„Vermessen? Zum Verhältnis von Bildungsforschung, Bildungspolitik und Bildungspraxis“
Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, gehalten im Rahmen des ÖFEB-Kongresses (September 2019) zum Thema „Vermessen? Zum Verhältnis von Bildungsforschung, Bildungspolitik und Bildungspraxis“. Die vorliegende schriftliche Fassung versteht sich als reflexive Auseinandersetzung mit der Kongressfrage am Beispiel einer im Kern durch und durch erwachsenenpädagogischen Bildungsform: Es ist dies das „Gespräch“ bzw. der „Gesprächskreis“. Franz Pöggeler (1964) erachtete diese nämlich in einem der ersten deutschsprachigen Methodenbücher der Erwachsenenbildung − neben dem Vortrag − als die wichtigste Bildungsform für die „menschliche Bildung“ und das „Mensch-Sein“ (vgl. Pöggeler: 1964, 114 f.). Diese historische und vom damaligen Zeitgeist wohl auch mitgeprägte Perspektivierung Pöggelers soll in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Traditionen der Popular Education, die sich dieser Bildungsform bedien(t)en, komparativ betrachtet werden. Es wird grundsätzlich die Frage in den Blick genommen, was es in Folge umfassender Standardisierung und technisch-rationalistischer Ausrichtung der Bildungsangebote, die auf das „Machbare“ zielen (vgl. Mayo: 2006), mit „ursprünglichen“ (im Sinne von „grassroot“) Bildungsformen gegenwärtig auf sich hat. Es wird hier – unter anderem basierend auf eigenen Praxiserfahrungen in der jüngeren Vergangenheit – von der Annahme ausgegangen, dass besonders zeitaufwendige Bildungsformen eine geringe Berücksichtigung in Bildungsplanung und Bildungspraxis erfahren und dass diese Bildungsformen in heutigen Kursangeboten vielleicht in Folge ökonomisierender und technisierender Entwicklungen schwerer Raum und Zeit finden (als früher).1 Hält man sich als Forschende das derzeit dominierende „Gesellschafts- und Menschenbild“ vor Augen (vgl. Cennamo & Peterlini: 2018; Cennamo: 2018; Gruber: 2018) – nämlich ein ökonomisches und vom Leistungsprinzip geprägtes (vgl. Bremer/Faulstich/Teiwes-Kügler & Vehse: 2015, 37–39), so wären diese angenommenen Folgeerscheinung nicht sehr verwunderlich. So ist es für Forschung und Praxis nicht uninteressant, dieser Vermutung der „mis-recognition“ (Preston: 2006) analytisch-reflexiv auf den Grund zu gehen, denn, so sehr sich Wissenschaft und Praxis auch dagegen sträuben: „outcomes do shape pedagogy“ (Flowers: 2009b, 24). Versuche einer „Totalisierung des Lernens“ – wo „die einen lernen, die anderen prüfen“ (Ballauf: 1981, 16) –„entail significant and asymmetrical relations of power, authority and expertise. They reproduce `moral economies of knowledge´“, so Flowers and Swan (2018, 1). Mayo drückt es so aus:
„[…] wessen Wissen ist es legitim in Betracht zu ziehen, [und] warum? Welche Formen des Wissens sind dagegen Teil `kultureller Willkür´ der herrschenden Gruppen? Dieses Problem ist ein wichtiger Teil der von einer kritischen Pädagogik inspirierten Praxis und Theorie. Daher ist die Auseinandersetzung mit der kulturellen Produktion […] ein zentrales Thema.“ (Mayo: 2006, 35).
