Roberto Simanowski: Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft.

Roberto Simanowski: Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft.
Berlin: Matthes & Seitz 2018, 300 Seiten

Neue Medien bedienen, vermag schon jedes Kind. Aufgeschreckte Erwachsene bemerken, dass sie von einer Generation mit flinken Daumen, Apps, Instagram, Facebook oder Internet überholt werden. Eine diesbezüglich kontrollierende Erziehung geht ins Leere. Medienbildung ist eine verspätete Antwort der „überholten“ Generation. Roberto Simanowski, Professor für Medienwissenschaft in Rio de Janeiro, bezweifelt den Erfolg gegenwärtiger Medienbildung. Sie richte sich zu sehr auf die Fähigkeiten, die Medien anzuwenden, zu wenig auf die kritische Auseinandersetzung, wie die Medien Individuen und Gesellschaft verändern und wie sie zugleich immer mehr „verschwinden“. Simanowski urteilt (S. 22): „Der Computer verschwindet umso mehr, je präsenter er wird, seine Allgemeingültigkeit macht ihn unsichtbar im ‚Gewebe des Alltags‘.“

Das Buch will Verantwortungsbewusstsein bei Erwachsenen wecken und anstelle bloßer pragmatischer Maßnahmen, Beschränkungen oder Verbote die Bildungsdimension neuer Medien thematisieren. Es geht nicht darum, wie Einzelne die Medien effektiv und sicher nutzen, meint der Autor, sondern um die Frage (S. 15): „Was machen die Medien mit uns?“ Nicht mit der Nutzung der Medien, sondern mit ihrer Kritik sowie mit dem Wechsel der Sorge vom Ich zum Wir beschäftigt sich der Autor in diesem Buch.

Die aktuellen Herausforderungen an die Medienbildung beschreibt der Autor in drei Kapiteln: Medien und Gesellschaft – Medien und Schule – Medien und Universität. Im ersten Kapitel folgt der Autor mit Nachdruck seiner Überzeugung, dass Aufforderungen etwas zu ändern die Art des Änderns betreffen sollten. Schulen und Universitäten, die Produzenten künftiger Wertvorstellungen, sollten nicht nur „Mediennutzungskompetenz“, sondern auch „Medienreflexionskompetenz“ vermitteln. Letztere soll Verständnis für die kulturstiftende Funktion der Medien vermitteln.

Ihm fehle, argumentiert Simanowski im zweiten Kapitel, dass „disruptiven Innovationen“ mit nicht ausreichender Technikfolgeabschätzung und zu wenig Erörterung von potenziellen Alternativen vorangetrieben werden. Diese Problematisierung sei in bestehenden Konzepten der Medienbildung kaum vorhanden. Dies führt im dritten Kapitel zur Sorge des Autors, dass „distant reading“ (oberflächliches Lesen, Analyse großer Textmengen mittels Computer) und „digital humanities“ (Einsatz computerunterstützter Verfahren in den Geistes-/Kulturwissenschaften) letztlich das kritische Potenzial der Geisteswissenschaften schwächen. Die „Kultur der Kritik“ in den Geisteswissenschaften, so der Autor, habe in den letzten Jahren ihre Stärke verloren. So werde die Welt von „Kritikern der Kritik“ lieber positiv gesehen (S. 176): „Es hafte der Kritik etwas Negatives, Dekonstruktives, ja Dekonstruktivistisches an, das die Gesellschaft beunruhige.“

In didaktischer Hinsicht stellt sich Roberto Simanowski gegen eine vereinfachende „Spaßpädagogik“. Nämlich, wenn zum Beispiel in geisteswissenschaftlichen Seminaren anstelle theoretischer Auseinandersetzung Praxis und Spaß die inhaltliche Leere überdecken und diskursive Kritik verdrängen. Aufwendig gestaltete, aber inhaltlich schwache PowerPoint-Vorträge, bemerkt der Autor, ersetzen nicht die intellektuelle Bearbeitung eines Themas.

Hinsichtlich Bildungs- und Forschungspolitik tritt der Autor für den Homo politicus, nicht für den Homo oeconomicus ein. Das langfristig Notwendige sollte nicht dem kurzfristig Nützlichen geopfert werden. Er äußert seine Bedenken vor Techniker/innen und Erfinder/innen, den, wie er sie nennt, „Demiurgen des digitalen Zeitalters, unbeschwert von jeglichen Selbstzweifeln“. (S. 222).

Simanowski plädiert dafür, kritische Geisteswissenschaft zu fördern, um „Tech-Industrie“ und „Apps“ mit gebotenem Skeptizismus zu betrachten. Seine gesellschaftspolitische Hoffnung richtet sich darauf, „(…) dass endlich ein genaueres Nachdenken über die langfristigen gesellschaftlichen Folgen sozialer Netzwerke und digitaler Technologien einsetzt“. (S. 223).

Das theoriebasierte Buch bietet viele Denkanstöße und Literaturhinweise. Es kann in Kursen der politischen Bildung und in der Vermittlung von Kenntnissen über neue Technologien – wobei auch der Reflexion über absehbare soziale Fragen Raum gegeben wird – eingesetzt werden. //

Lenz, Werner (2018): Roberto Simanowski: Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst 2018, Heft 265/69. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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