Bildung auf Augenhöhe
Partizipativ gestaltete Bildung für Menschen auf der Flucht

1. Vorüberlegungen –

Bildung unter erschwerten Bedingungen

Flucht und Vertreibung stellen einen abrupten, meist erzwungenen und ungeplanten Einschnitt in die Biographie von Menschen dar. Die unvorbereitete Trennung von Familie, Freundeskreis, Bildungseinrichtungen, Arbeitsplatz, sozialer und kultureller Umwelt bedeutet einen fundamentalen Bruch mit bisher erlebten Alltagsroutinen und vertrauten Situationen, welche die individuellen Lebenswelten geflüchteter Menschen in der Vergangenheit prägten und einordenbar erscheinen ließen.

In Österreich suchten von September 2015 bis Februar 2016 insgesamt 53.528 Menschen um Asyl an. Darunter befanden sich 35.627 Menschen männlichen und 17.901 weiblichen Geschlechts, wobei davon 484 unbegleitete minderjährige Flüchtende unter 14 Jahren und 3.731 unbegleitete minderjährige Flüchtende von 14 bis 18 Jahren verzeichnet wurden (vgl. Bundesministerium für Inneres 2019, Asylstatistik 2015 und 2016).

Angesichts der verzeichneten Asylansuchen in Österreich erscheint die Frage interessant, wie geflüchteten Familien und ihren Kindern sozial-, schul-, elementarpädagogische sowie berufs-(aus)bildungsbezogene ­Beachtung bereits bei Antragsstellung geschenkt werden kann. Um die Beteiligung bzw. Inklusion dieser Zielgruppe im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt sowie ihre Transition und erfolgreiche Verortung dorthin zu veranschaulichen, bräuchte es eine noch stärkere Berücksichtigung und gesellschaftspolitische Interessensbekundung an niederschwelligen Bildungsangeboten bereits bei Asylantragstellung.

Die Wichtigkeit dieser Forderung lässt sich vor allem dadurch begründen, dass geflüchtete Menschen altersunabhängig von abrupten Brüchen, Lücken und längerfristigen Unterbrechungen in ihrer Bildungs- und Berufsbiographie betroffen sind. Durch individuelle Fluchtgeschichten, die möglicherweise mehrere Jahre dauern können, kann es sehr leicht vorkommen, dass diese Bedingungen Zugangsbarrieren zum zukünftigen Bildungssystem und Arbeitsmarkt für sie darstellen. Jedoch nicht nur der unterbrochene Bildungsverlauf und die Brüche in der Berufsausübung und Produktivität sind an dieser Stelle interessant, sondern das gesamte Netz an verschiedenen individuellen Bewältigungsmechanismen, die den geflüchteten Menschen helfen, mit ihren erschwerten Lebenslagen bestmöglich umzugehen (vgl. Schulze & Spindler: 2017, 253).

Die Folgen der Flucht, als erzwungene und meist unfreiwillige Form der Migration (vgl. Demokratiezentrum Wien: 2008, 2), sind tiefgreifende Erfahrungen der Entwurzelung und des Nicht-ankommen-Könnens und treten zusammen mit Fragen nach dem Reiseziel und damit verknüpften Unsicherheiten auf. Nach Zimmermann (2012, S. 45) kann unter dem immerwährenden Gefühl, ständig auf dem Weg sein zu müssen, von einer „Chronifizierung der Vorläufigkeit“ gesprochen werden, die mit fehlenden oder unsicheren „Bleibeperspektiven keine stabile Normalität“ (Leitner: 2017, 115) zulässt und insbesondere die außergewöhnliche Rechtslage und damit verbundene „ungesicherte Aufenthaltssituation im Aufnahmeland“ (Zimmermann: 2012, 14) betont, in der sich flüchtende Menschen befinden (vgl. Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl 2019, Asylgesetz 2005). Diese unsicheren Bedingungen erzeugen neben rechtlichen Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt, von denen asylsuchende Menschen betroffen sind, zusätzliche Schwierigkeiten, sich in die Gesellschaft des Aufnahmelandes einzugliedern, da sie wertvolle persönliche Kompetenzen, berufliche Fähigkeiten, Ausbildung und Qualifikationen im Aufenthaltsstatus des Stellens eines Asylantrages noch nicht einbringen können. Zusätzlich werden geflüchtete Menschen im Zufluchts- oder Durchreiseland sehr oft „mit negativen Zuschreibungen, Diskriminierungen und Rassismus konfrontiert“ (Gitschier: 2017, 30).

