Abwehr von Verantwortung
„Das mag in der Theorie stimmen“, lautet oft eine ausweichende Antwort von EntscheidungsträgernInnen. Sie versuchen sich auf diese Weise von Einsichten abzugrenzen, die auf Bücherwissen, Studium oder nachdenklichen Überlegungen beruhen – also theoretisch begründet sind. Sie wenden sich damit gegen Vorschläge, die nicht ihrer geläufigen Praxis entsprechen. „Wir brauchen Belege und genaue Zahlen, um Entscheidungen zu treffen“, fordern politisch Verantwortliche und verstärken dadurch den Trend nach „evidence-based findings“. Empirisch orientierte Wissenschaft soll gesicherte Basis für politisches Handeln liefern. Die Verantwortung liegt dann bei Daten, Zahlen und ihren ProduzentenInnen. Die Aktualität von Fragen nach Rentabilität und Wirkung erklärt sich zu einem gewissen Teil aus dieser Scheu vor Verantwortung.
Die Erzeuger von Daten wiederum berufen sich auf Methoden. Die in ihrer Aussagekraft naturgemäß begrenzten Methoden sind allenfalls „schuld“ an nicht eindeutigen Aussagen. In letzter Zeit wird aber auch der Überfluss an Daten als Ausrede verwendet. Mit Big Data erhält man die Abbildung von Ereignissen, sucht aber nicht mehr nach ihren Begründungen, Erklärungen und Ursachen. Internationale Studien wie PISA oder PIAAC liefern Zahlenmengen, doch wie werden sie bildungspolitisch genutzt? Werden Bedenken hinsichtlich der Datenerhebung, der Ergebnisse und der dahinterliegenden Rahmenbedingungen ausreichend reflektiert und hinterfragt?
Eine deutliche Verschiebung geht vor sich. Sie lautet: Die Verantwortung liegt nicht bei mir. Sind nicht Hypo-Bank und VW aktuelle Beispiele? Doch solche gibt es auch in unseren alltäglichen Berufs- und Alltagswelt.
Governance, Management, Leadership und Steuerung gehören mittlerweile auch im Bildungswesen zum professionellen Vokabular. Es verweist auf Verantwortung für Leistung und Effektivität innerhalb einer Institution. Im Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche Probleme und auf individuelle Lernbedürfnisse werden die Rentabilität von Ausgaben oder die Wirkung von Maßnahmen und Bildungsangeboten überprüft. Hoffnungen, das Bildungswesen zu verbessern und es kontrolliert steuern zu können, verbinden sich damit.
Welche Rolle kommt theoretischen Erkenntnissen bei bildungspolitischen Entscheidungen zu? Wie können theoretische Kenntnisse im Bildungswesen besser wirksam werden?
Wir wissen, wir können diese Fragen hier nicht umfassend klären. Wir bieten aber einige Reflexionen an. Sie sind von der Überzeugung getragen, gerade im pädagogischen Feld könnte sich viel verändern, wenn man der Verantwortung nicht ausweicht, sondern sie annimmt – als Einzelne/Einzelner, als Team, als Gemeinschaft, als politisch Verantwortliche.
Begriffe
Betrachten wir kurz den begrifflichen Hintergrund von Theorie und Politik. ‚Theorie‘ leitet sich aus dem griechischen Wort theorein ab. Es bedeutet ‚schauen‘, ‚betrachten‘, ‚beobachten‘. Als Theorie gelten zusammenhängende Aussagen, die einen Teil der Realität beschreiben und Voraussagen über die Entwicklung des Beobachteten machen. Im Bereich der Politikwissenschaften werden Theorien auch zur systematischen Erläuterung empirischer Daten herangezogen. (Vgl. Heywood: 2007, S. 20).
