Der Zweite Bildungsweg an den Wiener Volkshochschulen seit 1945

„Österreich wirbt um indonesische Fachkräfte“ (orf.at, 12.5.20242). Solche Schlagzeilen lesen wir regelmäßig seit 2019 (z. B. Kleine Zeitung, 31.7.2019: „Österreich wirbt offiziell um Fachkräfte aus dem Ausland“3). Die Diskussion um fehlende höher qualifizierte Fachkräfte gab es aber schon viel früher. Sie poppt in unterschiedlichen Varianten immer wieder auf. So wird z. B. bereits in den späten 1950er Jahren in den USA und in Europa das Fehlen höher qualifizierter, „wissenschaftlich ausgebildeter“ Fachkräfte bemängelt. An den österreichischen Volkshochschulen wurde in diesem Zusammenhang die Debatte um einen Zweiten Bildungsweg aufgenommen. So wurden im Jahresbericht 1957/58 des Verbandes Wiener Volksbildung unter dem Titel „Der zweite Bildungsweg“ Gründe für die Notwendigkeit eines solchen diskutiert (Verband Wiener Volksbildung: 1957, S. 3–5). Neben der klassischen Frage des Bildungsprivilegs wurden in Bezug zur Fachkräftediskussion auch volkswirtschaftliche Gründe hervorgehoben. Realisierbare Perspektiven wurden mit konkreten Beispielen aus Deutschland, England, den USA und eigenen Erfahrungen aus einer „Studienreise österreichischer Volksbildner“ (ebd., S. 4) in die Sowjetunion belegt.

Bevor ich aber einen Aufriss des Zweiten Bildungswegs an den Wiener Volkshochschulen nach 1945, nach der faschistischen Zäsur, skizziere, möchte ich noch zwei wichtige Bildungsgänge erwähnen, die eine Geschichte des Zweiten Bildungswegs abrunden: Die Arbeitermittelschule und die Lebensschule an den Wiener Volkshochschulen.

„Matura für Arbeiter“ – die Arbeitermittelschule

Die Arbeitermittelschule entstand in den frühen 1920er Jahren. Die Erwachsenenbildnerin Wanda Janina Lanzer, Stieftochter von Otto Bauer, war in dieser Zeit Vertreterin der Wiener Arbeiterkammer im Berufsberatungsamt der Stadt Wien. Bei ihren Vortragstätigkeiten bemerkte sie bei den jungen Zuhörer*innen aus der Arbeiterschaft augenscheinliche Bildungsdefizite. Mit Unterstützung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der Arbeiterkammer und der Gemeinde Wien organisierte sie ab Oktober 1923 Vorbereitungskurse auf die Maturaprüfung. 1925 gründete sich aus dieser Initiative in Wien der Verein „Mittelschulkurs sozialistischer Arbeiter“. 1928 erließ schließlich das Bundesministerium für Unterricht eine Verordnung über die „versuchsweise Einrichtung von mehrjährigen Kursen (Arbeitermittelschulen)“ zur Erlangung der Matura. Diese Verordnung führte zu den ersten Gründungen von „formalen“ Arbeitermittelschulen, 1928 in Linz und in Wien, 1929 in Graz, welche bis 1938 (nationalsozialistische Zäsur) liefen. 1945 wurde auf Initiative der Arbeiterkammer Wien und des ÖGB der Verein Arbeitermittelschule gegründet. Mit dem Schulorganisationsgesetz 1962 wurde ein rechtlicher Rahmen für die höhere Ausbildung Berufstätiger geschaffen. So wurden in §37 (Sonderformen der allgemeinbildenden höheren Schulen) das Gymnasium für Berufstätige und das Realgymnasium für Berufstätige verankert. „Sie haben die Aufgabe, Personen über 18 Jahre, die nach Vollendung der Schulpflicht eine Berufsausbildung abgeschlossen haben oder in das Berufsleben eingetreten sind, durch einen besonderen Studiengang das Bildungsziel einer allgemeinbildenden höheren Schule zu vermitteln.“ (SchOG 1962, §37 (4)) Ebenso wurden Schulen für Berufstätige in den Formen Handelsschulen (§61), Höhere technische Lehranstalten (§73), Handelsakademien (§75) und Höhere Lehranstalten für wirtschaftliche Frauenberufe (§77) verankert. 1968 wurden die Arbeitermittelschulen in „Gymnasium für Berufstätige“ umbenannt. Aktuell gibt es in Österreich Gymnasien für Berufstätige in Wien, Linz, Salzburg, Innsbruck, Graz, Klagenfurt und Villach.4 

„Gymnasium“ ohne Matura – die Lebensschule

Die Grundidee einer allgemeinen, aber dennoch lebenspraktischen, höheren Bildung wurde in den 1950er Jahren in den Lebensschulen umgesetzt. „Der Name Lebensschule stammt von Franz Senghofer, dem damaligen Bildungsreferenten des ÖGB, der neben Dr. Hermann Schnell (Pädagogisches Institut der Stadt Wien) und Dr. Wolfgang Speiser (Zentralsekretär des Wiener und Generalsekretär des österreichischen VHS-Verbandes) eigentlicher Gründer der Lebensschule war. Als weitere wichtige Exponenten sind unter anderem zu nennen: Dr. Hans Fellinger, Dr. Karl Foltinek, Karl Hochwarter, Anton Kriegler und Dr. Helmut Zilk.“ (Filla: 1984, S. 6) Die Lebensschule war ein dreijähriger Lehrgang, bei dem jedes Jahr einem übergeordneten Thema gewidmet war (im ersten Durchgang: Wien – Österreich – Europa). Ein didaktisches Grundprinzip war, dass keine „Gegenstände“ im herkömmlichen Sinn unterrichtet wurden. So wurde „beispielsweise keine ‚Rechtslehre‘ vermittelt, aber sehr wohl über Rechte und Pflichten Ämtern gegenüber gesprochen, familiäre Rechtsfragen erörtert und die Rechte der arbeitenden Menschen dargestellt. […] Statt ‚Physik‘ wurde die Funktion von Kommunikationsmitteln (Telephon, Telegraph, Rundfunk, Photozelle) erläutert.“ (ebd., S. 8) Der Lehrplan und Bildungsstoff wurde dabei didaktisch und methodisch umfassend ausgearbeitet. Siehe dazu den erhellenden Beitrag von Helmut Zilk in der Zeitschrift ÖVH (Zilk: 1956, S. 12–15). Wie ausgeklügelt das Konzept war, zeigt sich u. a. auch darin, dass neben den Stammkursleiter*innen sehr oft auch „Tutor*innen“ zur Verfügung standen, „die nicht nur unterrichteten, sondern auch durch Beschaffung der Lehrmittel und durch Hilfe für die Teilnehmer beim Selbststudium eine wichtige Funktion erfüllten.“ (Wiener Volksbildung: 1954, S. 5 f.)