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2. Das Projekt –

„Die Schule im Transitquartier“ als Handlungsraum interessengeleiteten Lernens: methodisch-didaktische Impulse für ressourcenbewusste Bildung

„Die Schule im Transitquartier“ war ein ehrenamtlich organisiertes, pädagogisch aufbereitetes Bildungsprojekt, das 2015 bis 2016 über sechs Monate und sieben Tage die Woche in einer Kärntner Sammelunterkunft für durchreisende, flüchtende Menschen niederschwellige Bildungsangebote für erwachsene Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche im Elementar-, Primar- und Sekundar- sowie Erwachsenenbildungsbereich bereitstellte. Auf diese Weise konnte für die Menschen auf der Flucht in diesem Sammelquartier für den Gebrauch des Menschenrechts auf Bildung (vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948, Artikel 26) gesorgt werden. Die Sammelunterkunft (oder hier: das Transitquartier) war auf einem ehemaligen Firmengelände in einer ehemaligen Druckereihalle angesiedelt. Diese Halle diente den flüchtenden Menschen als Übernachtungs- und Versorgungsmöglichkeit, wobei täglich bis zu 900 Menschen gezählt wurden, die im Transitquartier übernachteten und humanitär versorgt wurden.

„Die Schule im Transitquartier“ als Bildungsprojekt entstand aus dem situationsbedingten Bedarf heraus, ankommenden und für längere Zeit im Transitquartier verweilenden Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen Bildungs-, Entspannungs- und Spielmöglichkeiten zu schaffen. Lokalitäts-, Bedarfs- und Bedürfnisbezug waren jene Kräfte, die das Bildungsprojekt vorantrieben, das aufgrund der Außergewöhnlichkeit der gegebenen sozialen, politischen und finanziellen Umstände weder pädagogisch-strukturell vorausgeplant werden konnte, noch finanziell subventioniert wurde. Ehrenamtlich Helfende und Sachspenden aus der Bevölkerung unterstützten von Beginn an die Bildungsinitiative, die sich rasch zu einem offenen Bildungsraum für flüchtende, interessierte Erwachsene und Heranwachsende entwickelte. Vor allem Familien und Menschen, die über einen längeren Zeitraum im Transitquartier verweilten, weil sie z. B. in Kärnten um Asyl angesucht hatten, wurde der offene Bildungsraum recht schnell zu einem fixen Punkt in ihrem Alltag des Wartens und Ausharrens. Mit Andauern und Erfolgszuwachs dieses unkonventionellen Bildungsraumes wurde recht schnell klar, dass er nicht nur Bildungs-, Kommunikations- und Entspannungsraum für flüchtende Menschen im Transitquartier wurde, sondern eine essentielle Plattform darstellte für die Vorbereitung auf die Transition der Neuankommenden in das bevorstehende, „neue“ Bildungssystem Kindergarten und Schule sowie auf die Anforderungen der Berufs- und Arbeitswelt in Österreich.

2.1 Der Rahmen des interessengeleiteten Bildungsraumes

„Die Schule im Transitquartier“ fand in einer recht abgeschiedenen Nische der Druckereihalle ihren Platz und war zu Beginn nur mit dem Notdürftigsten ausgestattet. Trotz der kargen Umstände konnte ein offener Bildungsraum geschaffen werden, der es den ehrenamtlich Helfenden möglich machte, Lernumwelten interessegeleiteter, non-formaler und informeller Bildung zu schaffen und bedürfnisorientiert pädagogisch auszugestalten. Insgesamt bestand das Team aus 19 ehrenamtlich helfenden Fachkräften, die aus den Professionsfeldern (Sozial-, und Elementar-)Pädagogik, Psychologie, Lehramt, Logopädie und Sprechtraining stammten und zehn ehrenamtlich helfenden, externen Asylsuchenden mit Fluchthintergrund und mehrsprachigen Kompetenzen.