‚Politik‘, ebenfalls aus dem Griechischen, betrifft das Gemeinwesen und die Gesellschaft. Es umfasst Entscheidungen und Handlungen, die unser Zusammenleben gestalten und mittels Steuerungsmechanismen Verbindlichkeiten erlangen. Im Englischen ist die Differenzierung zwischen „polity“ für politische Institutionen, „politics“ für politische Prozesse und „policy“ für inhaltliche Politikfelder üblich (vgl. Rappenglück: 2004, S. 9 f.; Jahn: 2013, S. 38), die insbesondere für politikwissenschaftliche Analysen aber auch für den Bereich der politischen Bildung Relevanz haben.
Eine besondere Rolle kommt dem Begriff des ‚Politischen‘ zu. Er bezieht sich einerseits auf das politische Handeln im Sinne der Umsetzung von Bildungspolitik, andererseits spricht man von der ‚politischen Differenz‘ als Reaktion auf den neoliberalen, postdemokratischen Zeitgeist der vergangenen zwanzig Jahre. Das ‚Politische‘ fordert im Gegensatz zur ‚Politik‘ verstärkt die Verantwortung, Kritikfähigkeit und politische Mündigkeit von BürgerInnen ein. (Vgl. Gürses: 2011, S. 5 f.).
Gesellschaftliche Herausforderungen und Bildungspolitik
Es ist wahrscheinlich nicht überraschend, wenn wir von der Erfahrung ausgehen, dass es sich im Bildungsbereich um Wechselwirkungen zwischen Theorie und Politik handelt. Bei gesellschaftlichen Problemen, wie z.B. der Ungleichheit im Zugang zu Bildungswegen oder der Integration von MigrantenInnen wird der Ruf nach theoretischen Analysen und Modellen laut, die praktikabel und zielführend in Schule oder Erwachsenenbildung umgesetzt werden können. Missstände sollen behoben oder aktuelle Probleme beseitigt werden! Konsequente bildungspolitische Entscheidungen – siehe Schulreform! – lassen aber auf sich warten.
Die Wechselwirkung von Politik und Theorie im Bereich von Bildung verweist auf das inhaltliche Feld der Bildungspolitik. Im Rahmen von Policy-Prozessen geht die anglo-amerikanische Literatur von zyklischen Entwicklungen aus. Laut Heywood sei die Wirkung von Theorien während der Problemdefinition, der frühen Phase des Zyklus, am größten. Zu diesem Zeitpunkt kann eine größere Zahl an Akteuren potenziell Einfluss nehmen. Kritik äußert er an der Entscheidungsautorität von (vermeintlich) interessensorientierten BeraternInnen, PolitikernInnen und BeamtenInnen in späteren Phasen des Policy-Prozesses, wie beispielsweise bei der Implementierung. Der (vermeintlich) objektive Input seitens der Wissenschaft und somit diverser Theorien werde geringer. Heywood hält allerdings auch fest, dass neben der Wissenschaft auch die öffentliche Meinung, Medien und Elementarereignisse Einfluss auf politische Prozesse haben können. (Vgl. Heywood: 2007, S. 430 ff.).
Ein Gegensatz von Politik und Theorie kommt auch in der wissenschaftlichen Politikberatung zum Tragen. Der Anspruch, dass „politische Entscheidungen durch bestes Wissen legitimiert werden“ und „ein Wissenstransfer von der Wissenschaft in den politischen Prozess“ erfolgen kann (vgl. Fleischer et al.: 2010), geht davon aus, dass sich zwei Systeme mit unterschiedlichen Zielen gegenüberstehen: nach Wahrheit strebende Wissenschaft und an Macht orientierte Politik. Die Diskrepanz, die sich daraus ergibt, liegt darin begründet, dass die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis eine gewisse Zeitspanne erfordert und innerhalb der „scientific community“ Legitimation erfährt, während hingegen politische Entscheidungen viel kurzfristiger und mit externen Legitimationszwängen wie z. B. Wahlen verbunden sind. (Vgl. Pawson: 2001).
