Die Religionsgemeinschaft der Aleviten ist im letzten Jahrzehnt nachhaltig im Bewusstsein der Österreicher verankert worden – nicht zuletzt durch die Würdigung, die ihr Barbara Frischmuth mit ihrem Roman „Die Schrift des Freundes“ zukommen ließ. Umso bedauerlicher ist es, dass das Wissen um die Lehren und Praktiken dieser alten anatolischen Glaubensrichtung und das Verständnis für ihre schwierige Situation in einer religiös-ideologisch aufgeheizten Zeit nach wie vor große Defizite aufweist. Das vorliegende Buch hätte diese Lücke schließen können, wäre das in der Absicht des Autors gelegen.
Reza Algül, Schriftsteller und Musiker mit türkischen Wurzeln und starken Affinitäten zur persischen Kultur und zum marxistischen Weltbild, geht es aber in erster Linie um die grundlegende Frage, was das Alevitentum eigentlich sei. „Ist der Alevismus eine Philosophie, eine Glaubensrichtung, eine kulturelle, eine soziale oder eine politische Lebensform?“ (S. 10). Die Antworten darauf sind für ihn wesentliche Orientierungshilfen in der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne innerhalb der alevitischen Gemeinschaft. Indem er das Alevitentum radikal gegenüber dem Islam, dem Christentum, dem Judentum, aber auch gegenüber der islamischen Mystik abgrenzt und es als philosophische Weltanschauung – als anatolische Spielart der Aufklärung mit starken Parallelen zum Marxismus – darzustellen versucht, positioniert er sich klar und deutlich in diesem Diskurs. Marxistische Phrasen und Argumentationen durchziehen das Buch vom Anfang bis zum Schluss. Die wechselvollen und wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Schiitentum, Sufismus und Alevitentum bleiben größtenteils ausgespart, ebenso die historischen Verflechtungen zwischen dem Bektaschi-Orden, dem Janitscharenkorps und dem osmanischen Herrscherhaus. Breite Darstellung finden hingegen Weltanschauung, Menschenbild und Soziallehre, die unter anderem dazu beitrugen, dass alevitische Gemeinschaften in Anatolien zum Nährboden verschiedener linker Gruppierungen wurden. In diesem Zusammenhang erhält auch der konsequente Gebrauch des älteren, heute kaum mehr verwendeten Begriffs „Alevismus“ grundsätzlichere Bedeutung.
Der Standpunkt des Autors deckt sich nicht mit der aktuellen Situation in Österreich, wo das Alevitentum seit 2013 anerkannte Religionsgemeinschaft ist und sich selbst als „Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich“ (www.aleviten.at) versteht. Die „Alevitische Gemeinde Deutschland“ (www.alevi.com) definiert sich in gleicher Weise, ist aber durch Hinweise auf unterschiedliche Strömungen innerhalb des Alevitentums – selbstbewusste Aleviten, Alevi-Muslime und traditionelle Isolationisten – differenzierter und realitätsnäher.
Algül erklärt die Entstehung des Alevitentums aus der vorislamischen persischen Kultur und setzt sich in einer intensiven Religionskritik mit dem Islam auseinander. Daran schließt eine Beschreibung des „gelebten Alevismus“ (S. 82) an, die einerseits die praktische Lebensform im Blick hat, andererseits das kulturelle Erbe, vor allem die Werke der großen alevitischen Literaten, wie Hadschi Bektasch Veli, Pir Sultan Abdal oder Yunus Emre, die ausgiebig zitiert werden. Dabei wird auch der persische Dichter Omar Chayyam als Alevit vereinnahmt.
Über die gelebte Glaubenspraxis erfährt man leider zu wenig. So wird das alevitische Wertesystem, das im Weg der „vier Tore und vierzig Regeln“ oder im Grundsatz „Beherrsche deine Hand, deine Zunge und deine Lenden“ zum Ausdruck kommt, nur kursorisch gestreift. (S. 170-172 bzw. 264-266). Das Verhältnis zwischen Mensch und Gemeinschaft kommt unter Ausblendung des spirituellen Aspekts zur Sprache. (S. 255–263).
Ein Blick in die Literaturliste verfestigt den gewonnenen Eindruck. Neben dem Gesamtrepertoire gesellschaftskritischer Basisliteratur finden sich lediglich Joseph Campbells „The Masks of God“ (1962–1968) und Émile Durkheims „Les règles de la méthode sociologique“ (1895) als religionstheoretische Werke. Die Islamkritik basiert nur auf den Arbeiten marxistischer Historiker wie Maxime Rodinson (1961) oder August Bebel (1888). Die Literatur zum Alevitentum ist fast ausschließlich auf Türkisch und somit für interessierte österreichische Leser wenig hilfreich. Hier sei auf die Literaturliste im Wikipedia-Eintrag „Aleviten“ verwiesen.