Das partizipativ entwickelte Bildungskonzept verdeutlichte vor allem eines: Das große Potenzial, das sowohl von allen an den Bildungsangeboten partizipierenden Männern und Frauen, Kindern und Jugendlichen als auch von den ehrenamtlich Helfenden ausging und weite Wellen der Lernbegeisterung schlug – denn schlussendlich nahmen nicht nur einzelne Erwachsene, Kinder und Jugendliche an den Angeboten teil. Ganze Familien, junge Frauen und Männer, alte Menschen, Teenager, Menschen mit Universitätsabschluss und Menschen ohne Alphabetisierung in der Erstsprache, waren täglich in den offen gestalteten, niederschwelligen Bildungssettings zugegen. Ebenso das Team der ehrenamtlich Helfenden nutzte den offenen Bildungsraum als Plattform interessengeleiteten, non-formalen und informellen Lernens – erste Kenntnisse in den Sprachen der Geflüchteten sowie interkulturelle Handlungskompetenzen konnten aufgebaut werden und regelmäßiger Fachaustausch untereinander fand statt. Somit kann vorweg festgehalten werden, dass alle am Bildungsprojekt Beteiligten durch ihre Teilnahme an den angebotenen Bildungssequenzen die Wichtig- und Notwendigkeit versinnbildlichten, dass Bildung mit flüchtenden Menschen eine an den gegebenen Lebensbedingungen orientierte, mehrsprachige, interkulturelle, wertschätzende und für alle Interessierten offen angelegte – und vor allem bereichernde – individuelle Bildungsarbeit sein kann.

2.2 Aktionsforschung als Basis für interessengeleitetes Lernen

„Die Schule im Transitquartier“ wurde als offenes Bildungsangebot ad hoc partizipativ und nach Motiven der Aktionsforschung implementiert. Grund dafür waren die vielgestaltigen und herausfordernden Bedingungen für die flüchtenden Menschen vor Ort, die bis zum Start des Bildungsraumes wenig Rückzugs-, Ruhe- und Bildungsmöglichkeiten hatten. Von vielen wurde zusätzlich die Problematik eines Bruches im individuellen Bildungszugang artikuliert, der durch die Konflikte in den Herkunftsländern und die langen Fluchtwege über lange Zeit unterversorgt blieb. Aus diesem Grund lag die Möglichkeit nahe, vor Ort interessengeleitete Bildungsmöglichkeiten zu schaffen, um so viele Menschen wie möglich in ihren individuellen Lerninteressen abzuholen und ihnen Zugänge zu ihren eigenen Lernfeldern und Fragestellungen zu schaffen. Der Zugang zur Entwicklung des pädagogischen Konzeptes interessengeleiteten Lernens zur Hebung der Qualität der interkulturellen Bildungsarbeit, und zur ständigen Weiterentwicklung der eigenen Professionalität der Lehrenden, lässt sich mit charakteristischen Merkmalen der Aktionsforschung beschreiben.

„Aktionsforschung soll Lehrer/innen bzw. Lehrergruppen helfen, Probleme der Praxis selbst zu bewältigen, Innovationen durchzuführen und selbst zu überprüfen“ (Posch: o. J., 5).

Dabei wurden jene Methoden verwendet, derer sich die (sozial-)pädagogischen Fachkräfte in ihrer täglichen Arbeit bedienten: Gespräche, Beobachtungen und Befragungen halfen dabei, die tägliche Bildungspraxis zu evaluieren und zu verbessern. Dabei war die Reflexion der eigenen Werthaltungen bezüglich Migration, Flucht und Inklusion wichtig, um mögliche individuelle Erfahrungen der Vergangenheit mit jenen der Gegenwart abzugleichen und miteinander zu verbinden. Vor allem die instabilen, unübersichtlichen und teilweise bedrückenden Rahmenbedingungen im Transitquartier veranlassten viele der ehrenamtlich Helfenden dazu, sich einerseits zurückziehen zu wollen oder andererseits noch raschere und wirkungsvollere Handlungen zu setzen. Dies lässt sich mit Posch (ebd., 1) folgendermaßen zusammenfassen:

