Demokratie lernen
Praxis der Verbundenheit für eine lebenswerte Zukunft

Realitäten

Die aktuellen Krisen – Klima, Care, Kapitalismus, Gewalt, Demokratie – sind hinlänglich beschrieben. Vieles ist gefährdet. Keine der Krisen steht für sich allein und alle haben Auswirkungen auf demokratische Bedingungen. 

„Wir haben einen neuen Blick dringend nötig“, schreibt der Philosoph und Biologe Andreas Weber (2024, S. 27) in seinem Buch „Indigenialität“: „Wir befinden uns an einer Engstelle der Lebendigkeit auf diesem Planeten und zugleich in einem Vakuum gesellschaftlicher Visionen.“

Voraussetzung für unser Leben ist zuallererst eine intakte Natur und Umwelt, die demokratische Verhältnisse erst ermöglicht. Vor Auswirkungen des Klimawandels geschützt zu werden ist ein Menschenrecht, wie die Zustimmung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur Klage der Schweizer Klimaseniorinnen im April 2024 beweist.1

Neben Klimabedrohungen schwächen weltweite Konflikte die Demokratien. Im Februar 2024 veröffentlichte das britischen Analyseunternehmen Economist Intelligence Unit den aktuellen Demokratieindex. Er „liegt für 2023 auf dem niedrigsten Stand seit der Veröffentlichung der ersten Studie im Jahr 2006. Und der Bericht zeigt, die Welt ist in ein Zeitalter der Konflikte eingetreten. […] Die Studie stellt fest, dass selbst die fortschrittlichsten Demokratien Schwierigkeiten haben, politische und soziale Konflikte im eigenen Land zu bewältigen.“ (ORF Stories: 2024).

Die Studie beschreibt auch, wie sich die politische Landschaft in den westlichen Kulturen insgesamt weiter polarisiert. Damit wird auch die Haltung, die Welt ist feindlich, alles ist knapp, wir müssen uns gegen andere schützen, genährt und es wird zunehmend schwerer, diese Einstellung zu ändern. (Vgl. Weber: 2024, S. 93).

Kulturen, die wesentlich länger als unsere gegenwärtige kapitalistische erfolgreich überlebt haben und leben, zeigen, dass die Welt vielleicht doch ganz anders ist: Animistische Kulturen gehen davon aus, dass es keine Subjekt-Objekt-Trennung gibt, dass für alle genügend vorhanden ist und Leben durch Kooperation und Gleichwürdigkeit lebbar und lebendig bleibt.

Auf Basis meiner langjährigen Auseinandersetzung mit dieser Thematik erscheint es mir immer dringlicher, sich mit möglichen Wegen bezüglich einer lebenswerten Zukunft zu beschäftigen. Im Rahmen dieses Artikels hebe ich folgende Fragen mit ihren Bezügen zu Bildung und Lernen besonders hervor:

  • Was braucht es zum Menschsein? 
  • Was dient demokratischen Verhältnissen? 
  • Welche beispielhaften Wege in eine lebenswerte Zukunft gibt es schon?
  • Welche neuen Bildungs- und Lernformen, welche Kompetenzen und welche Lernorte führen uns dahin? 

Was braucht es zum Menschsein?

Das Verständnis und die Haltung in sogenannten aufgeklärten Kulturen vom Menschen als „Krone der Schöpfung“, die ihm das Recht geben, alles das auszubeuten, was ihn am Leben erhält – ohne den Widerspruch darin zu sehen – trägt nicht mehr. Hier ist dringend ein anderes Verständnis notwendig. Es geht um ein Verständig des Menschen als Teil der Gemeinschaft von allem Lebendigen.

Eine wichtige Grundlage menschlicher Existenz ist Verbundenheit. Menschen sind wie viele andere Lebewesen eine Spezies, die von Natur aus kollektiv und kooperativ funktioniert. Sie verbinden sich mit anderen Menschen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen und sich gegenseitig zu unterstützen. Die Fähigkeit, im Team zu arbeiten, Informationen auszutauschen, Ressourcen zu teilen und durch gegenseitige Unterstützung erfolgreich zu sein ist die wichtigste Voraussetzung für unser Leben. Das gilt für alle lebendigen Wesen.

Autor*innen wie Robin Wall Kimmerer oder Andreas Weber, haben in ihren Forschungen der letzten Jahre hervorgehoben, wie bedeutsam Verbundenheit für die menschliche Existenz und alles Lebendige ist.