Die ersten drei Lehrgänge starteten im Herbst 1954. Ein Lehrgang für Sechzehn- bis Vierzigjährige an der VHS Favoriten, einer für Zwanzig- bis Fünfunddreißigjährige an der VHS Ottakring und einer für Sechzehn- bis Zweiundzwanzigjährige der Österreichischen Gewerkschaftsjugend. Im Folgejahr entstanden Lebensschulen an den Volkshochschulen in Döbling und Floridsdorf (Volksheim Großjedlersdorf) und 1961 in Margareten. Die letzten Lehrgänge begannen im Herbst 1965 und liefen im Studienjahr 1967/68 endgültig aus.

Der „klassische“ Zweite Bildungsweg

Die Anfänge eines Angebots, das dezidiert unter dem Begriff „Zweiter Bildungsweg“ beworben wurde, baute im Grunde auf diesen Bildungsgängen auf. 1965 wird dementsprechend in den Mitteilungen des Volksheims der VHS Ottakring ein Angebot unter dem Titel „Zweiter Bildungsweg“ folgend beschrieben: „Für Berufstätige vom 18. Lebensjahr an bietet die Volkshochschule mehrere Bildungslehrgänge, die zur Hochschulreife führen. Nach abgeschlossener Berufsausbildung und nach Jahren der beruflichen Bewährung kann das Wissen der Mittelschule erworben werden.“ (Volkshochschule Ottakring: 1965, S. 5) Anschließend werden folgende Angebote genannt: „Lebensschulen“, „Vorbereitungskurs für die Aufnahmeprüfung in das bundesstaatliche Gymnasium für Berufstätige  (vormals Arbeitermittelschule) Wien“ und „Vorbereitungskurs für die Berufsreifeprüfung“ (ebd.).

Studieren ohne Matura – Studienberechtigungsprüfung

Die hier erwähnte „Berufsreifeprüfung“ ist die Vorläuferin der heutigen Studienberechtigungsprüfung. Bereits am 3. September 1945 wurde die 167. Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten über die Berufsreifeprüfung zum Erwerb der Studienberechtigung an wissenschaftlichen Hochschulen veröffentlicht.5 Mit dieser Berufsreifeprüfung konnte der Zugang zu einer vorab gewählten Studienrichtung erlangt werden. Eine Zulassung zur Prüfung musste beim Rektor der betreffenden Universität eingereicht werden. Dem Gesuch waren nach § 3 der Verordnung elf Bescheinigungen beizulegen (u. a. eine Geburtsurkunde, die Prüfung war beschränkt auf Personen zwischen 25 und 45 Jahren, ein Gutachten über fachspezifische Vorkenntnisse, eine Leseliste). Die Prüfung setzte sich aus einem umfangreichen schriftlichen und mündlichen Teil zusammen. „(3) Der schriftliche Teil umfaßt: a) einen Aufsatz über ein allgemeines Thema, b) eine Arbeit über Fragen aus einem der für die mündliche Prüfung gewählten Fachgebiete. […] (4) Die mündliche Prüfung gliedert sich in: a) die Prüfung aus Geschichte und Geographie Österreichs, b) die Prüfung aus den gewählten Fachgebieten, c) die Aussprache über gelesene Werke.“ (§ 5 der Verordnung) Diese Form des Zugangs war im Grunde nicht für eine breite Bevölkerungsgruppe gedacht. Trotzdem wurden auch an den Wiener Volkshochschulen vereinzelt Vorbereitungslehrgänge zur Berufsreifeprüfung angeboten, kontinuierlich von 1965/66 bis 1973/74 an der VHS Ottakring.

Am 7. Oktober 1976 wurde parallel zur bestehenden Berufsreife ein Bundesgesetz über „Vorbereitungslehrgänge für die Studienberechtigungsprüfung“ beschlossen.6 Universitäten konnten demnach Vorbereitungslehrgänge für bestimmte Studienrichtungen anbieten, die mit einer Studienberechtigung abschlossen. Das Mindestalter von 24 Jahren wurde von der Berufsreife übernommen, ein Höchstalter jedoch nicht. Für Anträge zu diesem Hochschulzugang wurde an den jeweiligen Universitäten eine Auswahlkommission eingesetzt, die neben Universitätslehrenden, Psycholog*innen und Pädagog*innen auch Vertreter*innen der Wirtschafts- und Arbeiterkammer umfasste. Dieser neue Weg an die Universitäten wurde vor allem durch die Arbeiterkammer forciert. Ende der 1970er-Jahre wurden u. a. in Wien die Volkshochschulen als Partner gefunden (in Linz entwickelte sich eine Zusammenarbeit der AK mit dem bfi; die Wiener Volkshochschulen und das bfi Linz sind heute noch die größten Anbieter der EB im Bereich Studienberechtigungsprüfung). An den Wiener Volkshochschulen etablierte sich in Kooperation mit der Arbeiterkammer Wien eine Arbeitsgruppe, die intensiv an einer Entwicklung von Lehrgängen zur Studienberechtigung in der Erwachsenenbildung arbeitete. Ziel war ein „Konzept zu einem transferierbaren Modell zur Vorbereitung auf die Berufsreifeprüfung“ (Brunner et al: 1983a). Mitglieder dieser Arbeitsgruppe waren Dr. Alexander Brunner, Dr. Christian Dorninger, damals Volkshochschule Wien Nord, später im Bildungsministerium in der Berufsbildung tätig und ab 2013 Sektionschef der Abteilung II, Josef Perzl, seit 1976 gemeinsam mit Prof. Robert Rimpel in der Arbeiterkammer Wien bildungspolitisch für die Berufsreife/Studienberechtigung aktiv und Dr. Josef Schwaiger, an der VHS Ottakring tätig (nach seiner Pensionierung noch bis 2020 Kursleitertätigkeit SBP Biologie). Aus dieser Arbeit entstanden in Zusammenarbeit mit der Universität Wien und der Technischen Universität Wien die Lehrgänge „Berufsreife – Vorbereitung auf Studienberechtigung“, die von 1980/81 bis 1985/86 an drei Standorten durchgeführt wurden. An der VHS Margareten (Wieden-Margareten-Meidling) Lehrgänge für die Rechtswissenschaften, an der VHS Ottakring für Studien der (damals so genannten) Grund- und Integrativwissenschaften (z. B. Psychologie, Pädagogik, Philosophie, Geographie, Soziologie, Theaterwissenschaften) und an der VHS Wien Nord (Floridsdorf-Donaustadt) für die technischen Studienrichtungen. Neben der praktischen Tätigkeit in der Umsetzung der Lehrgänge und Beratung der Interessent*innen evaluierte die Arbeitsgruppe 1986 diese Lehrgänge und leitete daraus ein Curriculum für Vorbereitungslehrgänge auf die Studienberechtigung ab (Brunner et al: 1986). Die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Arbeiten der Arbeitsgruppe würde hier leider zu weit führen, beinhaltet sie doch grundlegende Diskussionen zu den Themen lebenslanges Lernen, breite Höherqualifizierung im Beruf Stehender, Kooperationsformen Universitäten und Erwachsenenbildung, Differenzierungen von formaler Hochschulreife und Studierfähigkeit (vgl. Brunner et al: 1983a) beziehungsweise Einflüsse sozialer/soziologischer Aspekte auf die Lehrgangsgestaltung, erwachsenendidaktische Grundlagen, sozialpolitische Diskussionen und umfassende Beratungs- und Betreuungskonzepte (vgl. Brunner et al: 1986). Weitere Beiträge der Arbeitsgruppe sind auch in zwei Ausgaben der ÖVH (Brunner et al: 1983b und 1984) zu finden.