„Je komplexer, offener, risikoreicher eine Praxis ist, desto wichtiger wird es, sich ihrer kontinuierlich zu vergewissern und das Handeln und die eigenen Wertvorstellungen aufeinander abzustimmen.“

Die nach „Erkenntnis und Entwicklung“ (Posch: o. J., 6) orientierte Bildungsarbeit zielte also darauf ab, im Team der Ehrenamtlichen Handlungswissen zu generieren, das sich aus den Fragestellungen aus der Praxis vor Ort ergab, um es sodann mit eigenen Handlungen reflektiert in Beziehung zu setzen. Auch aufgrund unterschiedlicher Perspektiven auf vorherrschende Rahmenbedingungen und wegen individuell wahrgenommener Interessen, Bedarfe und Bedürfnisse der Flüchtenden sowie der unterschiedlichen Professionen im Transitquartier war es wichtig, die eigene vorläufige professionelle Handlungsfähigkeit stetig zu verbessern, um für die geflüchteten Menschen die Qualität interessengeleiteter, interkultureller Bildungsarbeit zu heben.

Gesamt ergaben sich fünf, die Praxis vor Ort betreffende Handlungsfelder, die nach interessengeleiteten Parametern interaktiv gestaltet wurden:

  1. Bildungsangebote,
  2. Sprache und Sprachen,
  3. Transitionsprozesse,
  4. Inklusion,
  5. Teamarbeit.

Oberster Grundsatz in der diversitätsbewussten, interessegeleiteten Bildungsarbeit war demnach der pädagogisch-organisatorische Rahmen des interkulturellen Team-Teachings und des flächendeckenden mehrsprachigen Unterrichts, in dem vor allem die Ressourcen, Interessen und Qualitäten der Flüchtenden aktiv eingebaut wurden. Um die fünf Handlungsfelder bedürfnisgerecht abdecken zu können, war es zudem essentiell, sowohl Bildungs-, als auch Sprachaneignungsprozesse interaktiv, interessengeleitet und subjektorientiert zu gestalten.

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3. Bildung gestalten –

Interessengeleitete, informelle und non-formale Bildungsprozesse als Potenzial

„Wer handeln kann, muss sich entsprechendes Handlungswissen angeeignet haben. Ob der Weg zum Wissen formaler oder informeller Art ist, scheint dabei, so es um die Handlungsfähigkeit der Person geht, nachrangig […]“ (Tully: 2007, 405).

Interessengeleitete, non-formale oder informelle Bildungsprozesse, als ortsunabhängige Bildungsgrundlage einer zunehmend komplexen Gesellschaft, begleiten die Bildungsbiographien geflüchteter Menschen durchgängig, da sie deren Handlungsfähigkeiten durch lebensweltbezogenes Lernen und durch das Herstellen von Handlungsbezügen zu einer für sie fremden, undurchschaubaren und neuen Lebenswelt erweitern.

Bildungsprozesse hängen stark von Personen, Lebenssituationen, Wahrnehmungen, Sachverhalt, Gegenstand, Interesse an den angebotenen Aktivitäten und Interaktionen mit Mitmenschen ab, denen Geflüchtete Fragen stellen oder von denen sie Hilfe benötigen (vgl. Merkel: 2007, 1). Somit können Themen interessengeleiteter, non-formaler und informeller Bildungsprozesse nicht voneinander abgetrennt betrachtet und interpretiert werden, da die Lebensumwelten von Menschen mit Fluchterfahrung ein vielfältiges Angebot an eben diesen Bildungssituationen beinhalten und die strukturelle Bildungslandschaft und Arbeitswelt durch weitere Lernorte ergänzen. Informelle bzw. non-formale und interessengeleitete Bildungsprozesse finden in den Familien, Peergroups, in Vereinen und Vereinigungen oder neuen Medien und sozialen Netzwerken statt (vgl. Baumbast et al.: 2014, 10 f.).