Wer eine detaillierte Darstellung des säkularen und gesellschaftspolitischen Gedankengutes innerhalb des Alevitentums sucht, findet sie in diesem Werk. Als verständnisfördernde Gesamtdarstellung dieser über Jahrhunderte zurückgezogen existierenden Glaubensrichtung, die im Zuge von Migration und Globalisierung ihre Isolation und Segmentierung aufgeben und zu einer neuen umfassenden Identität finden muss, dient Reza Algüls Buch allerdings nicht. //
Eine Gegenkritik zur Rezension Hannes D. Galters
Die von Herrn Galter verfasste Rezension meines neuen Buches „Der Alevismus: Eine Lehre, die Gott ins Verhör nimmt“ habe ich mit großer Aufmerksamkeit mehrmals gelesen. Leider muss ich sagen, dass die darin enthaltenen Interpretationen den Themen meines Buches inhaltlich und methodisch sehr fern stehen. Sie gehen auf die Themen des Buches nicht ein, die ich aus den konkreten Originalquellen des Alevismus heraus entwickelt habe. In der Kritik geht es nicht um den Inhalt der Quellen der alevitischen Philosophie und Prinzipien, sondern um Wunschvorstellungen über den Alevismus und die Aleviten.
Der Alevismus wurde durch Hadsche Bektasch Veli im 13. Jahrhundert aus verschiedenen den Kulturen und Religionen verschiedener Nationalitäten in Anatolien entwickelt. Die philosophischen Prinzipien des Alevismus sind die Thesen und Erklärungen ihres Gründers. Hadsche Bektasch Veli ist deshalb „Quelle der Quellen“ des Alevismus. Alle Aleviten, ob sie sich nun als „nicht Muslime“ oder als „Muslime“ sehen, akzeptieren ihn gleichermaßen. Seine philosophischen Thesen stammen von Mansur al-Halladsch, der wegen seiner „Gottesleugnung“ („En el Hak = der Mensch ist Gott, ich bin der Gott“) im Jahr 922 nach Chr. gevierteilt wurde. Hadsche Bektasch Veli hat seine Thesen („Vergöttlichung des Menschen“) weiter entwickelt, bereichert, theoretisch und gesellschaftlich strukturiert.
Wenn man die Thesen und Prinzipen von Mansur al-Halladsch, Hadsche Bektasch Veli und seinen Schülern und Nachfolgern, Dichter-Philosophen wie Yunus Emre, Said Emre Kaygusuz Abdal und vielen anderen, übersieht oder übersehen will, bleibt vom Alevismus nichts übrig. Auf der anderer Seite bedeutet das für die Aleviten eine philosophische und kulturelle „Entwaffnung“. Im Iran und in Anatolien (seit 1923 bis heute in der Türkei) haben sich die islamischen Machthaber sehr bemüht, die Aleviten durch di philosophische und kulturelle Entwaffnung zu assimilieren und islamisieren. Wenn es heute in Österreich eine Organisation mit dem Name „Alevitische Islamische Glaubensgemeinschaft“ gibt, und wenn man dort jetzt beginnt, den Koran zu lesen, ist das ein Zeichen der Assimilation und der Islamisierung der Aleviten. Das ist ein Teilerfolg des Islamismus.
Die Aleviten haben kein „heiliges Buch.“ „Das wertvollste Buch zu lesen, ist Wort des Menschen“ sagt uns genügend. Ich habe von den „wertvollste Worten des Menschen“ (alevitische Gründer und Dichter-Philosophen) viele originale Texte in Gedichtform in meinem Buch zitiert. In diesen Texten über dem Alevismus kann man grundsätzlich alles finden. Bemerkenswerterweise habe ich in Herrn Galters Rezension kein einziges Wort über diese Prinzipien gelesen. Das ist ein Zeichen seiner subjektiven Haltung.
Punktuelle Beispiele aus der Rezension Herrn Galters
1. „Religionsgemeinschaft der Aleviten“
Nach dem Verständnis Herrn Galters sind die Aleviten „nur eine Religionsgemeinschaft.“ Den Begriff „Alevitische Philosophie“ möchte er nicht sehen.
2. „Reza Algül … mit türkischen Wurzeln…“
Ich, Reza Algül, habe keinen „türkischen Wurzeln.“ Die „Wurzeln“ einer Person sind mir total unwichtig. Aber wenn sie für Herrn Galter wichtig sind, muss ich diesen Punkt korrigieren und festhalten, dass ich „persische Wurzeln“ habe. Türkisch habe ich erst in der Schule gelernt.