Am 27. Juni 1985 wurde das Bundesgesetz über die Erlangung studienrichtungsbezogener Studienberechtigungen an Universitäten und Hochschulen künstlerischer Richtung (Studienberechtigungsgesetz)7 beschlossen, welches die Berufsreife sowie die Vorbereitungslehrgänge zur Studienberechtigung ablöste. Das Mindestalter wurde auf 22 Jahre herabgesetzt (aktuell ist es bei 20 Jahre), die Aufsatzprüfung blieb erhalten, dazu wurden vier weitere allgemeine bzw. studienbezogene Prüfungsfächer vorgeschrieben. An den Wiener Volkshochschulen wurden an den drei Standorten, die bereits Vorbereitungslehrgänge anboten, ab 1986/87 auf die neue Studienberechtigungsprüfung umgestellt. Die fachlichen Zuordnungen blieben erhalten, an der VHS Margareten (VHS polycollege, Margareten, Wieden) kamen zu Jus die Sozialwissenschaften dazu, in Ottakring zu den Studien der GRUWI die Geisteswissenschaften und an der VHS Wien Nord (VHS Floridsdorf) zu den technischen Studien die Naturwissenschaften und Medizin. Im Mai 1993 wurde im Schulorganisationsgesetz eine schulische SBP für Kollegs und Akademien eingeführt. Seit einer Novelle des universitären SBP-Gesetztes Ende 1991 können bis zu 4 der 5 verlangten Prüfungen als Abschlussprüfungen von gleichwertig anerkannten Lehrgängen bei anerkannten Einrichtungen der Erwachsenenbildung abgelegt werden. Zur Geschichte der Berufsreife/SBP und der neuen BRP siehe das Dossier 2. Bildungsweg auf erwachsenenbildung.at (Brückner et al: 2017, S. 11-12 [BRP] bzw. S. 15-17 [SBP]). Mitte der 1990er Jahre löste sich die Fachaufteilung auf die drei VHS-Standorte auf – seitdem werden an allen drei Standorten Vorbereitungslehrgänge für alle Studienrichtungen angeboten.

Matura im Zweiten Bildungsweg

Neben der Reifeprüfung mit Hochschulzugang (AHS-Matura bzw. BHS-Matura) gab es in Österreich bis 2008 auch die sogenannte B-Matura (Beamten-Aufstiegsprüfung). Mit dieser wurde kein Hochschulzugang erlangt, sie diente ausschließlich als Zugangsvoraussetzung für den gehobenen Dienst in der öffentlichen Verwaltung. Sie sollte nach 1945 (bis 1979 hieß sie Mittelschulprüfung) den Mangel an Beamt*innen für den gehobenen Dienst ausgleichen. An der Volkshochschule Margareten wurden seit den späten 1950er Jahren Vorbereitungskurse zur B-Matura angeboten (vgl. Depner: 1983, S. 33). 1992/93 wurde das Angebot B-Matura auch an der VHS Floridsdorf aufgenommen. Im Zuge der Etablierung der „neuen“ Berufsreifeprüfung seit 1997 wurden mit 31.12.2008 die Bestimmungen zur Beamten-Aufstiegsprüfung aufgehoben. An der VHS Margareten wurde das Angebot aufgrund mangelnder Nachfrage bereits 2000 beendet, an der VHS Floridsdorf 2005.

Vorbereitungslehrgänge zum Abschluss der Externisten-Matura AHS wurden an der VHS Margareten seit 1981/82 angeboten, an der VHS Floridsdorf gemeinsam mit der B-Matura ab 1992/93. Die Lehrgänge umfassten die komplette inhaltliche Vorbereitung zu den sogenannten Vorprüfungen (Stoff der 8. Klasse) und den eigentlichen Maturaprüfungen. Vorbereitungen auf die Aufnahmeprüfung in die „Arbeitermittelschule“ gab es ja bereits, wie weiter oben erwähnt, bereits in den 1960er Jahren. Im Gegensatz zur B-Matura waren an beiden Standorten das Klientel eher jugendliche Schulabbrecher*innen, oftmals als „Zeitüberbrückung“ von ihren Eltern in die Lehrgänge geschickt. 

Dass die Angebote an den Volkshochschulen im Zweiten Bildungsweg „Erfolgsmodelle“ wurden, lässt sich unter anderem daran messen, dass von weiterführenden Institutionen gezielt Kooperationen angestrebt wurden. So gab es an der VHS Margareten von 1990 bis 1997 spezielle Lehrgänge zur Matura für Kindergärtner*innen. Damals schloss die 4-jährige Ausbildung zur Kindergartenpädagog*in noch nicht mit einer Reifeprüfung ab. Die VHS entwickelte eigene 1- bis 2-jährige Matura-Aufbaulehrgänge für diese Absolvent*innen. Normalerweise waren die Matura-Lehrgänge in 3 Jahrgängen konzipiert. Ein ähnliches Konzept wurde auch für Absolvent*innen der Waldorfschule Mauer und der Friedrich Einmannschule angeboten. Ebenfalls in Margareten wurde in den 1990er Jahren eine Maturavorbereitung in Kombination mit einer ­Radiojournalismusausbildung (in Kooperation mit Radio Orange) angeboten. An der VHS Floridsdorf gab es im Bereich der Studienberechtigungsprüfung von Februar 2011 bis zum Studienjahr 2015/16 eine Kooperation mit der Bundesanstalt für Elementarpädagogik. Im Rahmen der Förderschienen Pick up und Change (beide Gemeinde Wien) wurden eigene SBP-Lehrgänge der VHS an der Bundesanstalt für das Kolleg angeboten. Eine ähnliche Kooperation begann nun 2024 wieder. Von 2013/14 bis 2023/24 wurde mit den drei Wiener Kollegs für Sozialpädagogik ebenfalls ein eigener Lehrgang zur SBP vereinbart, der für Teilnehmer*innen zugeschnitten war, die unter der Woche arbeiten und Freitag/Samstag bereits als außerordentliche Hörer*innen das Kolleg für Berufstätige besuchten. Seit 2024 wird dieser Lehrgang in eingeschränkter Form nur für die „Hauptfächer“ Mathematik und Englisch weitergeführt.