Nach Hoanzl (2017) sind Bildungsprozesse generell „Beziehungsprozesse auf drei Ebenen, die einander gegenseitig bedingen“: 1. „Beziehungsprozesse im Kontext mit bedeutsamen anderen Menschen, 2. Beziehungsprozesse in der Auseinandersetzung mit der dinglichen Umwelt, 3. Die Beziehung zu sich selbst“ (Hoanzl: 2017, 46). Für non-formale und informelle Bildungsprozesse bedeutet dies, dass sie in den Alltagswelten der Geflüchteten beheimatet sind und dort als planvolle Tätigkeit bzw. nicht beabsichtigte Begleiterscheinung des Alltags auftreten (vgl. Baumbast: 2014, 16 f.).

3.1 Interessengeleitetes Lernen

Interessengeleitetes Lernen wirkt sich grundsätzlich positiv auf Lernen und Leistung der Lernenden aus und beeinflusst deren Involvement in eine Sache.

„Intrinsisch motivierte, lernzielorientierte, interessierte Schüler(innen) erleben mehr positive Emotionen gegenüber Lern- und Leistungsaufgaben. Die Begeisterung für die auszuführende Tätigkeit, die Wertschätzung des Inhalts und das Streben nach Kompetenz beeinflussen die jeweiligen Lernprozesse“ (Lohrmann & Hartinger: 2011, 263).

Von zentraler Bedeutung für interessengeleitetes Lernen ist die Fokussierung auf einen Gegenstand des Interesses. Dieser definiert sich entweder über konkrete Dinge (z. B. Pflanzen), ganze Themenbereiche (z. B. die gesamte Pflanzenwelt) oder Tätigkeiten (z. B. Gärtnern). Für interessengeleitetes Lernen mit Geflüchteten in der Sammelunterkunft bedeutete dies, individuelle und situationale Räume für die Artikulation von Interessen der Menschen zu schaffen und genügend Möglichkeiten zu bieten, diesen Interessen – sofern es die infrastrukturellen Gegebenheiten vor Ort zuließen – nachzugehen. Verbunden mit dem hohen Interesse für eine Sache ist auch die „hohe subjektive Wertschätzung“ (Lohrmann & Hartinger: 2011, 262) des Sachverhaltes oder Gegenstandes und die freiwillige, intrinsisch gesteuerte Beschäftigung damit. Am Beispiel der flüchtenden Menschen in der Sammelunterkunft wäre dies die Beschäftigung mit Instrumenten wie Gitarren, Rasseln oder Trommeln. Die Auseinandersetzung mit den Instrumenten wurde als etwas Positives und Entspannendes erlebt, was den hohen emotionalen Motivationsfaktor in sich trug, dass sich gleich mehrere Menschen interessengeleitet damit beschäftigten und sich untereinander Expertengruppen zur Vermittlung instrumentalmusikalischer Kompetenzen bildeten. An diesem Beispiel lässt sich veranschaulichen, dass die situationale Beschäftigung mit dem Interessensgegenstand Instrument „erkenntnisorientiert“ (ebd.) gesteuert war, die Menschen mehr über diesen „Interessensgegenstand erfahren“ (ebd.) wollten und somit Beziehung zwischen sich und dem Gegenstand aufbauten. Dieses Faktum beschreibt „interessengeleitetes Lernen“ als „eine besondere Form der Lernmotivation“ (ebd.).

3.2 Informelles Lernen

Mit der Definition der Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2000, 9 f.) lassen sich informelle Bildungsprozesse folgend beschreiben:

„Informelles Lernen ist eine natürliche Begleiterscheinung des täglichen Lebens. Anders als beim formalen und nicht-formalen Lernen handelt es sich beim informellen Lernen nicht notwendigerweise um ein intentionales Lernen, weshalb es auch von den Lernenden selbst unter Umständen gar nicht als Erweiterung ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten wahrgenommen wird.“

