Die Leiblichkeit im Distance-Learning

„Wir wissen jetzt nicht, für was das wieder gut ist“, pflegte eine Urgroßtante zu sagen, wenn etwas Schlimmes passiert war. Im Februar 2020 kam ein neues Virus nach Österreich, und damals wusste auch niemand, wofür das eigentlich gut war. Für die Studie, die ich im Rahmen des wba-Diploms im Frühjahr 2021 durchgeführt habe, war es allerdings essentiell. Denn die regelmäßigen Lockdowns verbannten meine Übung zu Methodik der politischen Bildung an der Universität Linz ins Internet, und dort erst wurde die Rolle der Leiblichkeit in Lernprozessen durch die fehlende Präsenz wirklich spürbar. Auf diese Rolle und die praktischen Implikationen, die sich daraus für das Distance-Learning ergeben, will ich in diesem Artikel eingehen.

Eine phänomenologische Perspektive

Jeder Mensch hat seinen eigenen Standpunkt und Blickwinkel. Das ist die Grundprämisse dieser Untersuchung und meines phänomenologischen Zugangs zum Thema. Die zentralen Begriffe für diese Perspektive sind Leib, Lebenswelt und Zwischenleiblichkeit.

Mit Leib bezeichnete Husserl jenen Körper, den wir von innen heraus erfahren und über den wir verfügen können. Er ist unser Zugang zur und unsere Art des Seins in der Welt. Demnach „[…] hat der Mensch keinen Körper, […] er ist Körper – zu jedem Zeitpunkt und bei jeder Handlung“. (Rackeseder: 2005, 111). Daraus folgt auch die Vorrangigkeit der leiblichen Welterfahrung, die erst im zweiten Schritt rationalisiert und versprachlicht werden kann. (Ebd., 75).

Die Lebenswelt ist die „Art und Weise, wie die Welt dem Menschen erscheint“. (Held: 2002, .7). Sie ist jener Ausschnitt, den wir wahrnehmen (oder bereits wahrgenommen haben) und auf den sich unsere Handlungen beziehen. Während wir uns in ihr bewegen, geben wir ihr Sinn und formen in Beziehung zu ihr unser Selbstbild. (Vgl. Laging: 2017, 14; Brägger u. a.: 2017, 72).

In der Erfahrung der Lebenswelt spielen die Leiber, die uns begegnen, eine wichtige Rolle. Waldenfels prägte dafür den Begriff der Zwischenleiblichkeit, in der das Eigene und das Andere erfahr- und beschreibbar werden. In ihr werden sowohl Wahrheit und Wirklichkeit als auch Werte und Normen verhandelt. Die Wortsprache hat in diesem Austausch nur eingeschränkte Wirkmacht, da sie ohne die Körpersprache und die leibliche und räumliche Verortung der Sprachhandlung missverständlich ist. Gemeintes und Gesagtes überschneiden sich nur und „niemand […] sagt [völlig], was er meint, und meint, was er sagt“. (Waldenfels: 2000; zit. nach: Rackeseder: 2005, 85).

Geschichten aus der Praxis

Die präsentierten Erkenntnisse stammen aus einer Vergleichsstudie zu zwei Aufstellungsübungen: einerseits zur soziometrischen Aufstellung anhand persönlicher Merkmale, andererseits zum Meinungsbarometer, bei dem sich die Teilnehmenden zu einer Aussage zwischen den Polen „stimme völlig zu“ und „lehne völlig ab“ positionieren und im zweiten Schritt aufgefordert werden, ihre Platzierung zu begründen.1 Im Studiensetting habe ich die Übungen mit acht BewohnerInnen einer Hausgemeinschaft in deren Garten und mit einer Vergleichsgruppe von elf Studierenden im Distance-Learning auf einem interaktiven Whiteboard durchgeführt.2 Die Stellungnahme zu den Aussagen erfolgte online durch das Setzen eines Symbols oder mittels Nameneingabe (siehe Abb.). Im Anschluss habe ich die Erfahrungen der Teilnehmenden sowohl in Präsenz als auch in Distanz mit Fragebögen und Gruppengesprächen erhoben.

Im Folgenden will ich einige dieser Ergebnisse präsentieren und das Potenzial der Leiblichkeit in Lernprozessen mit den Erfahrungsberichten illustrieren.