Ihre inhaltliche und bildungspolitische Expertise zeigten die Wiener Volkshochschulen auch im sogenannten Maturaskandal 1994 (Weitergabe von Prüfungsfragen an Maturaschulen)8. Die VHS Margareten organisierte damals aus diesem Anlass unter dem Motto „Wenn in Wien eine Straßenbahn entgleist, wird ja auch nicht zwangsläufig der gesamte Straßenbahnverkehr eingestellt“ ein Vernetzungstreffen für Qualitätssicherung. Bei diesem Treffen wurden, ausgehend von Vorschlägen der VHS, neue Vorgaben für Mathematikprüfungen ausgearbeitet und in Folge auch umgesetzt.

Aufgrund zeit- und daher kostenintensiver Lehrgangsangebote (Fachvorbereitung, Orientierungsphasen, ergänzende Begleitangebote) wurden die AHS-Lehrgänge in Margareten 2008 und in Floridsdorf 2017 eingestellt.

Nicht formale Abschlüsse: Zertifikatskurse

Ende der 1960er Jahre – das Erfolgskonzept der „offenen“ Lebensschule noch vor Augen – entwickelte sich eine heftige Diskussion, ob die Wiener Volkshochschulen Zertifikatskurse in ihr Programm nehmen soll. „Es wurde befürchtet, dass die Freiheit und Freiwilligkeit in der Erwachsenenbildung durch diese Kurse eingeschränkt und es zu einer Verschulung kommen würde. Die Befürworter*innen setzten sich durch und so wurde ab 1970/71 eine große Zahl an Zertifikatskursen in die Kursprogramme aufgenommen.“ (Gruber: 2016, S. 57) Waren es großteils Sprachkurse, die als Zertifikatskurse aufgenommen wurden, wurden an den Volkshochschulen Margareten, Ottakring und Wien Nord auch naturwissenschaftliche Fächer als Zertifikatskurse angeboten: Mathematik, Statistik, Elektrotechnik, Chemie. An der VHS Wien Nord wurden bereits seit 1952/53 unter der Rubrik „Natur und Technik“ grundlegende Kurse zu den Bereichen Biologie, Mathematik, Chemie und Physik angeboten. In Folge dieser Schwerpunktsetzung wurde an der VHS Wien Nord ein eigenes Elektroniklabor eingerichtet. Durch die Zusammenarbeit der Wiener Volkshochschulen mit den Universitäten in Zusammenhang mit „Berufsreife – Vorbereitung auf Studienberechtigung“ Anfang der 1980er Jahre öffneten sich auch weiter Felder für Kooperationen mit Universitäten. So wurde an der VHS Wien Nord ab 1987/88 das Aus- und Weiterbildungsprogramm Automatisierungstechnik in Zusammenarbeit mit dem Außeninstitut der Technischen Universität Wien angeboten.

Basisbildung/Alphabetisierung

Nach den Lebensschulen und der „Berufsreife – Vorbereitung auf Studienberechtigung“ leisteten die Wiener Volkshochschulen bei einem weiteren Bereich des Zweiten Bildungswegs österreichische Pionierarbeit – im Bereich Basisbildung/Alphabetisierung. Ausgehend von Erfahrungen in einem Stadtteilprojekt der VHS Ottakring wandte sich Elisabeth Brugger (Verband Wiener Volksbildung) Anfang der 1980er Jahre dem Thema Schriftlichkeit und Erwachsenenbildung zu. Neben der Beteiligung an einer europaweiten Vergleichsstudie 1983 mit einem Deutschkurs für Migrant*innen beschäftigte sie sich intensiv mit Studien zu diesem Thema aus europäischen Ländern und den USA. Resultat dieser Auseinandersetzung war der Entschluss, in Österreich Basisbildungskurse in der Erwachsenenbildung aufzubauen. Das von Brugger entwickelte Konzept wurde erstmals im Herbst 1990 an der VHS Floridsdorf von Antje Doberer-Bey umgesetzt. Wurden in Floridsdorf Angebote für Menschen mit Deutsch als Erstsprache umgesetzt, wurden drei Jahre später an der VHS Ottakring Angebote für Menschen mit Deutsch als Zweitsprache entwickelt. In der Folge war Doberer-Bey maßgeblich an der Weiterentwicklung der Kursangebote und an einer österreichweiten Vernetzung von Einrichtungen in diesem neuen Bereich beteiligt (Netzwerk Basisbildung). 2003 wurde erstmals ein Lehrgang für Trainer*innen in der Basisbildung, der von Doberer-Bey an der VHS Floridsdorf entwickelt wurde, in Kooperation mit dem Bundesinstitut für Erwachsenenbildung in Strobl (bifeb) angeboten. Aktuell wird vom bifeb selbst eine nachfolgende Lehrgangsvariante („Ausbildungslehrgang Basisbildnerin/Basisbildner“) angeboten. Im Lehrgangsteam sind drei Mitarbeiterinnen der Wiener Volkshochschulen vertreten. Die Wiener Volkshochschulen bieten im Rahmen der Abteilung Lernraum auch einen eigenen Lehrgang an („Lehrgang Alphabetisierung/Basisbildung mit Erwachsenen“).

2012 wurde der Bereich Basisbildung/Alphabetisierung in die Initiative Erwachsenenbildung aufgenommen und aktuell an mehreren VHS-Standorten angeboten9. Eine detaillierte Geschichte der Basisbildung/Alphabetisierung in Österreich, die an den Wiener Volkshochschulen begonnen hat, kann in umfangreichen Publikationen nachgelesen werden, z. B. Brugger et al: 1997, Doberer-Bey: 2005, Volkshochschule Floridsdorf: 2010, Doberer-Bey/Netzer: 2012, Kastner: 2016.