Wenn wir Menschen uns bewusst machen, dass auch andere Lebewesen ‚intelligent‘ sind, können wir eine nachhaltige Zukunft schaffen. Wir wissen um die Kommunikationsfähigkeit der Bäume und die sozialen Fähigkeiten von Tieren. Von den großen Fähigkeiten – z. B. von Bienen und Ameisen, Gemeinschaften zu bilden – können wir lernen.

Dazu ist ein grundlegender Wandel der Werte unserer westlichen Kulturen notwendig: im Verständnis vom Menschsein, in der Art des Wirtschaftens, bei Rahmenbedingungen für Demokratie und Sicherheit, in der Haltung gegenüber allem Lebendigen und im Verständnis von Arbeit.

Die US-amerikanische Philosophin und Feministin Nancy Fraser beschreibt in ihrem Buch „Allesfresser“ (vgl. Fraser: 2023) eine Lösung der aktuellen Problemlage in einer Umwertung aller Werte. Güter wie der Reichtum der natürlichen Welt und die zwischenmenschliche Fürsorge müssen höchste Priorität gegenüber profiorientierter wirtschaftlicher Arbeit bekommen. Naturschutz, menschliche Fürsorge und politische Stabilität dürfen der Wirtschaft nicht untergeordnet werden. 

Ein nachhaltiger Wandel, der in eine sozial, ökologisch und wirtschaftlich gerechte Zukunft führt, braucht demokratische Verhältnisse und ist gleichzeitig Voraussetzung für Demokratie. Jede*r Einzelne ist gefordert, einen Beitrag dazu zu leisten.

Handlungsfelder für den individuellen Beitrag dazu gibt es viele. Es ist nicht wichtig, ob familiär, freundschaftlich oder in kommunalen Zusammenhängen, in politischen Organisationen, Pflegheimen, Kindergärten oder in Wald und Garten, die Pflege und Unterstützung alles Lebendigen schafft Gleichwürdigkeit und stärkt demokratische Umgangsformen.

Was dient demokratischen Verhältnissen?

Wir brauchen aufgeklärte kritische Bürger*innen, die bereit sind, Fragen zu stellen, nicht gleich Antworten zu erwarten, sondern – frei nach Rilke – in die Fragen hineinzuleben.2

Für eine lebenswerte Zukunft braucht es kompetente und engagierte Bürger*innen. In seinem Buch, „Die Zukunft der Demokratie“, plädiert deshalb der renommierte Politikwissenschafter an der Humboldt Universität Berlin, Herfried Münkler (2022, S. 138 ff.), für mediale und kommunikative Kompetenz, für Bereitschaft zu politischem Engagement besonders in kommunalpolitischen Angelegenheiten – „an den Graswurzeln der Demokratie“. 

Demokratie setzt Rahmenbedingungen voraus, die demokratisches Miteinander ermöglichen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Etablierung des Klimarates in Österreich 2022, die Rahmenbedingungen ermöglichte, in denen demokratisch ausgehandelt werden konnte. Ähnliche Rahmenbedingungen hat Marlene Engelhorn mit ihrem „Guter Rat für Rückverteilung“ zur Verfügung gestellt.3

Demokratie heißt Verantwortung zu übernehmen und sich um die Welt rundum zu kümmern, sich als Teil des Ganzen zu begreifen. Das kann Verschiedenes bedeuten und verschiedene Ausformungen, je nach Lebenszusammenhang annehmen: Manche kümmern sich um die Artenvielfalt in ihrem eigenen Umfeld, andere machen dies in Form politischen Engagements und wieder andere dadurch, dass sie die Produktionsbedingungen ihres Unternehmens dahingehend ausrichten oder ihre Energie selbst produzieren. 

Es gibt viele Möglichkeiten sich aktiv für demokratische Prozesse einzusetzen und es wird aktuell viel dazu getan.

Seit Ende 2023 sehen wir auch in Österreich unter den Titeln „Demokratie verteidigen – gegen Faschismus & Rassismus“ oder „Lichtermeer gegen Rassismus – für Menschenrechte“, dass viele Menschen für das Thema in vielen Städten auf die Straßen gehen. Diese Demos sind von wenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen organisiert, denen sich zahlreiche andere Organisationen, wie zum Beispiel NGOs, politische Parteien, Arbeiterkammer, Gewerkschaftsbund und Caritas anschließen. (Vgl. Wohlgenannt: 2024).

