Das Sprechen über faire Bildungschancen ist nicht nur eine Reformulierung des in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (AEMR) von 1948 festgehaltenen Individualrechts auf Bildung. Zugleich sind breit zugängliche Bildungsprozesse auch „ein zentrales Instrument, um den Menschenrechten zur Geltung zu verhelfen“ (Bielefeldt & Seidensticker: 2006, 5). In der frühen bildungsexpansiven Phase der 1970er-Jahre wurde das Menschenrecht auf Bildung zudem auch im Zusammenhang mit dem Lernen über die gesamte Lebensspanne thematisiert und damit für die Mobilisierung und Legitimation öffentlicher (Mit-)Finanzierung der Erwachsenenbildung genutzt.
Dass berufliche Bildung ein bedeutsamer und auch anstrebenswerter Weg der Integration in eine wesentlich von Erwerbsarbeit geprägten Gesellschaft darstellt, ist spätestens seit der Preisschrift „Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend“ Georg Kerschensteiners (1901) fixer Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der deutschsprachigen Berufspädagogik. Denn seine von der königlichen Akademie der gemeinnützigen Wissenschaften zu Erfurt gekrönte Schrift argumentierte, dass es eben die auf Selbsttätigkeit abstellende Arbeitserziehung wäre, die dabei unterstützt, seinen (damals tatsächlich noch auf die männliche Jugend eingeschränkten) Platz in einer arbeitsteiligen Gesellschaft zu finden und auszufüllen. Das damit auch zum Ausdruck gebrachte Recht auf freie Berufswahl, welches sich zwischenzeitlich ja auch in den AEMR (Artikel 23 Abs. 1) findet und die vagen Feststellungen im österreichischen Staatsgrundgesetz (1867, Art. 18 StGG) ergänzt, überwindet feudale und ständische und damit geburtsrechtliche Positionszuweisungen oder zünftische Bindungen durch die Möglichkeit eines individuell gestalteten gewerbebürgerlichen Lebenslaufs (Schlögl: 2014, 70 f.). Aber mit der Anforderung einer solchen Gestaltung war und ist auch verbunden, mit einem Überschuss oder zumeist einem Mangel an Verwirklichungschancen umzugehen. Folglich zeigen sich erhebliche Abhängigkeiten vom sozialen Umfeld in dem Bildungswahlentscheidungen getroffen werden und dies führt dazu, dass in der medialen Berichterstattung pointiert vom Matthäus-Effekt („Wer hat, dem wird gegeben“) und von Vererbung von Bildung gesprochen wird. Wobei hier vorrangig die formalen Bildungsabschlüsse oder -niveaus zum Vergleich herangezogen werden. Neben diesen bildungsbezogenen Merkmalen sind Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund und Sprachkenntnisse weitere Faktoren und insbesondere deren Kombination haben Einfluss auf erfolgreiche und nachhaltige Integration in Beschäftigung und bezüglich erzielbarer Einkommen.
Berufliche Qualifikation als Normalfall
Jedenfalls ist „Ausbildung […] ein Schlüsselfaktor zur Verbesserung der persönlichen Beschäftigungschancen“ (Horvath & Mahringer: 2014, 309) und individuelle Leistungsunterschiede zwischen Personen gleicher formaler Bildung lassen nur geringe Effekte erkennen (ebd.). Insofern kommt den formalen Abschlüssen zentrale Bedeutung zu. Hinsichtlich weiterführender Bildung im Anschluss an die Schulpflicht, wird in Österreich berufliche Bildung bei weitem am häufigsten gewählt. Beinahe vier Fünftel besuchen entweder eine betriebsbasierte Lehrausbildung oder eine berufsqualifizierende Schule (Schlögl et al.: 2019, 269). Und die seit 2017 in Kraft befindliche Ausbildungspflicht bis 18 nimmt nunmehr auch für jene, die bisher keine weiterführende Ausbildung begonnen hatten, in die Pflicht. Insofern fügt sich hier Österreich in die Gruppe jener wenigen Länder ein, in denen berufliche Bildung auf der oberen Sekundarstufe nicht ident ist mit ‚second chance education‘, um Schulleistungsschwachen einen verbesserten Zugang zu Beschäftigung ermöglichen, sondern hohes Gewicht auf Berufsbildung in der oberen Sekundarstufe legt.