Vom Hauptschulabschluss zum erwachsenengerechten Pflichtschulabschuss

Karl Hochwarter, ehemaliger Direktor der VHS Wien-Nord und maßgeblich am Aufbau der Wiener Volkshochschulen nach 1945 beteiligt, erzählte bei offiziellen Jubiläen und Feiern der VHS Floridsdorf in privaten Gesprächen öfter von Vorbereitungskursen für das Nachholen des Hauptschulabschlusses bereits in den späten 1940er Jahren für Personen, die aufgrund des Krieges ihre Schulbildung nicht abschließen konnten.

Die Möglichkeit, Pflichtschulabschlüsse in einer Externistenform abzuschließen, begründet sich eigentlich in der Einführung der allgemeinen Unterrichtspflicht (nicht Schulpflicht!) 1774 durch Maria Theresia („Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen“ [Theresianische Schulordnung]). Umfassende Änderungen wurden im Reichsvolksschulgesetz 1869 verabschiedet, das mit zahlreichen Novellen in seinen Grundzügen bis 1962 in Kraft blieb. 1962 wurden neue umfassende Schulgesetze verabschiedet, die unterschiedliche Bereiche betrafen. War im Rahmen der Unterrichtspflicht schon im 18. Jahrhundert häuslicher und privater Unterricht möglich10, wurden 1962 mit dem Schulpflichtgesetz diese Unterrichtsformen im § 11 (Besuch von Privatschulen ohne Öffentlichkeitsrecht und häuslicher Unterricht) formal geregelt. Dabei wird in Absatz 4 bestimmt, dass jedes Jahr eine Jahresprüfung in einer entsprechenden öffentlichen ­Schule abgelegt werden muss. Diese Form einer Externistenprüfung war dementsprechend von den Prüfungsinhalten und -formen an jugendliche Schüler*innen angepasst. Auch die Externistenprüfungsverordnung 1979, durch die auch ohne Privatschulbesuch oder häuslichen Unterricht alle Schulformen als Externistenprüfung abgelegt werden konnten, änderte an der Orientierung an 14- bis 15-jährigen Schüler*innen nichts. So wurden in der Verordnung ebenfalls Prüfungen im Werkunterricht (z. B. Bau eines Holzautomodells) und in §1 (2) 5 sogar die Absolvierung des Prüfungsfachs Leibesübungen vorgeschrieben.

In den Programmen der Wiener Volkshochschulen finden sich Angebote zum Hauptschulabschluss im Kursjahr 1991/92 an der VHS polycollege Margareten und VHS Floridsdorf. Diese Kurse bereiteten entsprechend der Externistenprüfungsverordnung von 1979 auf die Prüfung an einer öffentlichen Hauptschule vor. Das Lehrgangskonzept umfasste, ähnlich wie bei den Vorbereitungen auf die AHS-Matura, neben der Fachvorbereitung auch umfassende Orientierungsphasen und ergänzende Begleitangebote, v. a. zur Erweiterung der Lernkompetenz. Neben den Fachkursleiter*innen waren auch Sozialarbeiter*innen bzw. Sozialpädagog*innen in den Konzepten berücksichtigt. Die VHS polycollege Margareten hat sogar von der Justizanstalt Simmering finanzierte Kurse in geblockten Modulen direkt in der Justizanstalt angeboten. 

Eine zufriedenstellende erwachsenengerechte Vorbereitung auf den Externisten-Hauptschulabschluss konnte aber trotz umfassender Konzepte nicht umgesetzt werden, da die Prüfungsinhalte und -formen eben ganz und gar nicht erwachsenengerecht waren. So mussten auch Jugendliche und Erwachsene der VHS-Kurse Holzautomodelle basteln oder bei der Prüfung im Fach Leibesübungen Purzelbäume vorführen.

Vor diesem unzufriedenstellenden Hintergrund starteten EB-Einrichtungen in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium, Abteilung Erwachsenenbildung 2011 eine Initiative für einen erwachsenengerechten Pflichtschulabschluss. Nach einer Auftaktveranstaltung am 16. Jänner 2012, bei der neben Vertreter*innen verschiedener EB-Einrichtungen, Wirtschafts- und Arbeiterkammer sowie dem Ministerium auch die Wiener Volkshochschulen mit Judith Veichtlbauer (VHS Floridsdorf) vertreten waren, wurde in unzähligen Arbeitsgruppen unter Beteiligung der EB-Einrichtungen ein Gesetzesentwurf erarbeitet, der mit 1. September 2012 als „72. Bundesgesetz über den Erwerb des Pflichtschulabschlusses durch Jugendliche und Erwachsene (Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz)“11 in Kraft trat. Die Wiener Volkshochschulen waren in diesem Prozess gemeinsam mit der VHS Linz, mit maiz, mit dem bfi OÖ und dem Bildungsministerium (bm:ukk) intensiv in der Erarbeitung eines Curriculums engagiert12. In Folge erarbeiteten unter der inhaltlichen Koordination von Judith Veichtlbauer die Wiener Volkshochschulen, maiz und uniT Graz im Oktober 2013 für Kursleiter*innen eine umfangreiche Handreichung zum Pflichtschulabschluss (Pädagogisch-didaktische Überlegungen für Kursleiter*innen13). 

Bereits 2012 wurde der Bereich ePSA (erwachsenengerechter Pflichtschulabschluss) in die Initiative Erwachsenenbildung aufgenommen. Aktuell werden an den Wiener Volkshochschulen an den Standorten VHS polycollege Johannagasse, VHS Favoriten, VHS Schönbrunnerstraße (Meidling), VHS Rudolfsheim-Fünfhaus, VHS Ottakring, VHS Brigittenau und VHS Großjedlersdorf (Floridsdorf) ePSA-Lehrgänge angeboten.

Polytechnikum – die lästige 9. Schulstufe

Wieder das Thema Fachkräftemangel. Seit den späten 1990er Jahren bis heute leidet der Gesundheitsbereich unter einem Mangel an (diplomiertem) Pflegepersonal. Viele ausgebildete Pflegehelfer*innen konnten aber die Ausbildung diplomierte*r Krankenpfleger*in nicht beginnen, da als Aufnahmevoraussetzung der positive Abschluss der 9. Schulstufe vorgeschrieben war – und viele ältere Personen diesen nicht vorweisen konnten. Im Zuge der umfassenden Schulgesetzesnovellen 1962 wurde die allgemeine Schulpflicht von acht auf neun Jahre verlängert und die einjährige Schulform Polytechnikum eingeführt. Im Kursjahr 2004/05 wurde daher aufgrund stetiger Nachfrage an der VHS Polycollege Margareten ein Vorbereitungslehrgang für die Externistenprüfung des Polytechnikums angeboten. Die Nachfrage war zu Beginn so groß, dass zwei Parallelkurse mit 40 Teilnehmer*innen durchgeführt wurden. Ähnlich den Vorbereitungskursen zum „alten“ Hauptschulabschluss gab es keine Lehrpläne für Erwachsene, Prüfungsanforderungen mussten mit den jeweiligen Prüfungsschulen vereinbart werden. Ab den 2015er Jahren gab es immer wieder Überlegungen, diesen Bildungsweg aufzulassen, aufgrund bleibender Nachfrage wurde das Polytechnikum aber weitergeführt. 