Anhand dieser Definition lässt sich erkennen, dass Menschen mit Fluchterfahrung vor, während und nach der Flucht informelle Bildungsprozesse in ihrem Fluchtalltag durchlaufen und sich aufgrund der außergewöhnlichen Kontexte Inhalte aneignen, die Menschen ohne Fluchterfahrung nicht besitzen. So können informell erworbene Bildungs- und Erfahrungsinhalte während der Flucht beispielsweise zu Überlebensstrategien, Stress- und Angstbewältigung oder Entspannung beigetragen haben. Im darauffolgenden Austausch mit anderen geflüchteten Menschen kann es sein, dass Betroffene ihre fluchtspezifischen Erfahrungen, ­Hilfestellungen und Ideen zur Situationsbewältigung in Erzählungen oder im Dialog an ebenfalls von Flucht Betroffene weitergeben. Ein situationssensibles Bildungssetting im Sammelquartier erfordert deshalb von den sozialpädagogischen Fachkräften einen achtsamen Umgang mit Situationen des kommunikativen Austausches Flüchtender untereinander vor dem möglichen Hintergrund traumatisierender Erlebnisse. Als wichtig erscheint es deshalb, auch in den herausfordernden räumlichen Gegebenheiten einer Sammelunterkunft, uneingeschränkte Bildungsräume für kreative Beschäftigung, Kommunikation und körperliche Bewegung zu ermöglichen und Material zur Verfügung zu stellen, das die Menschen in ihren Interessen stimuliert und zur Beschäftigung motiviert.

3.3 Non-formales Lernen

Non-formale Bildungsprozesse werden durch die Kommission der Europäischen Gemeinschaften folgendermaßen definiert (2000, 9):

„Nicht-formales Lernen findet außerhalb der Hauptsysteme der allgemeinen und beruflichen Bildung statt und führt nicht unbedingt zum Erwerb eines formalen Abschlusses. Nicht-formales Lernen kann am Arbeitsplatz und im Rahmen von Aktivitäten der Organisationen und Gruppierungen der Zivilgesellschaft […] stattfinden. Auch Organisationen oder Dienste, die zur Ergänzung der formalen Systeme eingerichtet wurden, können als Ort nicht-formalen Lernens fungieren […].“

Die zentrale Lernwelt von Menschen geht nach dieser Definition weit über institutionalisiertes Lernen hinaus, ja, betont sogar die Vielfältigkeit und Signifikanz außerinstitutioneller Bildungsbemühungen. Die Nachhaltigkeit non-formaler Bildungsgegebenheiten wird allein dadurch unterstrichen, dass Orte non-formaler Bildung und Orte formaler Bildung koexistieren und sich überlappen können. Bildlich gesprochen bedeutet dies, dass Erwachsene am Arbeitsplatz während Arbeitspausen, beim gemeinsamen Mittagessen oder sogar in organisierten Weiterbildungskursen non-formal lernen können – je nachdem, welchen Bildungsinhalt sie für ihre aktuelle Situation als relevant empfinden und wie selektiv sie Inhalte verarbeiten.

Mit Thole und Höblich (2014, 69) erfahren „informell strukturierte Orte gesellschaftlicher Praxis keine entsprechende Anerkennung in kompetenzerwerbsbezogenen Reflexionen“. Bezogen auf flüchtende Menschen mit Ambition, am österreichischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, bedeutet dies, dass ihre (im Idealfall mitgebrachten) Zeugnisse, Diplome und Kompetenznachweise transparent den Erwerb von Leistungen, Können und Wissen dokumentieren, diese die Nachhaltigkeit ihres „biographisch erworbenen Wissens und Könnens“ (ebd.) jedoch nicht abbilden. Abgesehen von der Schwierigkeit der wörtlichen Übersetzung, tragen Geflüchtete den Beweis ihrer in der Heimat erworbenen, schulischen, universitären oder berufsbezogenen Wissensbestände meist nicht mit sich mit, was ihnen zu Unrecht das Stigma der Bedürftigkeit, des Nicht-Wissens und der Notwendigkeit der Beschulung noch deutlicher aufdrückt. Im Kontrast dazu stehen aber ihre non-formalen Bildungsprozesse, die entlang einer individuell geprägten und orientierten Wirklichkeit, für ihre biographischen Lernprozesse Bildungsformate außerhalb der gängigen (Weiter-)Bildungsinstitutionen darstellen.