Eindeutige Rückschlüsse können in diesem Beitrag keine hergestellt werden. Dafür soll vielmehr die didaktische Bildungsform, sprich das Gespräch, reflexiv aufgerollt werden, mit dem Ziel, einerseits erwachsenenbildnerisch wertvolle Erfahrungen und didaktische Modelle aus der Vergangenheit zu erinnern und deren aktuelle Anwendung (oder Nicht-Anwendung) im Sinne Mayo (2006) kritisch zu reflektieren. Andererseits soll eine grenzüberschreitende (internationale) Diskussionspraxis über alternative anthropologische (und gesellschaftliche) Modelle in der Bildungsarbeit angedacht werden. Letzteres erscheint aktuell besonders notwendig, um vorherrschende Diskurse der Evidenzbasierung von Lernergebnissen anders zu gewichten, nicht zuletzt durch die wissenschaftliche Behandlung weiterer Traditionen, die den Blick auf alternative, mögliche Konzepte von Bildungsarbeit erweitern bzw. performativ verschieben (Cennamo: 2019a, 253−276). Alternative anthropologische Konzepte und Lernmodelle waren in der Geschichte der (deutschsprachigen wie internationalen) Erwachsenenbildung schon immer Anlass und Anstoß für die Entstehung und weitere Entwicklung erwachsenengerechter Bildungsformen und -formate. Es ging bereits seit den Anfängen der Erwachsenenbildung als Subdisziplin der Erziehungswissenschaft auch immer schon darum, Bildungszugänge auch außerhalb und/oder abseits formaler Schul- und Bildungswege bereitzustellen, wie zum Beispiel da, wo u. a. Ausschluss oder Benachteiligung stattfanden.
Bildung „von unten“
Für die Darstellung der Bildungsform Gespräch und Gesprächskreis werden kasuistisch2 – d. h. an internationalen, historischen und empirischen Fallbeispielen orientiert (vgl. Agostini: 2020) − einzelne konstitutive Elemente derselben im Kontext einer freien Bildung oder einer Bildung „von unten“ reflektiert. Dies geschieht hier mit Bezugnahme
- auf sozialhistorische Analysen von Wilhelm Filla zur Volksbildung in Wien-Österreich (vgl. Filla, 2001);
- auf internationale radikal-emanzipatorische Modelle der 1950er-, 1960-er und 1970er-Jahre, und
- unter Rückgriff auf internationale Schriften der Erwachsenenbildungswissenschaft im Bereich der Popular Education.
In der Geschichte der Erwachsenenbildung stellen gleichfalls Bildungsbewegungen und Bildungsaktivistinnen und -aktivisten, die aus der Gesellschaft kommen, – sogenannte „activist-educators“ (vgl. Newman: 2006) – keine Seltenheit dar. Sie zeichnen sich grundsätzlich a) durch die Suche nach einem Ausweg aus hegemonialen oder benachteiligenden Rahmenbedingungen aus (vgl. Wildemeersch: 2014, 823 f.) und b) durch die Forderung nach einem humanisierenden Bildungsverständnis, im Gegenzug zu einer rein humankapitalorientierten „Bankierserziehung“ (Freire: 1973, 57), um es mit Paulo Freires Worten (und Konzepten) auszudrücken. „Banking Education“ entwickelt sich laut Freire wie eine Spareinlage, indem die Lehrenden die AnlegerInnen und die Lernenden das Anlage-Objekt sind. (Vgl. ebd., 57–59). Bildungsbewegungen im Rahmen der Popular Education entspringen einer dem „Entfaltungslernen“ (Faulstich: 2006, 11) zugewandten und einem relationalen Verständnis von Erwachsenenbildungspraxis. Der relationale Aspekt innerhalb einer Lerngemeinschaft oder einer Community – kurz: das (individuelle) Lernen im oder mittels Kollektiv(s) spielt in folgenden Fallbeispielen jeweils eine zentrale Rolle. Damit ist wohlgemerkt keine soziale Kompetenz als (individuelles) Lernergebnis von Gruppenbeschäftigung gemeint. Der relationale Aspekt orientiert sich in der Bildungsform Gespräch/Gesprächskreis) vielmehr am gesamtgesellschaftlichen Kontext und verwirklicht sich didaktisch über dialogische, mäeutische oder kooperative Ansätze. Diese Merkmale sollen in folgenden Beispielen deskriptiv erläutert werden.