Auch auf anderen Ebenen wird aktiv und kontinuierlich für eine demokratische Zukunft gearbeitet. In kleinen Bereichen versuchen Menschen es anders zu machen: neue Wohnformen, neue Kooperationsmodelle, Kreislaufwirtschaft und Gemeinwohl-Ökonomie und vieles mehr. In diesen Initiativen orientieren sich Diskurs und Entscheidungen oft an den Gemeinschaftsbedürfnissen. In diesem Zusammenhang hält der Politikwissenschafter Herfried Münkler (2022, S. 137) anstelle einer „Konkurrenzdemokratie mit Mehrheitsentscheidung“ ein „Konsensmodell der Demokratie, das auf Aushandlungsprozessen und Kompromissen beruht“, für sinnvoller. Viele dieser Beispiele beruhen auf einer Haltung der Verbundenheit und sind gleichzeitig Lern- und Übungsfelder für zukunftsfähiges Handeln. 

Diese Kultur der Kooperation und Verbundenheit kann in indigenen und frühen Gesellschaften beobachtet werden: sie lebten und leben durch Gegenseitigkeit in Netzwerkbeziehungen. „Sich an den Indigenen orientieren heißt darum, den Weg zurückzufinden zu unserem wahren Selbst“, schreibt der deutsch-italienische Biologe und Philosoph Andreas Weber (Weber: 2024, S. 109). Als wahres Selbst beschreibt er die Tatsache, dass Lebewesen nur im Austausch mit anderen existieren und die Realität des anderen der eigenen Existenz zugrunde liegt. Eine Kultur der Verbundenheit als Voraussetzung für ein demokratisches Miteinander auch mit nichtmenschlichen Wesen können wir in diesen Kulturen beobachten.

Die US-amerikanische Anthropologin und Indigene Robin Wall Kimmerer beschreibt die Haltung der Verbundenheit als Kulturgut. Für die Heilung unserer Beziehung zur Welt braucht es einen Zopf aus drei Strängen: „dem Wissen der Indigenen, der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und der Geschichte einer Wissenschafterin vom Stamm der Anishinaabe, die versucht, alle drei zusammenzubringen.“ (Kimmerer: 2022, S. 10).

Die Überlegungen und Ausführungen von Robin Wall Kimmerer und Andreas Weber beschreiben sehr deutlich, wie wichtig es für demokratische Verhältnisse ist, den Weg vom ICH zum WIR, zur Interdependenz einzuschlagen.

Körper – unabhängig ob Bäume oder Wälder, Tiere oder Rudel, menschliche Körper oder Gemeinschaften – existieren nur deshalb, weil ihre Einzelteile miteinander verbunden sind. Jeder menschliche Körper, jeder Baum, jede Gemeinschaft existiert als Ganzes, weil Atome und Zellen miteinander kommunizieren, zuhören und kooperieren. 

Es geht um ein Bewusstsein der Verbundenheit, des in Beziehung-Seins. Nicht ICH sondern WIR ist die Grundlage und die Orientierung des Lebens und eine Vorrausetzung für ein demokratisch geprägtes Leben.

Welche beispielhaften Wege in eine lebenswerte Zukunft gibt es schon?

Beispiele in diesem Sinne finden sich im gemeinsamen Handeln in selbstorganisierten Gemeinschaften. Menschen schließen sich zu einzelnen Themenbereichen zusammen, weil sie etwas in die Welt bringen wollen. 

Diese oft lokalen und kleinteiligen Aktivitäten haben Auswirkungen auf größere Zusammenhänge und Vorbildwirkung. Durch das Erleben von demokratischen Umgangsformen und ihren Grenzen verändert sich der Blick auf das größere Ganze. Diesen Aktivitäten können Visionen für die Zukunft erzählen. 

Um diese Realitäten zu beschreiben, lohnt sich der Blick in die Praxis. Drei zivilgesellschaftliche Projekte aus den Bereichen Ernährungssicherheit, Energiewende und gerechte politische Rahmenbedingungen wurden in den letzten Wochen mit der Frage, inwieweit diese Aktivitäten der Stärkung der Demokratie dienen, in den Blick genommen. Mit jeweils einer Vertreterin eines Gemeinschaftsgartens und der Frauennetzwerke führte ich zu diesem Zweck ein Interview.