Dennoch werden diejenigen beruflichen Positionen, die mit hohem sozialem Prestige und eben solchen monetären Renditen verbunden sind, weiterhin über die allgemeinbildenden und hochschulischen Pfade erschlossen. Wenngleich hier die im internationalen Vergleich speziellen Formen berufsbildender höherer Schulen über lange Zeit eine Funktion des sozialen Lifts übernommen hatten. Es wird angenommen, dass dies mit ihrer Doppelqualifikation (hochwertiger Berufsabschluss und allgemeine Hochschulzugangsberechtigung) zu tun hat, weil damit der Erwerb einer Reifeprüfung verbunden war, aber nicht weitgehend alternativlos in ein hochschulisches Studium führt (wie ein gymnasialer Abschluss) und den Elternhaushalt nicht so lange an erwerblose Ausbildung bindet.
Insofern ist mit diesem seit dem großen Schulregelwerk 1962 rasch ausgebauten Schultyp eine Jahrzehnte anhaltende Erfolgsgeschichte verbunden. So werden seit der Mitte der 1990er-Jahre auch mehr Reifeprüfungen an den Berufsbildenden höheren Schulen (BHS) abgelegt als an Allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS). In den letzten Jahren haben drei wesentliche Strukturveränderungen begonnen diese Entwicklung zu dämpfen oder umzukehren, die weniger von einer veränderten Akzeptanz der BHS-Abschlüsse her begründbar sind, sondern vielmehr durch Entwicklungen im Hochschulsektor. Dies sind erstens die im Zuge der anhaltenden Bildungsexpansion auch aus den BHSen zunehmenden unmittelbaren Übertritte ins Hochschulsegment, zweitens die Mitte der 1990er-Jahre eingeführten Fachhochschulstudien, die explizit berufsfeldorientiert ausgerichtet sind und mit straffer Studienorganisation planbarere Studiendauern in Aussicht stellen sowie drittens die Umstellung der Studienarchitektur auf die Studienzyklen der Bologna-Architektur und den damit verkürzten Studiendauern bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss (Bachelor) lassen veränderte Orientierungen erkennen und die gymnasialen Oberstufenformen gewinnen langsam wieder Anteile hinzu.
Das andere große Segment berufsqualifizierender Ausbildung in der Sekundarstufe, die betriebliche Lehrausbildung, die seit einer Novellierung des Berufsausbildungsgesetzes 2015 nun auch offiziell als duale Ausbildung (Betrieb und Teilzeitberufsschule) bezeichnet wird, zeichnet sich gegenüber den aufstiegsorientierten BHSen dadurch aus, dass der Sozialstatus der Eltern hier eher reproduziert wird. Eltern mit Lehrabschluss streben einen eben solchen für ihre Kinder häufiger an und dies manifestiert sich auch in der realisierten Bildungswahl (zumindest nach der neunten Schulstufe, die häufig noch im beruflichen Schulwesen absolviert wird). Ungeachtet der quantitativen Bedeutung zeigt sich ein verändertes Ausbildungsverhalten der Betriebe in Österreich, das sich in einem rückläufigen Lehrstellenangebot manifestiert. Dies vollzieht sich neben gesamtwirtschaftlichen Dynamiken, Veränderungen der Arbeitsanforderungen in einer zunehmend globalisierten Wirtschaft auch vor dem Hintergrund der unmittelbaren Konkurrenz um leistungsstärkere Jugendliche mit den berufsbildenden mittleren und höheren Schulen, die unabhängig von demografischen Entwicklungen auch bei sukzessiv rückläufigen Schulabgängerkohorten stabile Ausbildungsplatzkapazitäten vorhalten. In diesem Zusammenhang wurden zahlreiche politische Maßnahmen gesetzt um die „Attraktivität“ der Lehrausbildung für Betriebe und Jugendliche zu erhalten oder zu erhöhen.
Waren dies zur Beeinflussung von betrieblichen Ausbildungsentscheidungen vorrangig finanzielle Anreiz- und Fördermodelle (Blum-Bonus, betriebliche Lehrstellenförderung, siehe dazu Dornmayr et al.: 2016, 17 ff.) war es zur Hebung des Image und der Verbesserung der Durchlässigkeit im Bildungssystem für LehrabsolvenInnen die Einführung der Berufsreifeprüfung (BRP) 1997, sowie mit der Novelle zum Berufsreifeprüfungsgesetz aus dem Jahr 2008 die Ermöglichung, die Mehrzahl der Teilprüfungen der Berufsreifeprüfung bereits vor Abschluss der Lehre abzulegen. Um diese neue Umsetzungsvariante der Berufsreifeprüfung den Lehrlingen (Berufsmatura, Lehre mit Matura) entgeltfrei zugängig zu machen, wurde durch Fördergelder des Bundes und in Kooperation mit allen Bundesländern ein entsprechendes Angebot an Vorbereitungslehrgängen sichergestellt.