Die Problematik kann am Beispiel einer der zurzeit bedeutendsten, evidenzbasierten Studien aufgezeigt werden. Die Metastudie „Visible Learning“ von John Hattie (2008) bildet eine der theoretischen Grundlagen für Handlungsperspektiven im Rahmen von SQA, dem Schul- und Qualitätsentwicklungsprozess des Bundesministeriums für Bildung und Frauen. Die Pädagogischen Hochschulen sind als wissenschaftliche Partnerinnen in diesem Prozess involviert. (Vgl. BMBF: 2015). Die deutschsprachige bildungswissenschaftliche Literatur steht den Ergebnissen jedoch durchaus kritisch gegenüber (vgl. Terhart: 2014; Waack: 2015), und es stellt sich die Frage, ob die Rezeption auch Eingang in politische Bildungsentscheidungen finden wird. So hat Hattie rund fünfzehn Jahre an seiner Metaanalyse gearbeitet, ein Zeitraum, der aus der Perspektive von sozio-politischen Rahmenbedingungen lang ist und mehrere Policy-Zyklen umfasst. Aufgrund der unterschiedlichen Bildungstraditionen ist auch fraglich, inwieweit Studien aus dem anglo-amerikanischen Raum im deutschsprachigen Raum übernommen werden können.
(Bildungs-)Politische Wirksamkeit
Theoretische Erkenntnisse weisen oft auf künftige problematische Entwicklungen hin. Solche Voraussagen und Warnungen finden selten Gehör. Sie werden nicht politisch wirksam – oder erst, wenn das Problem in seiner gesellschaftlichen Bedeutung nicht mehr zu übersehen ist. Die Politik wird zum Handeln gezwungen, wenn sich eine politisch engagierte Öffentlichkeit formiert und deutlich zu Wort gemeldet hat. Auf der Agenda stehen dann z. B. plötzlich „erneuerbare Energien statt Atomkraft“ oder der „Schutz für Flüchtlinge statt Gleichgültigkeit“.
Im Bereich der europäischen Bildungspolitik sahen sich beispielsweise die Mitgliedsstaaten in den 1970ern gezwungen, aufgrund der stark anwachsenden Jugendarbeitslosigkeit eine erste Kooperation anzudenken, obwohl Bildung zum damaligen Zeitpunkt nicht auf der tagespolitischen Agenda stand. Parallel dazu wurde der Bedarf für die Vergleichbarkeit von Qualifikationen notwendig, da die Personenfreizügigkeit Auswirkungen auf Mobilität von ArbeitnehmerInnen und Studierende hatte. Somit wurde ein Grundstein für spätere EU-Aktionsprogramme in Erwachsenenbildung und Hochschulbildung gelegt. (Vgl. Görsdorf-Léchevin: 2014, S. 57). Beide Beispiele zeigen, dass politisches Handeln als Reaktion auf unmittelbare Bedürfnisse und dem Auftreten einer „kritischen Masse“ notwendig wird. Die dabei zum Tragen gekommenen Bildungs- und Lernprozesse, seien sie formal oder informell verlaufen, wurden politisch wirksam.
In Zusammenhang mit der politischen Wirksamkeit ist das Verhältnis von Wissenschaft und Politik ambivalent zu sehen. Wissenschaftliche Politikberatung, die sich aus ExpertenInnen beider Bereiche zusammensetzt, wird von Fleischer et al. (2010) in vier Modellen systematisiert:
- Dezisionistisches Modell: Wissenschaft und Politik sind deutlich getrennt, Politik steht über Wissenschaft.
- Technokratisches Modell: Wissenschaft und Politik sind deutlich getrennt, aber wissenschaftliche Erkenntnis ist der Politik übergeordnet.
- Pragmatistisches Modell: Wechselbeziehung mit kritischem Kommunikationsprozess; Beratung durch die Wissenschaft, aber auch Beauftragung durch Politik.
- Rekursives Modell: verstärkte Wechselseitigkeit beider Bereiche als „Verwissenschaftlichung der Politik“ und „Politisierung der Wissenschaft“.