(Fall-)Beispiel 1: Die Volksbildung
Von der mehr als drei Jahrzehnten währenden Tätigkeit der Wiener „Fachgruppen“ um 1900 wissen wir
- dass letztere eine herausragende volksbildnerische Entwicklung darstellen (vgl. Filla: 2001, 16),
- sie sich „aus der Gesellschaft heraus, das heißt pointiert ‚von unten‘“ (ebd.) entwickelt haben,
- dass die Entstehung der Fachgruppen selbst aus der „praktischen Volkhochschularbeit“ (ebd., 17) entspringt,
- sie „Bewegungscharakter“ (ebd.) haben, und
- dass die Fachgruppen „wissenschaftliche Bildungstätigkeit mit kultureller und geselliger Bildungsarbeit“ (ebd.) kombinieren.
Das Format der Fachgruppen beinhaltet überdies „ein Lernen gepaart mit der Erfahrung eines Gemeinschaftsgefühls“ (ebd.). Emil Reich, einer der wichtigsten Initiatoren der Fachgruppen, schrieb im zweiten Jahresbericht in den 1920er-Jahren über das gleichzeitige Vorhandensein von „Bildung, Erbauung, Erholung“ (zit. nach Filla: 2001, 26), dass sich die Dreiheit realisiere durch Wissenschaft, Kunst und Geselligkeit. (Vgl. ebd.). So fasst Filla 2001 wie folgt zusammen: Die „[…] Gemeinschaftsbildung, gerade in den Fachgruppen, [war] eine volksbildnerische Zielsetzung“ (Filla: 2001, 549).
Diese gemeinschaftliche Auseinandersetzung mit Wissenschaft und/oder wissenschaftlich orientierten Themen erfolgte zwischen Expertinnen und Experten und Laiinnen und Laien über kooperative und diskursive Bildungspraxen. Der Austausch und nicht die Anweisung, so Sigrid Nolda (2017, 72), war – hier auf die „Arbeitsgemeinschaften“ der Weimarer Zeit bezogen – ebenso ein zentrales Merkmal erwachsenenpädagogischer Arbeit. So spricht die (internationale) Literatur von einer „mutual adult education“ (vgl. Crowther: 2006) − einer „wechselseitigen“ Erwachsenenbildung, die über das Training in herkömmlichen Kurssituationen hinausgeht und ein gemeinschaftliches Engagement, eine Bereicherung des Lernens mit einem stärkeren Schwerpunkt auf wechselseitiges Lernen bedeutet. Menschen lernen individuell, aber was hier lern- und erkenntnistheoretisch als besonders relevant erscheint, ist, dass Menschen besonders – auch weil im Kreise einer Lerninteressengemeinschaft, so würde ich diese Gruppen heute definieren – unter anderem (das Lernen) lernen, und zwar im Sinne von Verlernen und Umlernen (vgl. Meyer-Drawe: 2012, 113). So ist der Gesprächskreis in der Erwachsenenpädagogik als wichtiges didaktisches Mittel auch bereits anerkannt und bekannt. Das Gespräch ist aber zugleich als Instrument der Forschung und damit erkenntnistheoretisch für die Wissensgenerierung bedeutsam, denn es geht im Bildungsbetrieb ja immer auch um Macht und Dominanz über Welterkenntnis und um die Hierarchie von Wissen und Wissensgenerierungsprozessen (vgl. Ingrisch, Mangelsdorf & Dressel: 2017, 8). Um es mit Walter Mignolo, dem Leiter des Center for Global Studies an der Duke University zu definieren, wird gegenwärtig eine „Geopolitik des Wissens“ (vgl. Mignolo: 2002, 110) betrieben. Jede Wissenskultur sieht aber immer nur einen Ausschnitt eines Phänomens. Der Dialog dagegen ist nach William Isaacs (2002) die Kunst, gemeinsam zu denken.
„In solchen [dialogischen] Prozessen steht nicht die Diskussion (discutere = zerschlagen) im Zentrum, wie wir es aus wissenschaftlichen und hierarchischen Settings kennen, sondern ein »Verzeihen«, wie es Hannah Arendt bezeichnet hat. Es geht um eine Haltung von Akzeptanz, wirklicher Neugierde und Verstehen-Wollen für Sichtweisen und das Wissen anderer. Die eigene Wahrheit bzw. die eigenen Wirklichkeits- und Wissenskonstruktionen mögen plausibel und begründet sein, ich muss sie auch nicht über Bord werfen, aber als die allein gültigen und richtigen sollten sie nicht betrachtet werden. So kann ein In-Schwebe-Halten, letztlich ein Fließen im Gespräch zwischen einem Ich und Du, wie es Martin Buber genannt hat, entstehen.“ (Ingrisch, Mangelsdorf & Dressel: 2017, 9).