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4. Fazit –

Interessengeleitete Rahmenbedingungen für Bildung als Angebot einer offenen Lernkultur im Bildungsraum

In den seltensten Fällen gibt es in den Sammelunterkünften sozialpädagogische Betreuung, Bildungsinitiativen oder Angebote der Sozialen Arbeit, um Geflüchtete in Fragen der Bildung und Erziehung, sozialpädagogischen Betreuung und Beratung adäquat abholen zu können. Die Zeit zwischen Ankommen und Abreisen verstreicht als wichtige Bildungszeit oder Orientierungsphase, wenn Sammelunterkünfte keine adäquaten, niederschwelligen (Weiter-)Bildungsmöglichkeiten für die Zielgruppe flüchtender Menschen anbieten. Der hohe Bedarf an unterstützenden Bildungsangeboten bereits in Sammelunterkünften begründet sich vor allem auf den erschwerten Bedingungen, denen sowohl geflüchtete Menschen als auch Helferinnen und Helfer, zukünftige Lehrkräfte oder Arbeitgeber ausgesetzt sind. Schieflagen in der (sozial-)pädagogischen Betreuung (mangelndes kontextbezogenes und kulturelles Wissen der Lehr- oder Fachkräfte, fehlende zeitliche und finanzielle Ressourcen) sowie in der speziellen Biographie geflüchteter Menschen (mehrjährige Flucht, Lücken in der Berufs- und Bildungslaufbahn, mangelhafte (Aus-)Bildung im Herkunftsland, traumatische Erlebnisse, Lernschwierigkeiten), bedürfen einer Sensibilisierung des Bildungssystems und Arbeitsmarktes für die erschwerten Inklusions- und Bildungsbedingungen dieser Zielgruppe und die damit einhergehende Notwendigkeit früh angesetzter Unterstützungsangebote (vgl. Mayrhofer: 2015, 5 f.).

Sammelunterkünfte sind trotz oder aufgrund des ständigen Wechsels zwischen Ankommen und Abreisen ein Ort der Kommunikation, des interkulturellen Austausches, der informellen Bildung und Selbstbildung. Neben Spannungsverhältnissen, die naturgemäß aufgrund unterschiedlicher Lebenslagen, Wünsche und Bedürfnisse der Flüchtenden gegeben sind, kann sich in der Sammelunterkunft auch ein bereicherndes Klima der Bildung entlang interessengeleiteten Lernens ausbreiten. Indem bereits dort zielgruppenadäquate, situationale Bildungsangebote für Menschen auf der Flucht stattfinden und einen volitionalen Charakter des Ausprobierens, Experimentierens und kreativen Gestaltens vermitteln, könnten ihnen bereits auf der Durchreise positive, soziale und selbstgesteuerte Bildungserfahrungen ermöglicht werden.

Mit Bildungsangeboten, die weder Leistungs- noch Prüfungscharakter besitzen und die zusammen mit den geflüchteten Menschen geplant und umgesetzt werden, könnte demnach bereits auf der Durchreise dem Menschenrecht auf Bildung niederschwellig begegnet und dem menschlichen Bedürfnis nach Bildung und Lernen möglichst nah und bedarfsorientiert nachgekommen werden. Für die pädagogische Ausgestaltung interessengeleiteter, non-formaler und informeller Bildungsräume wäre es wichtig, dass eine lebensweltorientierte, individuumzentrierte (sozial-)pädagogische Bildungsarbeit in Sammelunterkünften an den Alltagswelten von Menschen auf der Flucht anknüpfen sollte. Dabei darf der Fokus der Bildungsangebote jedoch nicht auf der Erweiterung von prüfbaren Wissensbeständen liegen, sondern auf dem Aufbau sozialer, personaler und Basiskompetenzen im Sinne einer begünstigenden Inklusion in die „institutionelle Verfasstheit von Bildung“ (Böhmer: 2016, 51) und in die damit verbundenen Herausforderungen geflüchteter Menschen.

In der nächsten Ausgabe geben relevante, aus der interessengeleiteten Bildungsarbeit resultierende Handlungsfelder der „Schule im Transitquartier“, mehr Aufschluss in die inklusiv gelebte, ressourcenorientierte Bildungszusammenarbeit in der Sammelunterkunft. //

Literatur

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948): Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Onlin