Während die ersten beiden Modelle einer sich ausschließenden Entweder-oder-Logik folgen, sehen das pragmatistische und rekursive Modell Politik und Wissenschaft im systemischen Zusammenhang einer „komplexe[n] Abhängigkeitsbeziehung“. (Bogner & Menz 2002, S. 385). Die versuchte Problemlösung führt dabei immer häufiger zu abgehobenen „Expertendilemma“ in der „wissenschaftliche Expertise zunehmend als unsicher gilt“ und wo „Politik zu jedem Experten kurzerhand einen ‚Gegen-Experten‘ finden“ kann. So wird wissenschaftliche Expertise zwar demokratisiert, läuft jedoch auch Gefahr, durch Politik instrumentalisiert zu werden. (Vgl. Fleischer et al.: 2010).
Lernen als Antwort
Globale Entgrenzungen und wachsende Unsicherheiten aufgrund der zunehmenden Komplexität der Lebenswelten haben in den letzten Jahrzehnten den Ruf nach gesichertem Wissen, nach wissenschaftlich begründetem Wissen verstärkt. Wir können daher von einer Wissensgesellschaft, wenn nicht sogar von einer Wissenschaftsgesellschaft reden. Gesucht wird nach theoretischen Einsichten, die erklären, wie optimale Lebensbedingungen für die Weltbevölkerung geschaffen werden können, um individuell und kollektiv gewaltfrei ihre Lebensform des „well-being“ zu gestalten.
In demokratischen Gesellschaften haben wir eine Antwort gefunden, wie wir uns auf Veränderungen vorbereiten und wie wir auf sie reagieren: Bildung, Lernen, lebenslanges Lernen. Bei diesem Lernen geht es nicht nur darum, Vorgegebenes zu übernehmen. Neue Situationen verlangen neue Bewertungen, ausgewogenes Urteil und innovative Lösungen.
Weiterbildung bietet sich als Instrument pragmatischer Politik an. Aktuell (Oktober 2015) wird Fortbildung für LehrerInnen im Burgenland mit dem Ziel organisiert, wie der Unterricht mit Flüchtlingskindern optimal zu gestalten ist.1 Dieses eine Beispiel von vielen zeigt Erwachsenenbildung als Instrument, um für Gesellschaft und Individuen neu entstandene Probleme zu bewältigen. Die für solche Maßnahmen notwendige Finanzierung beruht auf politischen Entscheidungen.
Theoretische Kompetenz gefragt
Doch kurzfristige Reaktionen reichen nicht aus. Um auf Leistungen der Weiterbildung zurückgreifen zu können, sollte ein Potenzial an Professionalität – Menschen, die das Thema studiert und zu dessen weiterer Bearbeitung fähig sind – vorhanden sein. Um dies zu schaffen, kommt es darauf an, Reflexionen und Zusammenhänge herzustellen, Hintergründe und Interessen zu analysieren, eigene Gedanken und Vorstellungen über Aufgaben der Erwachsenenbildung zu entfalten sowie die individuelle und kollektive Urteils- und Kritikfähigkeit in diesem Sektor zu stärken. Es setzt voraus Menschen zu beschäftigen, die Erwachsenenbildung „theoretisch“ betreiben.
Daraus ergibt sich eine bedeutsame Konsequenz für das bildungspolitische Konzept des lebenslangen Lernens. Es wird politisch, weil es von den Menschen einfordert, ihr Potenzial im Hinblick auf berufliche und soziale Kompetenzen durch Lernen zu erweitern. Es wird politisch, weil die Menschen dadurch intensiver und aufgeklärter an der Gestaltung der Gesellschaft teilhaben können. Es wird schließlich politisch, weil es eine größere Zahl von professionell beruflich Tätigen erfordert, um für dieses Konzept notwendiges Wissen, notwendige Erkenntnisse, Studien und Perspektiven zu schaffen.
Professionelle berufliche Tätigkeit erfordert jedoch auch ein Maß an Anerkennung, durch entsprechend angemessene Bezahlung und durch sozial verträgliche Anstellungsformen. Das Beispiel von ErwachsenenbildnernInnen im Bereich Deutsch als Fremdsprache zeigt leider anderes. Einer teuren Ausbildung und den hohen, akademischen Anforderungen an die TrainerInnen stehen prekäre, ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse gegenüber. (Vgl. Wetzlmair-Zechner: 2015, S. 84–86).