Gemeinschaftsgärten

Gemeinschaftsgärten sind öffentliche oder private Grünflächen, die von einer Gruppe von Menschen gemeinsam bewirtschaftet werden. Dabei teilen sich die Mitglieder die Verantwortung für die Pflege und den Erhalt des Gartens und können dort Gemüse, Kräuter, Blumen oder Obst anbauen und ernten. Gemeinschaftsgärten liefern nicht nur einen Beitrag zur Ernährungssouveränität. Sie sind Orte der Begegnung, der sozialen Interaktion und der Nachhaltigkeit, auch im Sinne der Grünraumerhaltung, Artenvielfalt und CO2 Bindung durch Humusaufbau. Sie dienen als Bildungsorte für ökologische Themen und als Beitrag zu einer nachhaltigen Wende.

Gemeinschaftsgärten generieren durch ihre Aktivität und ihr Interesse viel Lernen und Wissen zu Umgang mit Pflanzen, Erde, Ernährung und im Allgemeinen auch zu Themen der Ernährungssicherheit und zu Klimathemen. Durch die jeweilige Kompetenz der einzelnen Protagonist*innen und ihrer Interessensgebiete kommt viel unterschiedliches Wissen in diese Gruppen. Vielen Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen haben Platz, es braucht Buchhalter*innen ebenso wie Visionär*innen, Widerständige, Handwerker*innen und viele mehr.

Da diese Gärten oft für Vorbeigehende sichtbar sind, bieten sie Anlass für Gespräche nicht nur zu Gartenthemen – vor allem auch für Menschen, die vorbei spazieren und sich über Gesprächspartner*innen freuen. Ein Garten schafft einen niederschwelligen Einstieg in ein Gespräch, ermöglicht damit auch immer ein Feld für Diskurs und damit auch einen Lern- und Bildungsaspekt.

Gudrun Schreiner, eine Vertreterin des Gemeinschaftsgartens „Gartenzwerge Geidorf“4 in Graz betont im Interview, dass ein demokratischer Umgang in solchen Projekten „viel Zeit braucht und nur mit Empathie möglich ist“. Grundregeln, Arbeitsaufteilung, Verlässlichkeit und vieles mehr verlangen immer wieder reflektiert und verhandelt zu werden. Einzelerwartungen und -ansprüche müssen in die Aktivitäten der Gruppe eingebaut werden.

Dieser Gemeinschaftsgarten wurde im Jahr 2017 von einigen Garten-Begeisterten gegründet. Die Gruppe besteht derzeit aus etwa zwölf aktiven Gärtner*innen, die sich sowohl zeitlich als auch in Sachen Gartenwissen unterschiedlich beteiligen.

In der jährlichen Klausur werden neben Jahresplanung und Budgeteinteilung auch Gruppenprozesse reflektiert: „Hier entsteht viel Zusammenhalt und Fokussierung von Beziehungen als Grundlage für ein gelingendes Gartenjahr.“ Konflikte, die durch äußere Bedingungen entstehen, werden nach Möglichkeit gemeinsam bewältigt. Bilaterale Konflikte innerhalb der Gruppe haben immer auch mit den individuellen Lebenszusammenhängen zu tun und erfordern ebenso individuelle Reflexion, die in unserer Kultur nicht selbstverständlich ist.

In Projekten zu diesem Thema wechseln auch immer wieder die Aktiven. Neue kommen dazu, anderen steigen wieder aus, aus Zeitgründen, wegen Wohnortwechsel, aber auch, weil die Gartenbeteiligung unterschätzt wurde. Eine Kerngruppe schafft jedoch Kontinuität. Laut Gudrun Schreiner ist „jede Kompetenz willkommen, vorausgesetzt die Menschen gehen in Zusammenhang mit den Aktivitäten des Gartens in Beziehung untereinander. Es gibt keine fix vereinbarten Aufnahmekriterien, allerdings bedarf es einer Selbstverpflichtung, dass die bestehenden Grundregeln akzeptiert werden und Verantwortung für bestimmte Tätigkeiten übernommen wird. Je schneller jemand eine Verantwortung verlässlich übernimmt, desto schneller ist diese Person Teil der Gruppe.“