Und in der Tat hat sich die BRP seit ihrer Einführung als das zentrale Instrument des Erwerbs einer Hochschulzugangsberechtigung für Berufserfahrene herauskristallisiert und schon bald die Zahl von Studierenden in den Abendschulen überholt (Brückner et al.: 2017, 43).
Trotz dieser positiven Zahlenentwicklungen zeigen sich in den hochschulischen Einrichtungen aber auf niedrigem Niveau stagnierende, wenn nicht gar rückläufige Anteile an sogenannten nicht traditionellen Zugängen zu Studien, auch bei den Fachhochschulen. So ist in Österreich das Reifeprüfungszeugnis mit über 99 Prozent die absolut dominierende Hochschulzugangsberechtigung zu Universitäten und auch die Fachhochschulen lassen mit unter sieben Prozent von Erstzugelassenen ohne Reifeprüfung gegenüber den Universitäten eine eher verhaltene Öffnung erkennen. Reifeprüfungen wie die BRP aber auch Externisten- und Abendschulformen stellen in allen Hochschultypen des Weiteren nur kleine Anteile (unter zehn Prozent) dar (Schlögl: 2019, 500). Auffällig ist bei der Berufsmatura weiters, dass „[e]in großer Anteil der TeilnehmerInnen […] bereits Erfahrungen im vollschulischen Berufsbildungsbereich (berufsbildende mittlere oder höhere Schulen) gesammelt und eine entsprechende Ausbildung begonnen aber nicht abschlossen“ hatte (Schlögl et al.: 2012, 6).
Herkunftsbedingte Bildungswahl als robustes Phänomen
Diese starke Fragmentierung würde schon Fragen aufwerfen, wenn dies allein mit (Schul-)Leistungsdaten in Verbindung stehen würde. Jedoch ist es belegt (zunächst in empirischen Forschungen und mittlerweile fixer Bestandteil der laufenden Bildungsberichterstattung), dass das effektive Bildungs- bzw. Berufsbildungswahlverhalten wesentlich mit dem sozioökonomischen Hintergrund im Elternhaushalt korreliert. Bildungsstand der Eltern als Indikator für berufliche Stellung und Einkommen lassen eine robuste Prognose über die statistische Wahrscheinlichkeit der Bildungswege von Kindern zu bzw. der Verteilung über die verschiedenen Pfade: „Herkunftsbedingte Ungerechtigkeiten prägen den gesamten Bildungsverlauf im formalen System und werden jeweils an Schnittstellen akut“ (Neubacher et al.: 2019, 210).
Trotz dieser ungleichen Zugänge zu den mit unterschiedlichem sozialem Prestige und ökonomischen Renditen versehenen Qualifikationsstufen, gelingt es aber durch jede Form der über die allgemeine Schulpflicht hinausgehende Qualifikation, die Eingliederung ins Erwerbsleben zu verbessern und das Risiko, arbeitslos zu sein oder zu werden, unter den Durchschnitt zu drücken (AMS: 2020). Damit ist durch Teilhabe am Beschäftigungssystem der wesentlichste Hebel zur Bekämpfung von Armut, nämlich Erwerbsarbeit, erfolgreich in Anschlag gebracht. Ausreichend ausgestattete Instrumente der sozialen Sicherheit sollten in einem Wohlfahrtsstaat bei den übrigen Fällen oder bei temporären Bedarfen greifen. Dass eine solche pauschale Einschätzung in geschlechts- oder altersspezifischer, regionaler oder branchenspezifischer Betrachtung nicht durchgängig gilt, muss jedoch klar sein. Und auch weitere Parameter wie höhere Lebenszufriedenheit und Gesundheit und damit in Verbindung die Lebenserwartung korrelieren mit steigendem Bildungsniveau. Insofern ist zwar ein Sicherheitsniveau mit weiterführender Bildung – in Österreich weitgehend beruflich orientierter Bildung – erreicht. Entsprechende Mobilität über das in der Erstausbildung erreichte Niveau könnte ja auf Aktivitäten im Rahmen von Weiterbildung verschoben werden und dort im Zuge lebenslanger Bildung aufholende oder höherqualifizierende Prozesse Platz greifen.
Weiterbildung als Kompensationsraum?
