Teilnehmenden-Orientierung, was bedeutet, dass die Lernenden Mitverantwortung für ihren Lernprozess übernehmen und diesen mitgestalten
  • im Zentrum non-formales Lernen (also nicht jenes für formale Abschlüsse)
  • die Orientierung an der Lebenswelt und der Arbeitssituation der Lernenden 

Für die Träger der gemeinnützigen Erwachsenenbildung bzw. die Volkshochschulen im Speziellen kann man vor diesem Hintergrund festhalten: Wir verfügen insgesamt über ein gut geknüpftes Netz, professionelles Know-how und vor allem aber eben auch über eine besondere Haltung und ein besonderes Engagement. Dieses Grundverständnis und der Bildungsauftrag machen speziell Volkshochschulen zu einer logischen Verbündeten bzw. potenziellen Trägerin von Citizen Science. 

Ebenso ist festzuhalten, dass Volkshochschulen auch heute ein besonders enges Verhältnis zur Wissenschaft haben, welches fast als Alleinstellungsmerkmal zu begreifen ist. Dazu gehört ein klar deklariertes Kursangebot: jährlich über 200.000 Personen, die VHS-Kurse und Einzelveranstaltungen aus den Bereichen Naturwissenschaften, Technik und Umwelt bzw. Politik, Gesellschaft und Kultur besuchen und übrigens auch bezahlen. Und der – bewusst gewählte – Anspruch an das Gesamtprogramm, nur wissenschaftsbasierte ­Angebote anzubieten. 

Welche Lernprozesse – welche Wirkungen?

Analysen, welche sich mit der Wirkung von Citizen Science-Projekten auseinandersetzen, behandeln u. a. die Frage, inwieweit das jeweilige Projekt zu individuellen Verhaltensänderungen beiträgt. Existiert hier ein sozialer oder ökologischer „Impact“ im Sinne höherer Beteiligung bzw. Aufmerksamkeit gegenüber gesellschaftlichen Problemen/Herausforderungen? Umgekehrt sind die Volkshochschulen vom individuellen und gesellschaftlichen Nutzen bestimmter Lernprozesse überzeugt. Der Mehrwert von Lernen an Volkshochschulen ist in diesem Kontext erwiesen. 2018 bis 2020 wurde von der Donau-Universität-Krems in Kooperation mit dem VÖV ein Nachfolgeprojekt der Studie Benefits of lifelong Learning (BeLL) an den österreichischen Volkshochschulen umgesetzt10. Teilnehmende aus 200 Kursen (vor allem von Sprach- und Bewegungskursen) wurden hier im Sinne der Veränderung, die sie durch den Kursbesuch erlebten, befragt. Herausragend waren erstens die Veränderungen im Bereich Lernmotivation: Hier sahen 90 Prozent der Teilnehmenden eine entsprechend positive Veränderung. Der zweite Bereich, der aus „BeLL-Österreich“ herausgegriffen werden kann, sind das persönliche Wohlbefinden sowie die Themen Toleranz und soziale Eingebundenheit: Hier liegen die positiven Veränderungen nach Wahrnehmung der Befragten bei über 80 Prozent. Das bedeutet: Teilnehmende an einem Sprach-, Bewegungs- oder eben Nähkurs nehmen für sich wahr, dass durch die Kursteilnahme ihr Respekt vor anderen Menschen steigt und sie besser in soziale Netzwerke eingebunden sind. Sie denken, ihr Leben besser zu meistern und fürs Weiterlernen motivierter zu sein. Ist nicht davon auszugehen, dass wenn Erwachsene freiwillig und partizipativ im Rahmen von Citizen Science-Projekten lernen, sich ähnliche Effekte einstellen? Es gibt hier also – möglicherweise – eine hohe Konvergenz zwischen der Arbeit von Volkshochschulen und zumindest einer bestimmten Praxis von Citizen Science.

Was braucht Citizen Science im Rahmen der Erwachsenenbildung? 

Welche Ansatzpunkte gibt es hier?

Eine massive Ausrollung von Citizen Science in der Erwachsenenbildung und an Volkshochschulen im Speziellen bräuchte einen grundlegenden Wandel in den Prioritätensetzungen auf drei Ebenen, nämlich auf der

  • Makroebene: Bildungspolitik, aber ebenso auf der 
  • Mesoebene, d. h. in den Bildungs- und Forschungsinstitutionen und 
  • auf der Mikroebene, in ihren Kursformaten bzw. Bildungsveranstaltungen 

Auf der Makroebene, also der Bildungspolitik, geht es vor allem darum, das demokratische Potenzial von Citizen Science zu erkennen und entsprechend zu unterstützen. Dreh- und Angelpunkt ist hier zunächst der vom Bildungsministerium wieder thematisierte Zusammenhang zwischen Demokratie- und Wissenschaftsfeindlichkeit.11

Citizen Science ist hier gerade auch als wirksames Instrument zu sehen, durch möglichst breite und intensive Partizipation das Vertrauen in Wissenschaft (und damit die Demokratie) zu stärken. Das kann durch entsprechende Projekte und Programme geschehen, aber auch über Modelle, welche etwa die Teilnahme an entsprechenden Projekten honorieren bzw. Kinderbetreuung und andere Ressourcen bereitstellen. Dies wäre jedenfalls ein breiterer, nämlich inklusiverer und partizipativer Ansatz als aktuelle Programme wie DNAustria die bestenfalls auf die Demokratie/Wissenschaft-Wissensdefizit-Behebung durch mehr Wissenschaftskommunikation setzen. Spannend wäre es darüber hinaus, auch speziell Projekte mit einem größeren, überregionalen Impact und hohem Partizipationslevel vermehrt zuzulassen und zu fördern. Freilich brauchen wir dafür auch starke Institutionen der Erwachsenenbildung als Rahmen.