Demokratische Prozesse in Gruppen erfordern immer auch, sich selbst mit den eigenen Vorstellungen zurückzunehmen, die Gemeinschaft vor persönliche Interessen zu stellen. Gudrun Schreiner spricht in diesem Zusammenhang von ihren eigenen Erfahrungen: „Der Prozess, Fehler einzugestehen, Toleranz gegenüber von mir unerwünschtem Verhalten zugunsten anderer Vorstellungen zu entwickeln, ist für alle eine Herausforderung. Ich erfahre oft, dass um demokratische Prozesse gerungen werden muss. Mein Fazit: es braucht Wächter*innen für demokratische Abläufe und starke Persönlichkeiten, die die Konfliktfähigkeit der Gruppe im Auge haben.“

Erneuerbare Energiegemeinschaften (EEG)

EEGs sind Zusammenschlüsse von Personen oder Organisationen, die gemeinsam elektrische Energie erzeugen, nutzen oder untereinander teilen. Seit 2021 ist es möglich, dass sich mehrere Haushalte, Unternehmen und kommunale Einrichtungen in einem geographischen Nahbereich zu einer EEG zusammenschließen. Der finanzielle Gewinn ist dabei nachrangig.

Ein Team von drei Frauen und vier Männern gründete im April 2023 – mit mir als Obfrau – die EEG Dreiklang5 als erste EEG an meinem Wohnort. Aus den Erfahrungen dieser Energiegemeinschaft zeigt sich, dass die Teilnahme an einer EEG das Bewusstseins verändert. Die Teilnehmenden stellen Überlegungen an, wie sie ihren Stromverbrauch reduzieren können und wann sie Strom von der EEG beziehen können. Das verändert das Verhalten. EEGs machen es möglich, dass Einzelne Verantwortung für die Energiewende übernehmen. 

Als Motivation, sich an einer EEG zu beteiligen, ist für viele Menschen u. a. das Wissen darüber ausschlaggebend, wo der Strom, den sie verbrauchen produziert wird. Damit wird der Strombezug auch zu einer nachbarschaftlichen Beziehung. Das fördert nicht nur den bewussten Umgang mit Energie, sondern auch die Kommunikation und Kooperation unter den Beteiligten. 

Bei der Gründung der EEG, bei der ich beteiligt bin, war wohl der schwierigste Teil, ein Projekt zu starten, ohne den Weg zu kennen, ohne zu wissen, wie es geht und wohin es führt. Das setzt viel Vertrauen und Kooperation voraus und braucht Wissen und Kompetenzen in Technik, Energiewirtschaft, Recht, Sozialem und Organisation ebenso wie in Teamarbeit.

Eine wichtige Aktivität einer EEG ist die Definition des Strompreises: Eine EEG kann selbst den Preis definieren und auch immer wieder anpassen, um den ihre Mitglieder den Strom kaufen und verkaufen – unabhängig von den Marktpreisen. Meiner Erfahrung nach werden im Diskurs zu Festlegung der Preise die Grenzen demokratischen Verhaltens spürbar: diese Verantwortung zu übernehmen ist schwierig, da Menschen nicht geübt sind, in Bereichen wie der Energieversorgung und den Energiepreisen selbst zu entscheiden.

Der Zugang zu sauberer und leistbarer Energie ist auch ein Gerechtigkeitsthema. EEGs sind eine Möglichkeit, Haushalte zu unterstützen, die von Energiearmut betroffen sind.

Paula Friederichsen (Friederichsen: 2024) von „Ourpower“ – eine Energiegenossenschaft – hat im Rahmen ihrer Masterarbeit den Auftrag an EEGs – sie sollen den Energiemarkt demokratisieren, indem sie von großen Konzernen weg und hin zu einer dezentralen und demokratischen Energieversorgung führen – genauer in den Blick genommen. EEGs führen nicht automatisch zu Energiedemokratie. Laut Friederichsen erfordert der Wandel zur Energiedemokratie zusätzliche unter anderem Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen, lokale demokratische Entscheidungsfindung und eine aktive Gewährleistung einer breiten Beteiligung. Das Ziel müsse eine geschlechtergerechte Energiewende sein. Daher ist es wichtig, Frauen zu motivieren, sich in diesem Bereich zu engagieren und sie einzubeziehen.

Für das Gelingen einer EEG ist es wichtig, dass zumindest eine Person die Koordination ehrenamtlich für alle übernimmt und Unterstützung aktiv einholt. 

Frauennetzwerke in der Steiermark

Graz und die Steiermark haben eine lange Tradition der Kooperation unter den Gruppen und Organisationen, die sich um Belange von Frauen kümmern.