Unter dem Gesichtspunkt von individueller und gemeinschaftlicher Bewusstwerdung je eigener und fremder Wirklichkeits- und Wissenskonstruktionen von Seiten aller beteiligten Akteurinnen und Akteure, die in einem Lern-/Forschungs- und/oder Bildungsprozess involviert sind (Forschende und Lehrende also miteinbezogen), ist ein Rückgriff auf (internationale) historisch-empirische Beispiele für die weitere Reflexion aufschlussreich.
(Fall-)Beispiel 2: Danilo Dolci – „La maieutica reciproca“ oder die „Kunst des Fragens“
In den 1950er-Jahren entwickelte der italienische Pädagoge und (Bildungs-)Aktivist Danilo Dolci in Partinico/Westsizilien, einem von der Mafia stark kontrollierten Gebiet, den reziproken mäeutischen Ansatz („La maieutica reciproca“, vgl. Dolci: 1962 u. 1996). Danilo Dolci ist überwiegend im „globalen Süden“ (vgl. Guimares, Lucio-Villegas & Mayo: 2018) bekannt und dies besonders für die Entwicklung eines Repertoires zivilgesellschaftlicher Praktiken, wie beispielsweise die Durchführung von Petitionen, die Förderung breiter sozialer Koalitionen, die Nutzung des lokalen Radios, die Durchführung von Sozialforschungen, das persönliche Engagement in Handlungen des zivilen Ungehorsams wie Hungerstreiks als dramatischste Taktik (vgl. ebd.). Bezogen auf die geringen Bildungsab- und -anschlüsse benachteiligter Erwachsener und nicht zuletzt im Kontext der Basisbildungskampagnen in (Süd)Italien spricht Danilo Dolci von einem gemeinschaftlichen Engagement und von der Notwendigkeit einer kollektiven Bewusstwerdung von (gesamtgesellschaftlichen) Machtbeziehungen und Herrschaftsverhältnissen (vgl. Centro per lo sviluppo creativo Danilo Dolci: 2005). Dolci übernimmt für die Begründung seiner dialogischen Bildungspraxis den Begriff der Mäeutik, ursprünglich von dem philosophisch-sokratischen Ansatz herrührend, integriert ihn aber in eine pädagogische, soziale und bürgerliche Praxis. Der reziproke mäeutische Ansatz, so Dolci, wird als „kollektiver Erkundungsprozess“ (frei übersetzt nach Dolci: 1962) definiert, der die Alltagserfahrung des Einzelnen als Bezugspunkt betrachtet. Es ist eine dialogisch-dialektische Methodik der Selbstanalyse und der Erforschung sowie eine Methode der Gesprächsführung in größeren Gruppen. Hierbei wird grundsätzlich eine zentrale (auch lebens- und arbeitsnahe) Frage, die die (lokalen) Subjekte bewegt, erörtert und nach einer für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer verbindlichen Lösung gesucht. (Vgl. Dolci: 1962). Erkenntnis war bereits für Platon eine Wiedererinnerung der Seele an die ewigen Ideen (vgl. Leigh: 2007), um sie wieder aus den über die Jahre erfahrenen und sedimentierten Glaubenssätzen als Erwachsener „neu gebären“ zu können. Das Sich-Besinnen auf eigene Bedeutungen hat Freire als Teil einer befreienden (im Gegensatz zu einer domestizierenden) Pädagogik beschrieben (vgl. Freire: 1973), wobei die Offenlegung gesamtgesellschaftlicher Bedingungen bei eventueller Unterdrückung oder Benachteiligung eine emanzipatorische Funktion innehat:
„Erziehung kann niemals neutral sein. Entweder ist sie ein Instrument zur Befreiung des Menschen, oder sie ist ein Instrument seiner Domestizierung, seiner Abrichtung für die Unterdrückung.“ (Freire: 1973, 13).