Auf der Mesoebene (also der Ebene der Gemeinde, aber v. a. auch der Bildungsinstitutionen) geht es um die Interaktion von entsprechenden Projekten mit dem jeweiligen (eigenen) lokalen Umfeld. Primär ist hier die Bereitschaft, Citizen Science-Projekte überhaupt zuzulassen, welche einen echten Impact auf die Gestaltung des Zusammenlebens bzw. auf die Schwerpunkte und Angebote von Bildungsinstitutionen haben. Das bedeutet in der Praxis vor allem auch die Bereitschaft der Auseinandersetzung mit (berechtigter) Skepsis – oder auch schlichtweg mit dem kritischen Bewusstsein von Bürgerinnen und Bürgern, welches manchmal einfach mit Demokratiemüdigkeit und mit autoritären Tendenzen in einen Topf geworfen wird. Die Erwachsenenbildung hat hier enormes „Vermittlungspotenzial“. Volkshochschulen sind stark im „Zulassen“ von Auseinandersetzung, aber auch gleichzeitig stark im „Vertreten von Werten“, Werten, die den Menschenrechten, aber auch der Wissenschaft verpflichtet sind. Und die Erwachsenenbildung hat nicht nur große Kompetenz einzubringen, um Projekte durchzuführen. Sie kann auch Forschungsinstitutionen bei der notwendigen Öffnung unterstützen bzw. hier insgesamt als Brücke zwischen Wissenschaft und Politik fungieren.

Auf der Mikroebene,also auf der Ebene von Bildungsangeboten, kann es darum gehen, zumindest Ansätze und Methoden von Citizen Science in manchen Kurssegmenten oder Formaten zu verankern. Zum Beispiel könnte man im Bereich der Grund-/Basisbildung systemimmanent die Erstellung und Durchführung eines Citizen Science-Projekts vorsehen und dieses ggf. sogar curricular verankern. Oder durch ein entsprechendes Projekt ein Prüfungsfach in der Berufsreifeprüfung (bzw. in der Folge der „allgemeinen“ Matura?) ersetzen. 

Zum Schluss: Menschen nicht nur zu befähigen, Wissenschaft zu verstehen, sondern die Wissenschaft selbst als demokratisches Feld zu verstehen, ist unzweifelhaft ein Zugang, der im Selbstverständnis von Volkshochschulen liegt. 

Im Band der Spurensuche aus dem Jahr 2021 fasst das Editorial von Christian Stifter und Celine Wawruschka treffend zusammen, um welche Impulse es – gerade aus Perspektive der Volkshochschulen – gehen kann: Natürlich ist es wichtig, dass (mehr) Bürger*innen an Auswertungen teilnehmen. Aber Teilhabe ist nicht nur Wissensgenerierung, sondern es geht um Teilhabe an Entscheidungs- und Problemlösungsprozessen; es geht um „Wissensgerechtigkeit“13 – ein ureigenstes Thema der Volkshochschulen. //

1   Basierend auf einem Vortrag beim Symposium zu Citizen Science in der Erwachsenenbildung an der Urania Graz, 7. Juni 2024 

2   Nachzulesen unter: https://www.vhs.at/de/e/science/b/2019/04/24/citizenscience#was-genau-versteht-man-unter-citizen-science

3   Mehr zu Edgar Zilsel unter: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Edgar_Zilsel

4   Mehr zu Moritz Schlick unter: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Moritz_Schlick

5   Nachzulesen unter:  https://files.adulteducation.at/uploads/vater_uni/vater_dschungel.pdf

6   Mehr dazu unter: https://www.citizen-science.at

7   Nachzulesen unter: Vgl.: https://www.citizen-science.at/eintauchen/was-ist-citizen-science

8   Eine positive Abweichung im Bereich der Wissenschaftskommunikation (im Sinne der Förderung durch die öffentliche Hand) ist das Science-Programm der Wiener Volkshochschulen (hervorgegangen aus University meets Public), eine dicke Broschüre. Die 300 Angebote können um ganze 32,- Euro (Science Card) besucht werden.

9   Mehr dazu unter: https://wba.or.at/media/pdf/bildungstheorie-steiner.pdf

10     Mehr dazu unter: https://adulteducation.at/sites/default/files/statistikberichte-auswertungen/BeLL-Studie-an-oesterreichischen-Volkshochschulen-2018-2022.pdf und https://magazin.vhs.or.at/magazin/2020-2/270-sommer-2020/schwerpunkt-benefit-lernen-in-der-vhs/welche-benefits-fuer-die-lernenden-hat-erwachsenenbildung-nach-der-teilnahme-am-kursangebot-von-volkshochschulen/

11   Vgl. dazu die „Ursachenstudie zu Ambivalenzen und Skepsis in Österreich in Bezug auf Wissenschaft und Demokratie“ im Auftrag des Bundesministeriums von Starkbaum et. al. 2023. Nachzulesen unter: https://irihs.ihs.ac.at/id/eprint/6648/4/ihs-report-2023-starkbaum-auel-et-al-endbericht-ursachenstudie-skepsis-wissenschaft.pdf

12   Mehr dazu im genannten Band der Spurensuche: „Populäres Wissen. Von der Laienforschung des 19. Jahrhunderts zur heutigen »Citizen Science« – eine Annäherung“. 30./31. Jg., 2021/22

13   Seitens der Volkshochschulen sind Die Wiener Volkshochschulen und der Verband Österreichischer Volkshochschulen Mitglied des Netzwerkes. Mehr dazu unter: https://www.citizen-science.at/en/network

Evers, John (2024): Ist Citizen Science ein Auftrag für die Erwachsenenbildung“ In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst 2024, Heft 283/75. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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