3. „In dem (Buch) er das Alevitentum radikal gegenüber dem Islam, dem Christentum, dem Judentum, aber auch gegenüber der islamischen Mystik abgrenzt (a) und es als philosophische Weltanschauung – als anatolische Spielart der Aufklärung (b) mit starken Parallelen zum Marxismus – darzustellen versucht (c), positioniert er sich klar und deutlich in diesem Diskurs“
a- Das stimmt nicht! Ich habe den Alevismus weder gegenüber dem Islam, noch gegenüber dem Christentum, dem Judentum oder auch gegenüber der islamischen Mystik abgegrenzt. Es ist einfach so! Der Alevismus hat eine Eigenstellung und er steht nicht „gegen“ irgendeine Religion. Die Geschichte des Alevismus und der Aleviten beweist klar, dass die Aleviten wegen keinen Menschen und keine Gruppe wegen deren Religion benachteiligt und unmenschlich behandelt haben. Ganz im Gegenteil: Der Islam hat die Aleviten wegen ihrer Prinzipien massakriert und ihre Anführer grausam ermordet. Noch etwas: Die Aleviten waren immer eine „Schutz-Gruppe“ für Menschen verschiedener Religionsangehörigkeit, die ihr Leben retten wollten.
Alevitische Philosophie vergöttlicht den Menschen und lehnt den abstrakten Gott-Allah ab. Dafür gibt es im mein Buch genügende originellen Quellen. Alevismus lehnt nicht nur den Gott-Allah ab, sondern lehnt auch alles Göttliches, beispielsweise Religion, heilige Bücher, Jenseits, Paradies und Hölle ab.
Islamische Mystik (Sufismus) distanziert sich nicht zu Gott-Allah. Ganz im Gegenteil: Um den Gott-Allah und die Offenbarungen rechtfertigen zu wollen bemüht sie sich einen anderen Weg zu finden. Die Sufisten haben Tag und Nacht gebetet um sich dem Gott-Allah anzunähern. Sie haben sich aus der Gesellschaft ausgeschlossen, asketisch gelebt und Asketik war ihr Leben.
b- Ja, der Alevismus ist eine Philosophie und hat – wie jeder Philosophie – eine Weltanschauung und das Ideal einer Welt, in der alle Menschen ohne Ausbeutung, ohne Krieg, ohne Gewalt miteinander leben können. In den Quellen meines Buches gibt es dafür genügende Erklärungen.
c- Erstens: In der alevitische Philosophie steht der Mensch im Mittelpunkt. Die Menschheit hat immer nach Lösungen gesucht und sie erreicht, wo sie Schwierigkeiten hatte. Zwischen der Gründung des Alevismus (13. Jh.) und dem Marxismus (19. Jh.) stehen sechshundert Ich habe mich bemüht, zwischen dem Alevismus und den gesellschaftlichen Theorien und dem Gedankengut anderer Völker geschichtliche Ähnlichkeiten und Parallelitäten zu finden.
Zweitens: Über die marxistischen Thesen zur Religion gibt es innerhalb der Aleviten (aber auch in den allgemeinen linken Bewegungen) unrichtige Interpretationen. Ich habe mich bemüht zu definieren und zu klären, was Marx eigentlich über die Religion gesagt hat.
d- Ich kenne keinen Autor, der sich – mehr oder weniger – in seinem Werk nicht positionieren wird. Auch Her Galter ist keine Ausnahme. In seinem kurzen Text lese ich seine Positionierung ganz eindeutig. In dieser Welt leben, aber sich „nicht positionieren“, ist undenkbar. Der Alevismus positioniert sich auch. In meinem Buch geben die originalen Quellen dafür viele Beispiele. Ich hätte mir gewünscht, dass Herr Galter über diese Quellen ein paar Sätze geschrieben hätte.
4. „‚Der Alevismus‘ ist ein kaum mehr verwendeter Begriff…“
Erstens: Es kann sein, dass der Begriff „Alevismus“ im deutschsprachigen Raum neu ist und deshalb manche Menschen erschreckt. Daher kann es Menschen geben, die gewöhnlich gegenüber diesem Begriff „Alevismus“ skeptisch sind. Es kann auch Menschen geben, die diesen Begriff absichtlich ablehnen, weil sie die Aleviten als eine „religiöse Gruppe“ sehen wollen.
Zweitens: Im Türkischen sind zwei Begriffe zu unterscheiden: „Aleviler“ (=„Aleviten“) und „Alevilik“ (=theoretische Arbeit über die Thesen und Prinzipien der Aleviten). „Aleviler“ kann ins Deutsche als „Aleviten“ übersetzt werden. Und „Alevilik“? Dafür gibt es im Deutschen kein entsprechendes Wort. Aus diesem Grund habe ich den Begriff „Alevilik“ als „der Alevismus“ übersetzt.
5. „Der Standpunkt des Autors deck sich nicht mit der aktuellen Situation in Österreich…“
Ich habe das Buch über die philosophischen und kulturellen Grundprinzipien der Aleviten geplant und geschrieben. Die „atuelle Situation in Österreich“ ist nicht das Thema des Buches.
Reza Algül (Februar 2016)