In Graz gibt es mit einer Unterbrechung von sieben Jahren seit 1986 eine von der Stadt unabhängige, weisungsfreie Frauenbeauftragte. Der „Frauenrat“6, der die Frauenbeauftragte begleitet, ist als parteiunabhängiges, überkonfessionelles, eigenverantwortliches Bündnis vieler Gruppen und etablierten Institutionen eingerichtet worden.

2017 wurde – auch auf Basis der #MeToo-Bewegung – auf Grundlage des Netzwerkes gegen sexualisierte Gewalt zusätzlich das Women*s Action Forum (WAF)7 gegründet, mit dem Ziel Personen aus unterschiedlichsten Einrichtungen zum Thema zu vernetzen. Rund 140 Organisationen und Aktive (davon zirka 20 außerhalb von Graz) sind Kooperationspartner*innen.

Für die Akteur*innen des WAF war es wichtig, von Anfang an vernetzungsfördernde Foren einzurichten, einerseits, damit sich Menschen, die im genannten Bereich tätig waren, kennenlernen, und andererseits, um sich gegenseitig zu stärken und eine Stimme nach außen zu etablieren.

Im Auftrag des WAFs koordiniert das „Bündnis 0803“7 seit 2019 ein vielfältiges Programm in der ganzen Steiermark rund um den Internationalen Frauentag am 8. März – den Frauenmonat März. Kooperationspartner*innen sind neben Organisationen, Gruppen, Institutionen auch Einzelpersonen und politische Parteien. Diese Form der breiten Beteiligung bewährt sich.

Durch die lose Verbindung im Rahmen des Bündnisses ist ein Zusammenschluss vieler Gruppen und Menschen möglich und geht weit über einen feministischen Zirkel hinaus. Durch ein jährlich neu vereinbartes Motto beteiligen sich viele unterschiedliche Organisationen. Ein definierter Forderungskatalog würde das erschweren.

Die Koordinatorin des „Bündnisses 0803“, Lisa Rücker, erzählt in einem Gespräch, dass dieses jeweils zeitgemäße Motto viele anregt, selbst aktiv zu werden. „Es wirkt wie eine Einladung dazu, aktiv zu werden und Verantwortung zu übernehmen und ist damit auch eine Einladung zu demokratischer Teilhabe.“

Als große Herausforderung nennt Lisa Rücker, die Notwendigkeit, durch das jährliche Motto ein Fundament, einen Rahmen zu definieren, innerhalb dessen eine Vielfalt von Aktivitäten stattfinden kann. Diesen Rahmen gilt es auch zu halten.

Dabei spielt auch der Generationenaspekt in beide Richtungen eine wichtige Rolle. Einerseits braucht es den Respekt in Hinblick auf alles, was Frauen schon früher erarbeitet haben, und andererseits braucht es die neuen Perspektiven von jüngeren Generationen.

Das Fundament bzw. der Rahmen im Falle des „Bündnisses 0803“ ist die Selbstbestimmung von Frauen, die Gleichwürdigkeit aller Menschen und Tätigkeiten. Der Rahmen schützt, gibt Sicherheit und Handlungsmöglichkeiten. Durch ein breites übergeordnetes Thema fühlen sich Einzelne in ihrem Engagement geschätzt. Der Rahmen erfordert keine Kompromisse, weil innerhalb dessen alle alles machen können. 

Laut Lisa Rücker ist die Kunst der demokratischen Kooperation, die Grenzen auszuloten, zu definieren, zu lernen „an die Ränder zu gehen, zu reflektieren, wo die Grenzen überschritten werden.“

Kooperation braucht Führung, im Sinne der Koordination und Moderation. Hier wird für die unterschiedlichen Entscheidungsläufe – z. B. ein Motto definieren – jemandem oder mehreren ein Mandat gegeben und, im Sinne der geteilten Verantwortung, darauf vertraut.

Insgesamt beschreibt Lisa Rücker als Weg für die Zukunft: „In Freundschaft mit- und nebeneinander leben zu können, im Sinne der Geschwisterlichkeit (nicht familiär zu verstehen), Freundschaft breiter als intime Freundschaft verstehen lernen.“

Welche neuen Bildungs- und Lernformen, welche Kompetenzen und welche Lernorte führen uns dahin?  

