Als Humanist, erklärte der satirische Freidenker Kurt Vonnegut, versuche ich, mich anständig zu verhalten, ohne Belohnung oder Strafe nach dem Tod zu erwarten. Nicht ganz einverstanden? Kein Problem! Humanismus hat viele Spielarten, urteilt Sarah Bakewell, Schriftstellerin und Hochschullehrerin für Creative Writing an der City University in London. Mit diesem Buch bereitet sie siebenhundert Jahre Geschichte des Humanismus angenehm lesbar auf.
Als Arbeitsbegriff schlägt die Autorin vor, Humanismus mit drei Prinzipien zusammenzufassen:
- Freies Denken: mit sozialer und politischer Verantwortung dem moralischen Gewissen sowie evidenten Beweisen zu folgen, nicht Dogmen oder Autoritäten;
- Forschung: auf Bildung und Studium, auf kritisch geprüfte Quellen und Texte vertrauen;
- Hoffnung: darauf hinwirken, in der Lebenszeit Sinnvolles zu schaffen – sich im Bereich und auf Basis von gesicherten Erkenntnissen für das Wohlergehen von Menschen und anderen Lebewesen einsetzen.
Wie schon gesagt, attestiert die Autorin dem Humanismus große Vielfalt, die es nicht erlaubt, ihn nur auf eine spezielle Theorie oder Praxis einer bestimmten Personengruppe festzulegen. Sarah Bakewell will das Verbindende hervorheben. Sie bietet (S. 14) „eine Geschichte des Humanismus im Geist des Verbindenden und nicht des Trennenden“. In diesem Sinne bekommen nicht nur männliche, sondern auch weibliche Protagonist*innen des Humanismus Anerkennung und Aufmerksamkeit.
Die hauptsächlich an Personen orientierte Spurensuche beginnt im 14. Jahrhundert. Opinionleaders und Influencer waren damals Francesco Petrarca (1304–1374) und Giovanni Boccaccio (1313–1375). Diese beiden Gleichgesinnten wollten ein „Modell des guten Lebens“ – sie fanden es zunächst in der römisch-antiken Literatur bezeugt – reaktivieren. Deshalb sammelten sie antike Handschriften, suchten und entdeckten sie in den Bibliotheken von Klöstern, kopierten Bücher – jedes einzelne handschriftlich! – verfassten viele Briefe und eigene Texte. Schreiben war ihr Tagesgeschäft.
Nicht zu vergessen, die ersten Humanisten lebten in finsteren, unsicheren und instabilen Zeiten: Inquisition, Pest, Syphilis, Kriege um regionale Vorherrschaft zwischen Kirche und weltlichen Machthabern beeinflussten und beunruhigten die damalige Gesellschaft. Visionär versuchten „die Humanisten“ vergangene Kultur, die bewusst durch die frühen Christen zerstört worden war, wieder herzustellen. Sie verstanden sich als Retter der Vergangenheit und wollten eine Wiedergeburt – Renaissance – der Geschichte einleiten, um in eine erhellte Zukunft zu führen.
Um Mensch zu werden, galt Bildung als eine wesentliche Voraussetzung. Bildung in ihrer Verbundenheit und Vielfalt: lernen, lesen, schreiben, forschen, erkunden, kommunizieren. Dies alles sollte beitragen, eine Vergangenheit zu „ent-decken“, die den Nimbus einer besseren Welt hatte.
Auch die Nachfolger*innen der beiden Freunde Petrarca und Boccaccio sammelten und suchten antike Texte, erkundeten die Reste und – soweit von Zerstörungen verschont geblieben – Relikte vorchristlicher religiöser Stätten. Latein ermöglichte überregionale Verständigung, die neu geschaffenen Universitäten wurden organisatorische Stützpunkte. Die dort angebotene Bildung sowie der ab Mitte des 15. Jahrhunderts sich ausdehnende Buchdruck förderten moralphilosophische Studien, das Vermitteln historischer Kenntnisse sowie europaweite Kommunikation.
Das kritische Potenzial der Humanisten empfanden die Herrschenden oft als Provokation. Als ein Beispiel führt Bakewell die Enttarnung der „Konstantinischen Schenkung“ (1440) als Fake an. Diese „Schenkung“ sprach dem Papst die Herrschaft über den Westen Europas und über die italienische Halbinsel zu. Der Widerspruch gegen Vorherrschaft und Deutungshoheit der katholischen Kirche wurde allerdings mit Verfolgung, Prozess, Folter und Tod bedroht und beantwortet.
Trotzdem entwickelten und pflegten die Humanisten*innen heute noch immer gültige wissenschaftliche Tugenden: Vertrauen in eigenes Denken und Wahrnehmen, ausgewiesene Expertise und Belege statt Berufung auf Autoritäten, „Erforschung der Umstände, unter denen Texte und Ansprüche formuliert wurden“ (S. 108) – aktuell firmiert das methodisch unter „ideologiekritische Analyse“.