Lebenslanges Lernen in Österreich
Das theoretische Verständnis vom Menschen als eines lebenslang Lernenden sowie der gesellschaftliche Bedarf an ständigem Weiterlernen hatten in Österreich Konsequenzen für die politische Praxis. Es resultierte daraus die Strategie „LLL: 2020 – Strategie zum lebensbegleitenden Lernen in Österreich“, die von der österreichischen Regierung im Juli 2011 verabschiedet wurde. (Vgl. Republik Österreich: 2011). Das Programm orientiert sich an Grundsätzen und Vorgaben der EU, die seit etwa 2000 bildungspolitisch dafür eintritt. Auch der politische Hintergrund in Österreich ist bemerkenswert. Voraussetzung für die ernsthafte Diskussion und letztlich für die politische Akzeptanz der Strategie „LLL: 2020“ war die übereinstimmende Befürwortung des lebenslangen Lernens durch die Sozialpartner in Wirtschaft und Gewerkschaft. Ihr gemeinsames Grundlagenpapier „Chance Bildung“ (Die Sozialpartner: 2007) ebnete den Weg für die bildungspolitische Maßnahme der Regierung.
Am Beispiel des lebenslangen Lernens in Österreich funktionierte die Wechselwirkung zwischen Theorie und Politik folgendermaßen: Ausgangspunkt war eine politische Entscheidung – nämlich der Beitritt Österreichs zur EU 1995. Die Übernahme europäischer bildungspolitischer Diskussionen, speziell das Bekenntnis zum lebenslangen Lernen, war die Folge. Praxisorientierte Anstöße kamen weiters durch die Mitgliedschaft bei der OECD und durch die Teilnahme an Forschungs- und Entwicklungsprojekten.
Europäische Bildungspolitik
Auch wenn die Europäische Union in Belangen der Bildungspolitik kaum Kompetenzen hat – die relevanten Entscheidungen werden von den jeweiligen Mitgliedsstaaten getroffen und Kooperation basiert auf freiwilliger, intergouvernementaler Kooperation mit rechtlich nicht bindendem Status (vgl. Görsdorf-Léchevin 2014, S. 55 ff.) – so wurden in den letzten Jahren zahlreiche Einrichtungen und Netzwerke aufgebaut, die Informationen zu Bildungssystemen sammeln, teilen und publizieren. Sie tragen somit auch zu Politikprozessen in Mitgliedsstaaten bei. Beispiele sind Eurydice, ein Netzwerk aus 41 nationalen Stellen, das Daten zu Bildungssystemen systematisiert, aber auch Agenturen und Forschungszentren wie CEDEFOP für Berufliche Bildung oder CRELL für Forschung zu lebenslangem Lernen. (Vgl. Ebd., S. 62 ff.).
Im Gegensatz zur Beruflichen Bildung und Hochschulbildung fand die Erwachsenenbildung auf europäischer bildungspolitischer Ebene lange Zeit nur geringe Beachtung und war im Rahmen von Aktionsprogrammen zunächst im Socrates-Programm integriert. In der anschließenden Programmperiode von 2000 bis 2006 wurde mit Grundtvig erstmals eine eigene Programm- und Förderungsschiene für Erwachsenenbildung eingerichtet. Grundtvig umfasste Projekte und Kooperationen, Förderung von Fortbildung, Lernpartnerschaften, und das Einrichten von Netzwerken. Jedoch stellte Amann (2010) fest, dass die Hauptschwierigkeit für die verhältnismäßig geringe Förderung von Erwachsenenbildung auf europäischer Ebene an der mangelnden Partizipation von Erwachsenen in den Bildungssystemen diverser europäischer Länder liegt.
