„Kompetenz ist ein Kernkonzept der neuen Psychotechnik“. (S. 115). Auf philosophischer Grundlage beurteilt Andreas Gelhard, Professor für Philosophie und Bildungswissenschaft an der Universität Wien, den vor sich gehenden und kaum in Frage gestellten Wandel, in dem „Bildung“ von „Lernen“ und „Kompetenz“ abgelöst wird. Die moderne „Kompetenzgesellschaft“, meint der Autor, sei die Nachfolgerin der „Leistungsgesellschaft“. Wurden bislang Menschen wegen ihrer Qualifikationen und Fähigkeiten ausgewählt, so beseitigt das Konzept der Kompetenz diese Selektivität, denn: es eröffnet sich das Feld der „Psychotechnik“, auf dem erwünschtes Verhalten trainiert werden kann. „Lernplaner“ und „Lernbegleiter“, der Autor nennt sie „die neuen Seelenleiter“, schaffen einen „Lernrahmen“, in dem sich formal, formell und informell erworbene Kompetenzen bewerten lassen. Befreiung von traditioneller Wissensvermittlung und -verteilung ist angesagt, Selbstorganisation und Selbstregulation werden propagiert, um für Kompetenzdenken und -messung die Wege zu ebnen. Andreas Gelhard resümiert (S. 158): „Das klingt nach einem Akt der Befreiung. Tatsächlich handelt es sich aber um ein Programm, das die Ausdehnung des Schulraums – oder schlimmer: des Seminarhotels – zur Welt versucht.“
„Systematischen Menschenlenkung“, ein Anliegen der angewandten Psychologie seit Beginn des 20. Jahrhunderts – Theodor W. Adorno bezeichnete diese als „Psychotechnik“ – steht im Zentrum des Buches. Die in dritter Auflage überarbeitete und erweiterte Publikation beschäftigt sich intensiv mit der Bildungsthematik. Gelhard findet den Zugang zu Kompetenzkonzepten in einer Genealogie der Prüfungstechniken, die für derzeitige Konzepte maßgeblich waren. (S. 20). Im ersten Teil des Buches zeigt Gelhard, wie sich die Psychologie zunehmend in den Dienst unserer wirtschaftlichen Entwicklung stellte. Die Förderung psychischer Dispositionen, die Beachtung von Emotion und Motivation bei den (zukünftigen) ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen sollte wirtschaftlichen Erfolg garantieren.
Der zweite Teil konzentriert sich auf Emotionen und Kommunikation, auf „Human Relations“ und die Theorie der „Emotionalen Kompetenz“. Die Bedeutung des „Zwischenmenschlichen“, die Beziehungen zwischen den Arbeitskräften und auch – das war ab den 1920er-Jahren neu – zwischen ihnen und dem Management, gewann an Stellenwert. Zugleich wurden, so Gelhard, mit Bezug auf „Emotionale Intelligenz“, neue Erfolgswege in Beruf und Schule aufgezeigt! Nicht der IQ, nicht Schulnoten, sondern die „Intelligenz der Gefühle“ wurde für erfolgreiche Karrieren entscheidend.
Das Wichtigste: Diese Fähigkeiten – heute Kompetenzen genannt – sind erlernbar. Der Weg zur Spitze, der Weg in oberste Leitungsgremien ist niemandem von vornherein verschlossen.
Der dritte Teil erörtert bildungstheoretische Aspekte. Der Autor wendet sich gegen die mit der aktuellen „Psychotechnik“ transportierte Harmonisierung der Gesellschaft und gegen eine Besänftigung aller Konflikte. Er tritt auf gegen die „Verhinderung des spannungsreichen Prozesses, den Hegel als Bildung bezeichnet“. (S. 113).
„Negativität des Lernens“ wird von Gelhard befürwortet: Hindernisse und Enttäuschungen, Umkehrung von bisherigen Erfahrungsweisen, nicht kumulative, sondern agonale, konflikthafte Prozesse zeichnen diese Negativität aus. Selbstbestimmtes, selbstreguliertes Lernen läuft Gefahr, in der Anpassung zu verbleiben. Mit Theodor W. Adorno akzeptiert Gelhard zwar die Notwendigkeit von Anpassungs- und Sozialisierungsprozessen, aber ein Beweis für Individuation sei es, „dass sie über Anpassung hinausgeht“. (S. 142).
Das Buch transportiert indirekt ein für die Professionalisierung in der Erwachsenenbildung wichtiges Thema – die oft freiwillige Unterwerfung Erwachsener unter die lehrende Autorität. „Psychotechnik“ verführt nämlich die „Lernberater/Lernbegleiter“ leicht dazu, lernende Menschen zu lenken. Diesbezüglich empfiehlt sich für Lehrende, dies nicht auszunutzen, sondern Lernende in ihrer intellektuellen Autonomie zu stützen und zu respektieren.
Für Leserinnen und Leser mit „kritischer Kompetenz“ gegenüber dem geschäftigen Seminargetriebe. Für Interessierte und Profis, die ihre bildungstheoretischen Grundlagen und philosophischen Bezüge zum Bildungsthema auffrischen und stärken wollen. //
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