Durch die aktuellen Krisen und Herausforderungen in der Welt bleiben Menschen auch immer Lernende. In der Bildung von Erwachsenen bedeutet das immer wieder zu reflektieren, was neu zu lernen ist oder was zu verlernen ist. Eine mögliche Orientierung dafür bietet die Beschäftigung beispielsweise mit Gruppen, wie oben beschrieben. 

An den drei Beispielen wird sichtbar, welche demokratischen Qualitäten in aktiven Gruppen wichtig sind und gelernt und geübt werden können. Jede*r übernimmt Verantwortung und kümmert sich um das gemeinschaftliche Gelingen. Aufgrund des jeweiligen Themas werden viele Kompetenzen aufgebaut. So können diese Gruppen auch als Lerngemeinschaften und Lernorte verstanden werden.

Zusammenfassend aus den drei Beispielen kann gesagt werden, dass für einen demokratischen Umgang in heterogenen Gruppen folgende Kompetenzen wichtig sind:

Wissen

Wissen und Fakten sind vorhanden. Wichtig erscheint mir dieses Wissen auf seine Grenzen und seine Basis zu überprüfen und mit dem Erfahrungswissen zu kombinieren. Im Diskurs zweifeln zu lernen und zu üben. 

Selbstreflexion

Selbstreflexion erscheint mir als die Grundlage aller gelingenden Beziehungen zu Einzelpersonen, zu Gruppen und auch zur Welt. Sie ermöglicht das Erkennen der Grundlagen der eigenen Haltungen und der Umgangsformen. 

Zeit

Demokratische Prozesse brauchen Zeit. In einer schnellen Welt langsamer zu werden ist eine Kunst, die erprobt sein will! 

Empathie

Einfühlungsvermögen, Toleranz und Respekt gegenüber anderen Haltungen, unterschiedlichem Generationenwissen und anderen Kompetenzen erleichtern demokratisches Miteinander.

Kokreation

In heterogenen Gruppen zu kooperieren, kann neue Zukunftserzählungen und gesellschaftliche Visionen schaffen. Dazu ist es notwendig, dass jede*r Einzelne*r bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, die eigenen Bedürfnissen hinter die der Gemeinschaft zu stellen, zuzuhören und sich aktiv am Diskurs zu beteiligen. Voraussetzung dafür ist, bereit zu sein, in Beziehung mit den anderen Beteiligten zu gehen. 

Aus den Beispielen geht ebenso hervor, dass bestimmt Organisationsformen als Grundlage dienen, damit demokratische Prozesse gelingen: 

Führung: Es braucht Kümmerer*innen und Wächter*innen des Wissens und der Demokratie. Damit erscheinen Kompetenzen beispielsweise im Bereich der Moderation unerlässlich.

Entscheidungsmethoden: Um alle Beteiligten in gleichem Maß bei Entscheidungen zu berücksichtigen, sind mehr als Mehrheitsentscheide notwendig. Es erscheint oft zielführender im Konsens zu entscheiden (mehr dazu beispielsweise im Systemischen Konsensieren).9

Lernorte: Neben den traditionellen Bildungseinrichtungen und organisierten Angeboten zeigen die oben beschriebenen Beispiele viele andere Orte, wo Lernen stattfindet. Diese Orte können für die Praxis und das Üben von Demokratie genutzt werden. Dabei findet Bildung lebensnaher im Sinne des Menschseins und des Handelns statt.

Vernetzung: Wenn sich Menschen zu bestimmten Themen zusammenschließen, finden demokratische Prozesse im gemeinsamen Handeln statt. Für Institutionen, die sich mit Lernen und Bildung beschäftigen, ist es wünschenswert, dass sie sich mit solchen Lernorten vernetzen, sie für ihre Zielgruppen nutzen.

Die beschriebenen Kompetenzen und Haltungen und die Organisationsformen bilden eine Orientierung für eine demokratische und lebenswerte Zukunft. Sie zu lernen, zu üben, weiterzuentwickeln nenne ich eine Praxis der Verbundenheit. Lernen bezieht sich hier auf die Ebenen des rationalen Denkens, der Gefühle und der Intuition. Wie diese Praxis der Verbundenheit genauer auszuformen ist, ist aktuell Inhalt meiner Forschungsarbeit.

Ich sehe es als Aufgabe von Bildung, für diese Praxis anzuleiten, Räume – im Sinn von Zeit und Ort – zur Verfügung zu stellen und Orientierungen zu geben. ­Politik sollte dazu die Rahmenbedingungen schaffen.