1) Die Leiblichkeit als Zugang

Der physische Positionswechsel bei den Aufstellungsübungen wurde in der Präsenzgruppe (PG) als aktivierend wahrgenommen und vermittelte ein Gefühl persönlicher Flexibilität. Das Stillstehen bei aufeinanderfolgenden Fragen wurde andererseits als entspannend, aber auch einschränkend empfunden. (Nicht-)Bewegung wird hier über den Leib in emotionale Zustände transformiert. Im Distance-Learning spaltet sich die Person hingegen in einen physischen und einen virtuellen Teil auf. Die aktivierende Qualität fällt weg, da die Bewegung im doppelten Sinn nur digital  erfolgt.3
Als leibliche Erfahrung blieb in der Onlinegruppe (OG) nur die Entspannung, vor dem Computer sitzen zu bleiben, sowie eine emotionale Distanzierung.

Eine zweite Qualität der Leiblichkeit ist ihre intuitive Handhabung und die Unmittelbarkeit ihrer Erfahrung. Der Leib ist als Lernweg inklusiv und für alle gleich zugänglich. Im virtuellen Format ist die Schwelle hingegen höher und die Online-Werkzeuge benötigen Fertigkeiten, die von manchen noch erlernt werden müssen (z. B. Namenseingabe, Setzen von Symbolen).

2) Beziehungsaufbau

In der Präsenz erfolgt das Kennenlernen in der Zwischenleiblichkeit. Durch die Aktivität von Spiegelneuronen können wir in der Begegnung die Bewegungen und Handlungen anderer Menschen wahrnehmen, als würden wir sie selbst ausführen. (Vgl. Rizolatti u. a.: 2006, 32). Dieses leibliche Nachvollziehen ist eine Grundlage der menschlichen Empathiefähigkeit. Zwei Aussagen aus der OG illustrieren diese Bedeutung der Zwischenleiblichkeit:

„Weil wir uns nie in Echt gesehen haben, weiß ich gar nicht, wer die sind […]. Ich muss immer noch schauen, wer die G. ist, und sonst würde sie ja neben mir stehen, und das wäre ganz was anderes.“

„Die Komponente des ganzen Körpers, der Habitus, wie man sich bewegt, geht verloren, man sieht nur ein Gesicht.“

Die körperliche Nähe hat auch „affektive Konnotationen, wenn etwa jemand mir ‚nahe-steht‘, ‚zu nahe tritt‘ oder aber ‚Abstand hält‘ und sich ‚abweisend‘ verhält. […] Und auch der Geruch des Partners oder der Geschmack, […] bewirken Gefühle der Intimität und Vertrautheit, das heißt eine emotionale Nähe“. (Diaconu: 2013, 53–54). Dadurch können sich einerseits Beziehungen entwickeln, andererseits unterschiedliche Erfahrungen oder Meinungen leiblich nachvollzogen werden – Potenziale, die in der virtuellen Interaktion entfallen.

3) Soziales Lernen

Auch der Prozess der Positionsfindung passiert in der Zwischenleiblichkeit. Eine Teilnehmerin der PG bemerkte, wie sich Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit der anderen darauf auswirkten, wohin sie selbst ging und wie sie diese Bewegung empfand. Die Gruppendynamik, die von der persönlichen Haltung zur Aussage unabhängig ist, wirkt hier auf den Vorgang der Aufstellung ein. Der Raum wird dabei eine „Metapher für Beziehungen“ zwischen den darin befindlichen Leibern. In ihm kann man sich am „richtigen“ oder „falschen“ Ort befinden und die Positionen und Bewegungen werden zum „Ausdruck von etwas“. (König: 2004, 207–213). So wurden Extrempositionen in der PG vor allem in Bezug auf die Gesamtgruppe und nicht auf die Antwortpole eingenommen. Die eigene Meinung wurde dabei schon als extrem eingestuft, bevor sie rationalisiert und formuliert werden konnte.

In der OG wurden Positionen alleine und abseits der Gruppe tendenziell als „nicht so schlimm“ empfunden, während sie in der PG stark aufgeladen waren. Räumliche Entfernung steht für Intimität zwischen Positionen, und Personen, die nahe zusammenstehen, erleben sich als einander zugehörig. (Ebd., 218–219). Räumliche Distanz wurde hingegen in der Übung mehrheitlich mit Ausgesetzt- oder Isoliert-Sein verbunden („unsicher“, „Angst“, „einsam“). Aus diesen Empfindungen folgte einerseits ein Überdenken der eigenen Positionierung und ihrer Gründe, andererseits ermöglichte der weitere Blickwinkel auf die Gruppe auch eine kritischere Haltung. Zwei Teilnehmende gaben an, dass sie bewusst Extrempositionen eingenommen hatten, um ihre Meinung mitzuteilen oder die Übereinstimmung der Gruppe zu hinterfragen.

4) Demokratische Räume

Im Gegensatz zum virtuellen hat sich der physische Raum in der Studie als demokratisches Medium erwiesen. Das Machtgefälle auf der sprachlichen Wissensebene wird mit der Aufwertung der leiblichen Erkenntnisprozesse zum Teil aufgehoben, wodurch Lernen zu einem kooperativen Unternehmen wird.