Die aktuellste Initiative auf europäischer Ebene betrifft die „Europäische Agenda für Erwachsenenbildung“. (Vgl. Official Journal of the European Union 2011). Erwachsenenbildung wird in den Kontext der „Europa 2020“ Strategie gesetzt, wodurch der Wirtschaft(lichkeit)sfaktor als Legitimation für die Finanzierung gesehen wird. Anpassungsfähigkeit an den Arbeitsmarkt, Wiedereingliederung und Karriereübergänge sind Schlüsselwörter in diesem Zusammenhang. Die Schwerpunkte deuten auf die weiter fortschreitende Ökonomisierung hin: von 2011 bis 2013 standen Fragen der Finanzierung und Qualität im Mittelpunkt, seit 2014 liegt der Fokus auf Grundbildung, Alphabetisierung und IKT. Der marktökonomische Aspekt ist nach wie vor vorrangig gegenüber kritischer Orientierung in der Bildungstheorie.
Drei Herausforderungen ergeben sich aus der derzeitigen Praxis der europäischen (Erwachsenen)Bildungspolitik: Erstens schreitet, wie bereits erwähnt, die Ökonomisierung der Bildung voran, was sich auch sprachlich durch „Benchmarks“ und „Learning Outcomes“ ausdrückt. Zweitens besteht das Risiko einer Elitenmobilität aufgrund der Tatsache, dass vorrangig MultiplikatorenInnen durch Austausch- und Projektfinanzierung angesprochen werden; Phänomene der Massenmigration und Flüchtlingswellen sind auf der politischen Agenda nicht vorrangig. (Wirsching: 2012). Drittens führt die Projektorientierung auch zu einer Abhängigkeit von Finanzierung, was wiederum Druck auf die MitarbeiterInnen ausübt. Die Tatsache, dass die Mehrheit der MitarbeiterInnen in der Erwachsenenbildung ehrenamtlich tätig ist (vgl. Lenz: 2005), trägt zum sozialen und wirtschaftlichen Druck bei.
Theorie und Politik – Weiterbildung im tertiären Sektor
Aktuell erleben wir Herausforderungen einer komplexen Welt, deren Probleme wir nicht mit linearen Antworten oder einem traditionellen Theorie-Praxis-Verhältnis bewältigen können. (Vgl. Nassehi: 2015). Wissenschaftliche Disziplinen sollten sich deshalb aus ihrem selbst konstruierten Korsett lösen und interdisziplinäre Orientierung übernehmen. Das bedeutet sehr wohl, einen Fachbereich fundiert zu studieren, aber darüber hinaus fähig zu sein, wissenschaftliche Erkenntnisse, die Fachsprache oder die Problemstellungen anderer Disziplinen zu verstehen und zu kommunizieren. (Vgl. Lenz: 2011).
Zwei Projekte, die öffentliche, d. h. politische Wirksamkeit im Bildungssektor anstreben, sollen vorgestellt werden.
Lebenslanges Lernen – Doktoratskolleg
Vor etwa zehn Jahren wurde in Kooperation der Universitäten Graz, Klagenfurt und Krems ein Doktoratsstudium gegründet, das mit Herbst 2015 an sein Ende gekommen ist. Es gab Personen, die sich mit der Thematik „lebensbegleitende Bildung“ professionell beschäftigen, Gelegenheit sich im Rahmen ihrer Dissertation zu qualifizieren. Ziel war es, Verständnis für das neue Bildungskonzept zu entwickeln und kompetente Fachleute auszubilden. In den bisher etwa 30 Dissertationen kamen immer auch interdisziplinäre Aspekte vor, da ein einziger wissenschaftlicher Standort nicht ausreichte, der komplexen Materie des lebenslangen Lernens gerecht zu werden. Fast durchwegs waren alle DissertantInnen berufstätig. Dies brachte eine unmittelbare Rückwirkung der Forschung auf die jeweilige Organisation und in die jeweilige Praxis mit sich. Nicht zuletzt liegen fast alle Dissertationen in Buchform vor, sodass auch die Diskussion in der „scientific community“ angeregt wird.2
Die wissenschaftliche Aus- und Fortbildung von Personen, die das Thema „Lebenslanges Lernen – lebensbegleitende Bildung“ erforschen und professionell bearbeiten wollen, wartet auf neue Initiativen.