Hier konnte zwar keine erwachsenengerechte Externistenform umgesetzt werden, in den letzten Jahren wurden jedoch zwei Alternativen tragend. Wenn bei einem Abschluss des ePSA das Wahlfach Gesundheit & Soziales gewählt wird, wird damit automatisch auch der Abschluss der 9. Schulstufe erlangt. 2019 ging der VHS-Polytechnikum-Lehrgang im esf-Projekt der Wiener Volkshochschulen „Connect – Wege in die Pflege“ auf. „Das Projekt „Connect“ zielt darauf ab, Übergänge im Bildungssystem durchlässiger zu gestalten und Anschlussperspektiven sowohl in höhere Bildung als auch in Berufsfelder zu ermöglichen. Im Zentrum stehen Konzeption und Durchführung von Übergangsmodulen nach dem Pflichtschulabschluss.“ (siehe Projektbeschreibung14) Dieser Lehrgang wird an der VHS Meidling angeboten und ist als Anschluss an den ePSA gedacht, kann aber auch unabhängig davon absolviert werden (Voraussetzungen: Mindestalter 18 Jahre, positiver Abschluss der 8. Schulstufe). Der Lehrgang bereitet auf den Abschluss der 9. Schulstufe, auf die Aufnahmeprüfungen für Ausbildungen im Gesundheitsbereich vor und bietet einen vertiefenden Einblick in das Berufsfeld Gesundheit & Pflege.

Berufsreifeprüfung / Lehre mit Matura

Die Berufsreifeprüfung ist die neueste Form eines von schulischen Abschlüssen unabhängigen Bildungswegs. Ohne einen klassischen schulischen Bildungsweg (AHS, BHS) nachholen zu müssen, kann bei vorhandenem Abschluss einer formalen Berufsausbildung eine vollwertige Reifeprüfung erlangt werden. Aus Sicht der Erwachsenenbildung ist interessant, dass beim Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Berufsreifeprüfung (Berufsreifeprüfungsgesetz – BRPG)15 im Jahr 1997 bereits die Möglichkeit der Anerkennung von Prüfungen der Erwachsenenbildung verankert war. Dementsprechend wird die BRP auch von den meisten etablierten Erwachsenenbildungseinrichtungen angeboten. An den Wiener Volkshochschulen wurden ebenfalls ab 1997 Lehrgänge an den Standorten Polycollege Margareten, Favoriten, Meidling, Ottakring und Floridsdorf angeboten. 2008 wurde das Programm Lehre mit Matura (Berufsmatura) eingeführt (Lehrgänge an der VHS Meidling). Jugendliche in einem aufrechten Lehrlingsverhältnis können in einem Zeitraum von 5 Jahren die Berufsreifeprüfung kostenlos absolvieren. Seit 2011 wird auch für die BRP die standardisierte Reife- und Diplomprüfung (sRDP / „Zentralmatura“) für die Fächer Mathematik, Deutsch und – falls das Fach schriftlich gewählt wird – Lebende Fremdsprache umgesetzt, was für die Programm-Manager*innen die Prüfungsdurchführung (Vorbereitung, Durchführung, ggf. Kompensationsprüfung und Dokumentation im Anschluss) arbeitsintensiver machte. 

Aufgrund der steigenden Zahl von Lehrlingen, die eine Lehre mit Matura absolvieren, der Umsetzung der sRDP und einer allgemeinen Unsicherheit der Wertigkeit einer allgemeinen Matura am Arbeitsmarkt gingen seit 2015 die Teilnehmer*innenzahlen, auch in anderen Einrichtungen, zurück. Nach einem Konzentrationsprozess des Angebots wird die BRP aktuell an drei Standorten (VHS Meidling, Ottakring und Floridsdorf) angeboten.

Auch bei der Berufsreifeprüfung spiegelt das Lehrgangskonzept die VHS-Leitlinie „Bildung für Alle“ wider. So werden neben den Prüfungsvorbereitungskursen auch Auffrischungskurse von Grundlagen (Deutsch, Mathematik, Englisch), begleitende Übungskurse und konzentrierte Prüfungsvorbereitungsworkshops vor den Prüfungen angeboten. Hervorstechendes Qualitätsmerkmal und Grundlage für den Anspruch „Bildung für Alle“ ist die umfangreiche Beratung an den Wiener Volkshochschulen für die Bildungswege BRP und SBP.  

Außerordentliche Lehrabschlussprüfung

Seit 2016/17 bieten die Wiener Volkshochschulen auch Vorbereitungslehrgänge zur außerordentlichen Lehrabschlussprüfung (Bürokaufmann/-frau bzw. Einzelhandel) am Standort VHS Mariahilf, Neubau, Josefstadt an. Bis 2021/22 wurden die Kurse als Hybridkurse, ab 22/23 als komplette Onlinekurse angeboten.

Weitreichende fachliche Expertise

Neben einem umfangreichen und qualitativen Lehrgangsangebot im Zweiten Bildungsweg stehen die Wiener Volkshochschulen auch für eine weitreichende fachliche Expertise. Grundlagen für das heute etablierte Angebot im Bereich Basisbildung und erste Pilotprojekte wurden an den Wiener Volkshochschulen entwickelt. Die Initiative für ein Gesetz zu einem erwachsenengerechten Pflichtschulabschluss ging unter maßgeblicher Beteiligung der Wiener Volkshochschulen vonstatten.