Die Offenheit und Perspektivität des Raumes ermöglichen den Teilnehmenden seine Mitgestaltung: Im Beziehen „unmöglicher“ Positionen (z. B. jenseits völliger Zustimmung) oder im kooperativen Aushandeln der Spielregeln (z. B. geografische Aufstellung nach Herkunft) konnten die Teilnehmenden Lösungen finden, die ihren Bedürfnissen entsprachen.

Im offenen und ebenen Raum des Gartens sind alle Positionen gleichwertig und entwickeln erst durch die Verteilung von Personen eine Gewichtung. Extrempositionen sind dabei räumlich nicht untergeordnet, sondern eine Kritik an der Mehrheit auf gleicher Ebene. Die eigene Position steht immer im Zentrum der Wahrnehmung, wodurch das Gesamtbild nur subjektiv erfahrbar ist und die Wahrheit demokratisch verhandelt werden muss. Eine objektive, über allem stehende Perspektive wie auf dem Whiteboard existiert hier nicht.

Auch die akustische Qualität des physischen Raums ist ein demokratisches Element. Die Teilnehmenden können darin ihre Kommunikation selbständig steuern – im Aushandeln der Positionen, im informellen Plaudern oder im Nachfragen, wenn jemand zu leise gesprochen hat. Nähe und Distanz wirken dabei als Flüstern und Tuscheln oder als Schreien und Lauschen. Im Onlineraum gibt es dagegen (noch) nur einen zentralen Gesprächskanal, in dem die Entfernung weniger relevant ist als die Qualität der Internetverbindung.

Implikationen für die Praxis

Neben den theoretischen Erkenntnissen liegt ein zumindest ebenso großer Wert in den praktischen Erfahrungen, die ich in der kritischen Analyse der Übungen und meiner Arbeitsweise gewinnen konnte. Aus aktuellen Gründen sind hier die Implikationen für das Distance-Learning besonders relevant.

1) Zeit geben!

Online-Settings sind auf die audiovisuelle Dimension beschränkt und unterscheiden sich damit von unserer sonstigen Lebenswelterfahrung. Um Bilder als Menschen wahrnehmen oder virtuelle Lerneffekte verarbeiten zu können, muss das Gehirn fehlende leibliche Inhalte ergänzen – und das braucht Zeit. Zeit ohne neuen Input und Pausen für Erholung, da mehr Anstrengung nötig ist, wenn alle Information über nur zwei Sinneskanäle transportiert werden und die Leiblichkeit als Lernmedium wegfällt.

Extra Zeit geben muss man auch für das Kennenlernen und die Entwicklung eines angenehmen Gruppenklimas – z. B. durch längere Phasen in Kleingruppenarbeiten für informellen Austausch oder kleine, virtuelle Pausenräume.

2) Raum geben!

Virtuelle Räume zeichnen sich durch ihre starke Begrenztheit und Strukturiertheit aus. In ihnen ist nur das möglich, wofür sie programmiert worden sind. Kreative und innovative Handlungen, die über das bereits Gedachte hinausgehen, oder kooperative Möglichkeiten, das Lernumfeld mitzugestalten, werden damit beschränkt. Durch die unterschiedlichen Zugänge zu Online-Tools von „Host“ und „Gast“ wird das hierarchische Gefälle zusätzlich verstärkt. Hier gilt es, Möglichkeiten für Teilnehmende zu schaffen, Strukturen brechen und unerwartet handeln zu können. Dafür reicht es mitunter, nicht alle Variablen des Settings zu kontrollieren, oder Online-Tools zu nutzen, die vielfältige Handlungsoptionen über das Geforderte hinaus zulassen.

3) Neue Analogien suchen!

Methodisches Lernen funktioniert über Analogie zur Erfahrung der Lebenswelt. Nähe und Distanz in Aufstellungsübungen beziehen sich auf unser Erleben sozialer Interaktion und nutzen dieses, um Lernprozesse in Gang zu setzen. Im virtuellen Lernraum werden Aufstellungen zu Streuungsdiagrammen, Positionierungen zu Landkarten oder Bildern, Gespräche zu Fernsehinterviews. Die neuen Möglichkeiten, Analogien zur Welterfahrung zu ziehen, gilt es zu erforschen und mit ihnen zu experimentieren, um auch im Distance-Learning möglichst relevante Lernerfahrungen anregen zu können.

4) Die Leiblichkeit berücksichtigen!