Europabezogenes Lernen in der Sommeruniversität Cluny
Sommeruniversitäten sind eine Form universitärer Weiterbildung und bieten die Möglichkeit, auf die Verbindung von Theorie, Praxis und Politik einzugehen. Im Rahmen der Europäischen Sommeruniversität in Cluny kamen von 2001 bis 2015 jeden Sommer bis zu 50 junge TeilnehmerInnen aus diversen europäischen Ländern für zehn Tage nach Frankreich, um zu einem vorgegebenen Thema mit Schwerpunkt „Europa“ zu arbeiten. Die TeilnehmerInnen waren in Bezug auf Studienrichtungen und Berufstätigkeit relativ heterogen, brachten daher unterschiedliche Zugänge zu Wissenschaft und Forschung aber auch zur Praxis mit. Sie bewegten sich in einem interkulturellen, interdisziplinären und mehrsprachigen Kontext. Durch offene Lernformen sollte ein Austausch ermöglicht werden, um theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen und Kompetenzen im Bereich der Politikprozesse zu entwickeln. Die Verbindung von theoretischem Hintergrund mit der praktischen Ebene und die Erfahrung, dass politische Prozesse einem eigenen Handlungsmuster unterliegen, ermöglichten eine Form des reflexiven Lernens, das zur erneuten Bewertung von Theorie führte und für weitere berufliche Tätigkeit in verschiedenen Feldern Wirkung zeigte. (Vgl. Görsdorf-Léchevin: 2014).
Soziale Ungleichheit und das Politische
Mit der deutlich wachsenden Ungleichheit steht der eingangs erwähnte Begriff der „Politischen Differenz“ in Zusammenhang. Sowohl innerhalb einzelner Staaten als auch in globaler Perspektive zwischen so genannten nördlichen und südlichen Ländern wurden die Armut und die wachsende soziale Kluft zunehmend sichtbarer. Widerstand gegen den politischen Mainstream des Neoliberalismus, gegen den Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und gegen die Finanzpolitik begann, sich zu formieren. Drei Personen, die ihre theoretischen Überzeugungen als Grundlage für gelebten Widerstand und somit für Aufklärung und politisches Handeln einsetzten, sollen hier als Protagonisten einer politischen Erwachsenenbildung genannt werden.
Naomi Klein (geb. 1970) nennt mit ihrem Buch „Grenzen und Mauern“ (2003) die Kampagne gegen Globalisierung ein Lernprojekt – insbesondere als eines von Erwachsenen, denn es liegt an ihnen, die Vorgänge in der Welt zu analysieren, zu verstehen und für eine bessere Welt einzutreten. Zuletzt publizierte sie ihre Sorgen in „Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima“ (2015).
Der ehemalige Widerstandskämpfer und Mitautor der 1948 von der UNO angenommenen Menschenrechte, Stéphane Hessel (1917–2013), fordert in „Empört Euch!“ (2011) vorrangig die BürgerInnen auf, die neoliberale Politik nicht hinzunehmen.
Jean Ziegler (geb. 1934), Soziologe, Politiker, Menschenrechtler und Autor sagt uns deutlich: „Jedes verhungerte Kind ist ein ermordetes Kind!“ Er zeigt Ursachen der ungleichen Lebensbedingungen auf, tritt beispielgebend für Humanität ein und meint: Es liegt an uns allen, die Welt zu verbessern. Jede und jeder von uns weiß, wo wir in unserem Lebensbereich einen Beitrag leisten könnten. Jean Ziegler fragt sich in seinem neuesten Buch, „Ändere die Welt“ (2015), inwieweit er als wissenschaftlicher Soziologe zur „Verbesserung“ menschlicher Lebensbedingungen beigetragen hat. Zugleich beschreibt dieses Buch, wie Ziegler wissenschaftliche Expertise, politische Tätigkeit und soziales Engagement in seinem Leben verbindet.