Angewandte Medizin basierte auf interdisziplinären naturwissenschaftlichen und humanistischen Studien. Sie wollte Linderung menschlichen Leidens erreichen und bewirkte eine „realistische Wende“ im Humanismus. Humanisten konzentrierten sich nicht mehr nur auf „alte Texte“, sondern beschäftigten sich intensiv mit den Bedingungen menschlicher Existenz in der jeweiligen Gegenwart. Realitätsbezug und somit auch die Überprüfung, wenn notwendig die Korrektur antiker Schriften ergaben sich z. B. aufgrund neuer Erkenntnisse durch das üblich gewordene Sezieren menschlicher Körper oder durch die Pflege botanischer Gärten und das unmittelbare Studium von (Heil)Pflanzen.
Konsequenterweise entwickelten sich neue Lehrmethoden – nämlich am Objekt – und es festigte sich ein neues Selbstverständnis: auf sich selbst, auf die eigenen Wahrnehmungen und auf die eigenen Untersuchungen zu vertrauen.
Besondere Aufmerksamkeit finden im Kapitel „Menschliche Angelegenheiten“ die Humanisten Erasmus von Rotterdam (1466–1536) und Michel de Montaigne (1533–1592). Beide waren ihr Leben lang Zeugen und Betroffene von Glaubens- und Machtkriegen, Anhänger von gelassener Lebensführung mit weniger oder mehr Distanz zu Religion, beide dem Studium von Texten und eigener schriftstellerischer Tätigkeit verpflichtet.
Danach folgt im 17. Jahrhundert das Zeitalter der Aufklärung. Eine Epoche, in der Humanisten*innen Bedingungen für „gutes Leben“ nicht nur reflektieren, sondern auch herstellen wollten, um gutes Handeln zu ermöglichen. Im Sinne Erich Kästners: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“
Bildung, als Entfaltung aller Anlagen der Person, wird mit Hinweis auf Wilhelm von Humboldt im Kapitel „Die Menschheit entfalten“ diskutiert. Daran anschließend verweist die Autorin auf eine neuerliche „Zeit des Umbruchs“. Sie erörtert den Einfluss von Wissenschaft ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Bezug auf Charles Darwins Theorie „Von der Vielfalt der Lebensformen“. In dieser „Ära der Hoffnung“ platziert Sarah Bakewell auch die Bemühungen von Humanisten um eine gemeinsame Sprache – Esperanto – sowie das vielfältige Engagement des Philosophen und Mathematikers Bertrand Russell (1872–1970).
Die weibliche Dimension der Historie betreffend zeigt Bakewell Frauen als „Objekt der Begierde“, die von männlichen Dichtern verehrt werden, aber auch als Streiterinnen für Frauenrechte und Emanzipation. Z. B. Olympe de Gouges (1748–1793), Mary Wollstonecraft (1759–1797) oder Jane Harrison (1850–1928). Letztere „wagte“ in einem Essay „Homo sum“, das lateinische Subjekt „Homo“ – im Englischen bislang nur mit „Mann“ übersetzt – auch auf Frauen anzuwenden. Die Formulierung von Gesetzen nur mit weiblichen Endungen, wie es vor kurzem in einem kleinen europäischen Staat (Österreich) geschehen ist, könnte in einer künftigen Auflage des Buches als Highlight in der langen Geschichte des Genderns aufgenommen werden.
Im 20. Jahrhundert registriert Bakewell den Antihumanismus, der die Schwächen menschlicher Existenz hervorhebt, auf dem Vormarsch, aber auch den humanistischen Widerstand gegen Schrecken und Verzweiflung. Das letzte Kapitel, das die Entwicklung humanistischer Organisationen, Manifeste und Kampagnen bis in die Gegenwart schildert, mündet in ein Credo, wie man im Leben glücklich werden kann. Es klingt einfach (S. 409): „Der Weg, um glücklich zu sein, ist andere glücklich zu machen.“
Am Ende des Buches findet sich eine aktuelle „Erklärung des modernen Humanismus“ (2022). Da diese die Grundgedanken des Humanismus überzeugend präsentiert, fördert es vielleicht Interesse und Motivation für das Thema, diese „Erklärung“ schon einleitend zu lesen.1
Sarah Bakewells anschauliche Personengeschichte des Humanismus eignet sich als Lektüre und Diskussionsgrundlage für alle Menschen, die gut sein und für „ein gutes Leben“ eintreten wollen: auch in Kooperation und im Zusammenleben mit anderen Menschen und Lebewesen.
Daher in der Erwachsenenbildung vor allem für die Bereiche Politische Bildung und Professionalisierung empfehlenswert. //
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