Bereits in den Lebensschulen in den 1950er/60er Jahren und den Lehrgängen „Berufsreife – Vorbereitung auf Studienberechtigung“ Anfang der 1980er Jahre wurden differenzierte erwachsenengerechte und didaktisch ausgearbeitete Konzepte erarbeitet und umgesetzt. Die Umstellung der staatlichen Förderung des Bereichs Zweiter Bildungsweg auf esf-Projekte brachte ab 1999 einen neuen innovativen Schub. Zusammenfassend wurden in den 20 bis 25 esf-Jahren die Bereiche eLearning, Open Distance Learning / Blended Learning, Selbstorganisiertes Lernen, ePortfolios, eBeratung, Durchlässigkeit von Bildungswegen und Inklusion im Zweiten Bildungsweg abgedeckt. In den Projekten wurden Konzepte und Materialien entwickelt und praktisch umgesetzt. Erste Ergebnisse waren dabei bereits 1999/2000 die Ursprungsform der multimedialen Lernhilfe „mathe online“ (https://www.mathe-online.at/) sowie Konzepte für Blended-Learning-Lehrgänge (damals mit der an die britische und niederländische open distance university angelehnten Bezeichnung ODL/Open Distance Learning) in den BRP-/SBP-Fächern Mathematik, Englisch, Deutsch und BRP-Fachbereichen. Ergänzend dazu wurden Skripten, Lehrvideos zum BRP-Fach Deutsch und an die Lehrgänge angepasste eLearning-Materialien entwickelt und in ODL- und Präsenzkursen eingesetzt. Nachdem in den ersten beiden Jahren für die ODL-Lehrgänge das Content-Management-System BSCW verwendet wurde, wurde bereits 2002 das – heute an allen österreichischen Volkshochschulen benutzte – Learning-Management-System Moodle eingesetzt. Eine detaillierte Beschreibung der entwickelten Projekte würde hier den Rahmen sprengen. Erwähnenswert ist aber, dass die meisten projektbasierten Umsetzungen peu à peu in den Regelbetrieb übernommen wurden. Das war u. a. auch ein zentraler Grund, warum im Frühjahr 2020 (Corona) der Bereich BRP/SBP an den Wiener Volkshochschulen rasch, umfassend und problemlos auf Onlinekurse umstellen konnte.

Die Erfahrungen der Konzeptentwicklung und Umsetzungen im Programmbereich wurden im Rahmen verschiedenster fachspezifischer Tagungen in Österreich und Deutschland vorgestellt sowie mehrere Publikationen und Fachartikel dazu verfasst. Neben den erwähnten Ausbildungslehrgängen im Bereich Basisbildung entwickelten die Volkshochschulen auch einen Train-the-Trainer-Lehrgang für den Bereich eLearning/Blended Learning. Gemeinsam mit dem Bundesinstitut für Erwachsenenbildung (bifeb) wurden in St. Wolfgang 2003 bis 2005 drei Durchgänge des Lehrgangs eLSD – eLearning Selfdirected (Abschluss im Rahmen eines „Lehrgangs universitären Charakters“) durchgeführt.

Was ist der Zweite Bildungsweg wert? 

Eine bildungspolitische Wertigkeit der Bildungsgänge und der Angebote der Erwachsenenbildung allgemein und der Wiener Volkshochschulen im Speziellen kann über eine Betrachtung der Förderpraxis der verschiedenen Zweiten Bildungswege erahnt werden.

Die Studienberechtigungsprüfung wurde bis 1990 voll subventioniert. Das Bildungsministerium (bm:uk) förderte der SBP zugeordnete Personalkosten (Beratung und Kursplanung) und Kursleiter*innen-Honorare sowie punktuell zusätzliche Ausgaben, z. B. eine kleine Handbibliothek von Fachliteratur für Kursleiter*innen. 1990 wurde die Refundierung der Kursleiter*innen-Honorare eingestellt, bis zum Frühjahr 2001 bekamen die Volkshochschulen vom Ministerium (bmuk) weiterhin Personalförderungen für die Zweiter Bildungsweg-Bereiche SBP, AHS-Matura, Hauptschulabschluss und Basisbildung/Alphabetisierung. 2001 stellte das Ministerium von einer direkten auf eine projektbezogene Förderung im Rahmen von esf-Projekten um. Neben der Entwicklung innovativer Konzepte und Kursmaßnahmen konnte durch diese Förderungen zunächst auch der institutionelle Rahmen (inklusive Personalkosten) finanziert werden. Ab den frühen 2010er Jahren wurden bei den Projekten aber immer weniger „Overheadkosten“ berücksichtigt.  

2012 wurden, aus budgetärer Sicht glücklicherweise, die Bereiche Basisbildung und Pflichtschulabschluss in die Initiative Erwachsenenbildung (IEB), einer Kofinanzierung durch Bund und Land, übernommen. Die ursprünglichen Konzeptpapiere und Berechnungen für die Initiative beinhalteten auch die BRP und SBP. Beide wurden aber bei der Umsetzung nicht mehr berücksichtigt. Am 30. April 2024 wurde die IEB vom Bildungsministerium auf den Namen „Level Up“ umbenannt16. Die Bildungswege SBP und BRP wurden an den Wiener Volkshochschulen im Fachbereich „Höhere Bildungsabschlüsse“ zusammengefasst und in den allgemeinen Programmbereich Erwachsenenbildung integriert – und sind somit seitdem auch im Finanzierungsübereinkommen mit der Stadt Wien berücksichtigt. 

Die umfangreichen Arbeiten der Arbeitsgruppe Berufsreife/SBP in den frühen 1980er-Jahren und die Erfahrungen der Lehrgänge zur AHS-Matura bzw. zum Hauptschulabschluss zeigen, dass für Angebote im Zweiten Bildungsweg „normale“ Kursformate nicht kopiert werden können. Formate in diesem Bereich müssen umfassende Beratungskonzepte und auf die jeweiligen Bildungswege abgestimmte Ergänzungsangebote beinhalten. Wenn der Anspruch „Bildung für Alle“ auch im Bereich Zweiter Bildungsweg gelten soll, müssen ebenso Angebote entwickelt werden, die unterschiedliche Einstiegsniveaus kompensieren können. //

1   Karl Hochwarter wurde 1948 mit der Geschäftsführung des „Volksbildungshaus Floridsdorf“ betraut und war bis Dezember 1986 Direktor der Volkshochschule Wien Nord (Floridsdorf/Donaustadt). 1987 war er Gründungsmitglied des Vereins zur Geschichte der Volkshochschulen, mit dem der organisierte Aufbau des österreichischen Volkshochschularchivs begonnen hat (zu Karl Hochwarter siehe Stifter/Gruber: 2016, zum österreichischen Volkshochschularchiv finden sich Informationen unter: archiv.vhs.at/index.php?id=vhsarchiv-geschichte). Ohne manche Gespräche mit Karl Hochwarter, mit vielen Kolleg*innen an unterschiedlichsten Standorten und ohne das Volkshochschularchiv wäre dieser Beitrag nicht möglich gewesen.

2   Nachzulesen unter: orf.at/stories/3357434 

3   Nachzulesen unter: www.kleinezeitung.at/wirtschaft/5657377/Qualifizierter-Zuzug_Oesterreich-wirbt-offiziell-um-Fachkraefte  

4   Mehr dazu unter: www.abendgymnasium.at 

5   Nachzulesen unter: www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1945_164_0/1945_164_0.pdf

6   Nachzulesen unter: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1976_603_0/1976_603_0.pdf

7   Nachzulesen unter: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009587&FassungVom=2010-09-30  

8   Als Beispiele seien genannt: www.studium.at/25-jahre-maturaskandal-es-ist-relativ-leicht-gegangen  und www.mediathek.at/portalsuche?searchwordglobal=Maturaskandal

9   Mehr dazu unter: www.vhs.at/de/info/basisbildung 

10   Wilhelm Filla bezeichnet den häuslichen Unterricht als Vorläufereinrichtung des Zweiten Bildungswegs, wenngleich es sich dabei nicht um Erwachsenenbildung handelt. (vgl. Filla: 2014, S. 117 f.) 