Politisches Bewusstsein fördern
Die drei Persönlichkeiten, wir nennen sie modernistisch „Trailblazer“, bringen direkt und indirekt eine Botschaft mit sich: Um die Welt zu verbessern, um unser Überleben in ihr zu sichern, um soziale Ungleichheit zu verringern und um mehr Menschlichkeit zu verwirklichen, sollten wir uns unser eigenes Urteil über die Welt schaffen. Wenn uns das Leiden in der Welt berührt oder Missstände stören, müssen wir tätig werden. Tätig, indem wir uns Wissen über die Problemlage aneignen und lernen, wie wir ihr entgegentreten können. Es liegt an uns, am Einzelnen, an einer Gemeinschaft von Menschen mit gleichen Interessen, sich Stimme und Macht anzueignen, sich Wege und Strategien zurechtzulegen, sich MitstreiterInnen und Verbündete zu suchen, um Veränderungen in Gang zu setzen. Dann werden theoretische Einsichten zu einer politischen Kraft für neue politische Entwürfe.
Politisches Ehrenamt
Ein Blick auf aktuelle Entwicklungen im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise verdeutlicht, wie „das Politische“ zu wirken beginnt. Während das erste Halbjahr 2015 aus europäischer Perspektive noch von der Griechenland- bzw. Euro-Krise dominiert war, so war die zunächst fern scheinende, nicht prioritäre Flüchtlingsproblematik im Mittelmeer ab dem Sommer 2015 plötzlich in Mitteleuropa angekommen. Spätestens mit dem Flüchtlingsdrama auf der A4 an der österreichisch-ungarischen Grenze und den kurz darauf einsetzenden Flüchtlingsströmen am burgenländischen Grenzübergang Nickelsdorf und im steirischen Spielfeld wurde die Not, aber dadurch auch die Notwendigkeit zu handeln, spürbar. Während sich die politischen Institutionen und RepräsentantenInnen sowohl auf nationaler als auch vor allem auf europäischer Ebene wenig handlungsfähig und lösungsorientiert zeigten, formierte sich eine höchst aktive, professionell agierende Zivilgesellschaft. Neben offiziellen Initiativen wie jene des Österreichischen Rundfunks ORF, „Helfen wie wir“, die professionelle Hilfsorganisationen und Privatpersonen in Kontakt bringt, gibt es auch eine Reihe an Gemeinschaften, die sich größtenteils über soziale Netzwerke selbst organisieren. Viele Menschen stellen in diesem selbstorganisierten Rahmen ihre Hilfe in Form von Sach- und Zeitspenden zur Verfügung und handeln in ihren „Fachbereichen“ kompetent, schnell, unbürokratisch, professionell – und vor allem ehrenamtlich.
Dem Ehrenamt kommt in dieser Situation eine neue Bedeutung zu. Es finden sich zahlreiche professionelle ErwachsenenbildnerInnen unter jenen, die ihre Unterstützung anbieten. Im Berufsleben stehen sie gleichzeitig oft in prekären Arbeitsverhältnissen. Aufgaben, die eigentlich dem Gemeinwohl dienlich sind und seitens der Politik unterstützt werden sollten, wie das Dolmetschen für die teils emotional und physisch erschöpften Flüchtenden oder auch die vielen privaten Deutschkurse für AsylwerberInnen, werden von den politisch Verantwortlichen im Land nach wie vor nicht beachtet.
Doch die Hilfe, die Flüchtlinge erfahren, wird nicht von allen gutgeheißen. In der Bevölkerung gibt es auch Widerstände, Angst und teils offenkundigen Hass gegenüber „den Fremden“. Hier ist nicht nur die Politik gefragt, auch (politische) ErwachsenenbildnerInnen und PädagogenInnen in allen Bereichen des Bildungswesens sind damit konfrontiert, an der Problemlösung mitzuwirken. In manchen Bereichen, wie dem Fremd- und Zweitsprachenerwerb, kann dabei auf wissenschaftlich fundierte Theorien und Praxiserfahrung zurückgegriffen werden. Eine Chance das Verhältnis von Theorie, Praxis und Politik zu beleben! Die Übernahme von Verantwortung seitens aller AkteurInnen innerhalb einer Gemeinschaft ist aktueller und wichtiger denn je. //