Dass sich die Struktur der TeilnehmerInnen in der Weiterbildung grundsätzlich durch Ungleichheit auszeichnet, ist ein in der Forschung und pädagogischen Reflexion bekanntes und gut dokumentiertes Phänomen, wenngleich es sich gegenüber dem Schul- und Hochschulbereich um eine „verspätete Debatte um Ungleichheit“ handelt (Gruber: 2008, 39). Sofern damit Kompensation von Diskriminierungen in Erstausbildungen gegengesteuert würde, wäre das positiv einzuschätzen. Jedoch wirken, neben unterschiedlichen finanziellen Ressourcen, die zur Verfügung stehen, in der Weiterbildung tradierte Verständnisse, domänenspezifische Kulturen zu Lernen und Bildung und zeigen ihre Wirkung ebenso wie Kategorien wie Geschlecht, Alter und berufliche Stellung. Das hohe Maß, in dem sich Gruppen unterschiedlich beteiligen, wurde entsprechend als „doppelte Selektivität“ (Faulstich: 1981, 61 ff.) oder „Weiterbildungsschere“ (Schulenberg et al.: 1978, 22) beschrieben. Leider „zeigt sich, dass Bildungsungleichheit durch Weiterbildung nicht grundsätzlich kompensiert, sondern in der Regel zunehmend erhöht wird“ (Schlögl et al.: 2014, 82). Resignativ fasst Friebel (1996, 217) in einem Überblick über die TeilnehmerInnenforschung ernüchternd zusammen, dass die Idee einer offenen Weiterbildungslandschaft wohl nur eine „politisch gewollte Kunstfigur“ darstellt, und mit der Weiterbildungsrealität nichts zu tun hätte.
Aber …
Dieser resignative Befund wird in seiner Allgemeinheit wohl zur Kenntnis zu nehmen sein. Dessen ungeachtet lassen sich aber Initiativen zeigen, die für bestimmte, oft klar umrissene Zielgruppen, ganz klar positiv-diskriminierende Effekte zeigen. Eine demonstrative Aufzählung mit weiterführenden Hinweisen, will an dieser Stelle aufzeigen, dass gezielte berufsorientierte Maßnahmen für mehr oder weniger große Gruppen von Personen doch erheblich zu verbesserter Chancengerechtigkeit beitragen und dies sich auch empirisch belegen lässt:
- Überbetriebliche Lehrwerkstätten: berufsqualifizierende Ausbildung für mit Lehrstellen unversorgte Jugendliche, die potenziell bis zum Berufsabschluss absolviert werden können (Schlögl et al.: 2020).
- Integration von Geflüchteten in betriebliche oder schulische Berufsbildung (Aerne & Bonoli: 2021; Schlögl et al.: 2018).
- Berufsreifeprüfung (als Externistenprüfung) zum Erwerb eines allgemeinen Hochschulzugangs für Berufsqualifizierte, ohne das Curriculum höherer Schulen vollständig nachholen zu müssen (Klimmer et al.: 2006; Klimmer & Schlögl: 1999) sowie das bundesweite Förderprogramm Berufsmatura: Lehre mit Reifeprüfung (Schlögl et al.: 2012).
- Aktive Arbeitsmarktpolitik und arbeitsmarktpolitische Schulungsmaßnahmen: Für Österreich wurde für mehrere Maßnahmen eine Wirkung nachgewiesen, insbesondere wenn eine Teilnahme relativ früh im Laufe der Arbeitslosigkeit oder für bestimmte mehrfach Benachteiligte erfolgt (Lechner & Wiehler: 2013; Eppel et al.: 2017).
Diese Aufzählung ist gewiss unvollständig und bezieht sich auf stabile Angebotssegmente oder temporäre Maßnahmen (Angebote für Geflüchtete). Gemeinsam ist ihnen, dass sie, wenngleich oftmals in Einrichtungen der Erwachsenenbildung umgesetzt, im Kern immer formale Abschlüsse des (Erstaus-)Bildungssystem reproduzieren. Entsprechende Analysen für die kompensativen Beiträge planvoller betrieblicher Weiterbildungsarbeit oder durch die aktuell intensiv diskutierten Optionen zur Validierung von früheren Lernleistungen oder Kompetenzen stehen noch aus. Ungeachtet dessen weist der einführend vorgestellte normative Aspekt des Rechts auf Bildung darauf hin, dass sich entsprechende Angebote wohl nicht ausschließlich auf individuelle oder kollektive Erträge stützen müssen, um legitimiert zu sein. Das aktuell sehr präsente Kalkül der öffentlichen Investition in Bildung mit der Annahme eines kollektiven Nutzens, führt in der Zwischenzeit zu einem erheblichen Verteilungskampf um Geldmittel zwischen den Bildungssektoren, wobei in den letzten Jahren eher die vorschulischen und hochschulischen Einrichtungen zu den monetären Gewinnern zu zählen sind und weniger die berufliche Bildung und schon gar nicht die Weiterbildung. //
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