Eine Möglichkeit „Praxis der Verbundenheit“ zu lernen, zu üben, sich anzuvertrauen und sie zu beschreiben, bildet für mich ich die Aussagen von Robin Wall Kimmerer (Kimmerer: 2022, S. 214) zu den „Grundregeln der Ehrenhaften Ernte“:

  • Wisse um die Lebensweise derer, die für dich sorgen, damit du auch für sie sorgen kannst.
  • Stell dich vor. Mach dir klar, dass du der/diejenige bist, die/der um Leben bittet.
  • Bitte um Erlaubnis, bevor du nimmst. Hör auf die Antwort.
  • Nimm nie das Erste. Nimm nie das Letzte.
  • Nimm nur, was du brauchst.
  • Nimm nie mehr als die Hälfte. Lass etwas für die anderen übrig.
  • Ernte so, dass du möglichst wenig Schaden anrichtest.
  • Nutze es respektvoll. Verschwende nie, was du genommen hast.
  • Teile.
  • Danke für das, was dir geschenkt wurde.
  • Hinterlasse ein Gegengeschenk für das, was du genommen hast.
  • Erhalte die, die dich erhalten, und die Erde wird für immer bleiben.“ //

1   Siehe: https://www.derstandard.at/story/3000000215052/gerichtshof-schweiz-verletzt-menschenrechte-wegen-fehlenden-klimaschutzes [20.5.2024].

2    Siehe: https://www.erschaffedichneu.de/ueber-die-geduld-rainer-maria-rilke/ [20.5.2024].

3    Vgl. https://guterrat.info/ [20.5.2024].

 

4   Siehe: https://www.facebook.com/profile.php?id=100064614644214 [20.5.2024].

5   Siehe: https://eeg-dreiklang.at/ [20.5.2024].

6   Siehe: https://www.grazerfrauenrat.at/ [20.5.2024].

7   Siehe: https://womensactionforum.at/ [20.5.2024].

8   Siehe: https://0803.at/ [20.5.2024].

9   Siehe dazu: https://sk-prinzip.eu/methode/se [20.5.2024].

Literatur

Fraser, Nancy (2023): Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Friederichsen, Paula (2024): Wessen Energiewende? Eine feministische Analyse von Energiegemeinschaften auf dem Weg zur Energiedemokratie. Masterarbeit, Wien Verfügbar unter: https://dialog.ourpower.coop/blog/wessen-energiewende/ [13.3.2024].

GREEN CARE Team der Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik (2024): Was sind Gemeinschaftsgärten? Verfügbar unter:  https://www.greencare.at/wp-content/uploads/sites/6/2020/07/Infoblatt-Gemeinschaftsga%CC%88rten.pdf [13.3.2024].

Hofmann, Barbara (2024): Demokratie braucht Feminismus. Verfügbar unter:  https://renner-institut.at/blog/feminismus-braucht-demokratie [20.3.2024].

Kimmerer, Robin Wall (2022): Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen. Berlin: Aufbau Verlag.

Münkler, Herfried (2022): Die Zukunft der Demokratie. Wien: Christian Brandstätter Verlag.

ORF Stories (2024): Konflikte schwächen Demokratien weltweit. Verfügbar unter: https://orf.at/stories/3348819/ [15.2.2024].

Österreichische Koordinationsstelle für Energiegemeinschaften: Verfügbar unter: https://energiegemeinschaften.gv.at/ [13.3.2024].

Szigetvari, András (2024): Von Konzernen unabhängig Strom beziehen? Die Idee boomt. Wie man davon profitiert. In: Der Standard, 17. März 2024. Verfügbar unter: https://www.derstandard.at/story/3000000211950/b252rger-unter-strom [17.3.2024].

Weber, Andreas (2024): Indigenialität. Berlin: Matthes & Seitz.

Weber, Andreas (2020): Warum Kompromisse schließen? Berlin: Duden.

Wohlgenannt, Lisa: „Demokratie verteidigen“: Österreich demonstriert immer noch gegen Rechtsextremismus. Verfügbar unter: https://www.moment.at/story/demo-gegen-rechts/ [18.3.2024].

Fejer, Ulli (2024): Demokratie lernen. Praxis der Verbundenheit für eine lebenswerte Zukunft. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr/Sommer 2024, Heft 282/75. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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