11   Nachzulesen unter: www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/schulrecht/gvo/pflichtschulabschluss.html 

12   Nachzulesen unter: www.levelup-erwachsenenbildung.at/DOWNLOADS/Pflichtschulabschluss_Curriculum.pdf

13   Mehr dazu unter: erwachsenenbildung.at/downloads/bildungsinfo/materialien_psa_fuer_rueckmeldung/Paedagogik_Didaktik.pdf?m=1494705623& 

14   Die Projektbeschreibung Connect findet sich unter: www.vhs.at/files/downloads/y3VtekZWvCMxb4IUe1fleA1T2aAypoiNu28hdblq.pdf

15   Nachzulesen unter: www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10010064 

16   Mehr dazu unter: www.levelup-erwachsenenbildung.at 

Literatur

Brückner, Wolfgang, Evers, John, Nowak, Christian, Schlögl, Peter & Veichtlbauer, Judith (2017): Der Zweite Bildungsweg in Diskussion. Verfügbar unter: erwachsenenbildung.at/aktuell/nachrichten/11948-dossier-der-zweite-bildungsweg-in-diskussion.php [19.11.2024]

Brugger, Elisabeth, Doberer-Bey, Antje & Zepke, Georg (1997): Alphabetisierung für Österreich. Einem verdrängten Problem auf der Spur. Wien: Edition Volkshochschule.

Brunner, Alexander, Dorninger, Christian, Perzl, Josef & Schwaiger, Josef (1983a): Offener Hochschulzugang. Vorbereitungslehrgänge für die Berufsreifeprüfung an Wiener Volkshochschulen. Endbericht. (Österreichisches Volkshochschularchiv).

Brunner, Alexander, Dorninger, Christian, Perzl, Josef & Schwaiger, Josef (1983b): Hochschulstudium ohne Matura. Bericht über die Berufsreifeprüfung (BRP). In: Die Österreichische Volkshochschule, (34) 127/128, 35–38.

Brunner, Alexander, Dorninger, Christian, Perzl, Josef & Schwaiger, Josef (1984): Hochschulstudium ohne Matura. Bericht über die Berufsreifeprüfung (BRP). In: Die Österreichische Volkshochschule, (35) 131, 7–10.

Brunner, Alexander, Dorninger, Christian, Perzl, Josef & Schwaiger, Josef (1986): Modellevaluation der Lehrgänge zur Vorbereitung auf die Berufsreifeprüfung und Curriculare Entwicklung für Vorbereitungslehrgänge auf die Studienberechtigung. (Österreichisches Volkshochschularchiv).

Depner, Herbert (1983): Vorbereitungskurse zur Beamtenaufstiegsprüfung (B-Matura) an der VHS Margareten. In: Die Österreichische Volkshochschule, (34) 127/128, 33–35.

Doberer-Bey, Antje (Hrsg.) (2005): Alphabetisierung im Brennpunkt. Synergien und Entwicklungen durch Vernetzung. Tagung des Netzwerk Alphabetisierung und Verband Wiener Volksbildung unter der Schirmherrschaft der Österreichischen UNESCO-Kommission.

Doberer-Bey, Antje & Netzer, Martin (2012): Alphabetisierung und Basisbildung in Österreich. In: Report. Zeitschrift für Weiterbildungsforschung, (35) 1, 45–54.

Filla, Wilhelm (1984): Die Lebensschule. Ein vergessenes Bildungsexperiment. In: Die Österreichische Volkshochschule, (35) 133, 6–10. 

Filla, Wilhelm (2014): Die Etablierung des Zweiten Bildungswegs. In: Ders.: Von der freien zur integrierten Erwachsenenbildung. Zugänge zur Erwachsenenbildung in Österreich (S. 117–121). Frankfurt am Main –  Berlin – Bern – Bruxelles – New York – Oxford ––Wien: Peter Lang Verlag. 

Gruber, Wolfgang (2016): Die „Ära Hochwarter“ – ein persönlicher Rückblick. In: H. Christian Stifter & Wolfgang Gruber (Hrsg.): „Brot allein genügt nicht …“. Festschrift für Karl Hochwarter zum 90. Geburtstag (S. 55–59). Wien: Österreichisches Volkshochschularchiv. (Materialien zur Geschichte der Volkshochschulen, Band 8).

Kastner, Monika (2016): Alphabetisierung und Basisbildung für Erwachsene. Dossier Erwachsenenbildung.at. Verfügbar unter: erwachsenenbildung.at/themen/basisbildung [19.11.2024].

Stifter, H. Christian & Gruber, Wolfgang (Hrsg.) (2016): „Brot allein genügt nicht …“. Festschrift für Karl Hochwarter zum 90. Geburtstag. Wien: Österreichisches Volkshochschularchiv. (Materialien zur Geschichte der Volkshochschulen, Band 8).

Wiener Volksbildung (1957): Der zweite Bildungsweg. In: Jahresbericht 1957/58. Wien. (Österreichisches Volkshochschularchiv).

Wiener Volksbildung (1954): Die Lebensschulen. In: Jahresbericht 1954/55. Wien. (Österreichisches Volkshochschularchiv).

Volkshochschule Floridsdorf (2010): Mitteilungen (58) 5 (Österreichisches Volkshochschularchiv).

Volkshochschule Ottakring (1965): Mitteilungen des Volksheims 188 (Österreichisches Volkshochschularchiv).

Zilk, Helmut (1956): Lehrplan und Bildungsstoff in der Lebensschule. In: Die Österreichische Volkshochschule (7) 21, 12–15 / Reprint 1984 in ÖHV (35) 133, 2–5.

Neben der hier aufgelisteten Literatur, aus der zitiert wurde, wurden unzählige VHS Mitteilungen/Kursprogramme nach 1945, v. a. der Volkshochschulen Polycollege Margareten (Meidling), Ottakring, Wien Nord, und auch Dokumente des Verbands Wiener Volkshochschulen durchforstet. Ein Dank dem Österreichischen Volkshochschularchiv und seinen Mitarbeiter*innen.

Nowak, Christian (2024): Der Zweite Bildungsweg an den Wiener Volkshochschulen seit 1945. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Herbst 2024, Heft 283/75. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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