Egal wie vielfältig wir Online-Formate gestalten, letzten Endes sitzen wir doch immer alleine vor einem Bildschirm. Diese Tatsache müssen wir als Lehrende immer berücksichtigen, da sie ein Grund für stärkere Ermüdung und eingeschränkten Beziehungsaufbau ist. Hier gilt es die Leiblichkeit, die gerade für emotionale Lernschritte unerlässlich ist, aktiv einzubeziehen: über Bezüge auf den Raum, in dem die Teilnehmenden sitzen, oder auf die eigene Körperwahrnehmung und Lebenserfahrungen. Gerade biographische Übungen haben sich in meiner Praxis als sehr effektiv erwiesen und im Distance-Learning kaum an Qualität verloren, da bei ihnen die leibliche Erfahrung zum Bezugspunkt wird, um sich in die Geschichten der anderen einfühlen und Empathie entwickeln zu können.4

Conclusionen

In diesem Artikel habe ich versucht, das Potenzial der Leiblichkeit in Lernprozessen anhand von zwei Aufstellungsübungen zu beschreiben. Die eingeschränkte Wirkung der Leiblichkeit als Lernweg im Distance-Learning durch die fehlende körperliche Nähe zeigt die Grenzen virtueller Lernformate auf. Dies ist aber keineswegs eine Absage an dieselben, da die vielfältigen Vorteile (allen voran die größere Zugänglichkeit) auf der Hand liegen. Vielmehr sehe ich hier einen Aufruf zu einer kritischen Evaluierung virtuellen Lernens, die Leiblichkeit und Lebenswelterfahrung als zentrale Elemente des Lernprozesses miteinbezieht und Wege sucht, sie zu nützen, um virtuelle Lücken im Distance-Learning zu füllen und auf die neuen Anforderungen produktiv zu antworten. //

1   Für Beschreibungen der Übungen siehe Bundesjugendvertretung (2018); Erwachsenenbildung.at (2016).

2   Der unterschiedliche Grad der Vertrautheit spielt eventuell eine Rolle, die in Folgestudien noch zu untersuchen ist.

3   Ein Beispiel dafür ist die Übung „Mein erstes Mal …“ (Siehe: Bundesjugendvertretung: 2018).

4   Ein Beispiel dafür ist die Übung „Mein erstes Mal…“ (Siehe: Bundesjugendvertretung: 2018).

Quellen

Brägger, Gerold, Hundeloh, Heinz, Posse, Norbert & Städtler, Hermann (2017): Bewegung und Lernen. Konzept und Praxis Bewegter Schulen. Weinheim – Basel: Beltz. 

Bundesjugendvertretung (2018): Toolbox Jugend Europa Politik. Verfügbar unter: https://bjv.at/wp-content/uploads/2018/09/bjv-toolbox_europa_download.pdf [4.1.2022].

Diaconu, Mădălina (2013): Phänomenologie der Sinne. Stuttgart: Philipp Reclam jun.

Erwachsenenbildung.at (2016): Soziometrische Aufstellung: Kennenlernen und Positionieren im Raum. Verfügbar unter: https://erwachsenenbildung.at/aktuell/nachrichten/9965-soziometrische-aufstellung-kennenlernen-und-positionieren-im-raum.php [22.4.2021]

Held, Klaus (2002): Einleitung. In: Edmund Husserl [1986](2002): Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II (S. 5–53). Stuttgart: Philipp Reclam jun.

König, Oliver (2004): Familienwelten. Theorie und Praxis von Familienaufstellungen. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta.

Laging, Ralf (2017): Bewegung in Schule und Unterricht. Anregungen für eine bewegungsorientierte Schulentwicklung. Stuttgart: Kohlhammer.

Rackeseder, Christine (2005): Das Phänomen der Gleichzeitigkeit von Körper und Geist im Lernprozess. Dipl.-Arb., Univ. Wien.

Rizolatti, Giacomo, Fogassi, Leonardo & Gallese, Vittorio (2006): Mirrors in the Mind. In: Scientific American, 295 (5), 30–37.

Fennes, Nikolaus (2021): Die Leiblichkeit im Distance-Learning. Magazin für Erwachsenenbildung. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Winter 2021, Heft 275/72. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

Kommentare

  1. Petra sagt:

    Lieber Herr Fennes,
    ich bin erst jetzt auf Ihren Artikel gestoßen und bedanke mich für das Aufgreifen dieses Themas. Ich denke, es ist ein sehr wichtiges Thema! Interessant wäre auch die Beziehungsentwicklung über längere Zeit zwischen Präsenz- und Online-Format zu vergleichen. Meine Hypothese ist, dass zwischenmenschlicher Aufbau von Vertrauen im reinen Online-Format langsamer und „schlechter“ passiert.
    Herzlich
    Petra H. Steiner

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