Die sokratische Methode war auf die dialogische Praxis ausgerichtet und sollte die Gesprächspartner,3 durch geschicktes Fragen zu einer von ihnen selbst hervorgebrachten Erkenntnis führen. Als Hebammenkunst bezeichnet – was wörtlich das Wort Mäeutik bedeutet −, bringt nicht Sokrates selbst Erkenntnisse hervor, er lehrt auch keine Wahrheiten, sondern er hilft seinen Dialogpartnern die Wahrheit aus sich selbst heraus, aus der eigenen Vernunft zu „gebären“ (vgl. Leigh: 2007). Die Methode fordert die echte Begegnung mindestens zweier Menschen, die sich „auf Grund ihres Gemeinsamen verstehen und die sich einander aufgrund ihrer Fremdheit im Erkenntnisprozess nicht ersetzen können“ (Wahler: 2014, 1). Es geht in der dialogischen Praxis nicht vorrangig um Wissenstransfer, sondern darum, über die Voraussetzungen eigener Überzeugungen, Weltanschauungen und auch über die Voraussetzungen unseres emotionalen Erlebnisses (auch in Bezug auf die eigene Lernbiografie) aufzuklären (vgl. ebd., 1–4).
„This learning is not only addressed what someone knows, but how she or he knows.“ (Nikolaides & Smith: 2018, 53).
Es werden bei Dolci primär die Voraussetzungen unseres Urteilens über das Mittel der dialogischen Praxis aufgewiesen, die dieses Urteil in seiner Form und seinem Inhalt bedingen. Zu der wiedergeborenen Wahrheit in Form allgemeiner Prinzipien kann der Mensch gelangen, wenn er von konkreten – lebensweltlichen − Erfahrungen und den Urteilen über sie ausgeht und anschließend in regressiver Abstraktion diese Erfahrungen reflektiert und in immer allgemeineren Urteilen fortschreitet (vgl. ebd.). Dies kommt Freires Begriff der „conscientização“ und der erwachsenenpädagogischen Praxis der „Bewusstwerdung“ sehr nahe – Dolci und Freire kannten sich übrigens auch persönlich.
Dialogische Praxis meint zusammenfassend eine Konversation, zentriert auf eine Untersuchung der Bedingungen, unter denen Glaubenssätze bzw. Überzeugungen wahr wären und − dialektisch betrachtet − unter denen diese eventuell auch falsch wären (vgl. Mitchell: 2006, 181 f.). Ein Dialog sei in der Lage, pädagogisch das zu erreichen, was Sokrates in Platons Phaedrus ausspricht, nämlich was nicht durch Schreiben erreicht werden kann (vgl. ebd.). So hat sich eine mündliche pädagogische Praxis bewusst schon in der Antike von einer ausschließlich schriftlichen4 abgehoben (vgl. ebd.). Zentraler (didaktischer) Teil des Gesprächs und des Gesprächskreises ist die Kunst des Fragens:
„Oral question is a significant education tool in the humanities.“ (Mitchell: 2006, 189).
„Durch eine ‚Pädagogik des Fragens‘ (Bruss & Macedo: 1985, 9) anstelle einer normierenden Pädagogik versetzt der […] [der/die ErwachsenenbildnerIn die Lernenden] in die Lage, die kodierten Versionen ihrer ‚Realität‘ (ihrer eigenen ‚Handlungswelt‘) in einem praktischen Prozess zu reflektieren. Die Kodierung dient dem Zweck, die Lernenden von ihrer Handlungswelt zu distanzieren, so dass die Lernenden beginnen, sie durch Reflektion in einem anderen, kritischeren Licht zu sehen. Freire beschreibt die Praxis des Konzeptes wie folgt: ‚Menschliche Aktion besteht aus Handlung und Reflektion: Es ist Praxis, es ist die Veränderung der Welt´“ (Freire: 1970, 119; Mayo: 2006, 66 f.).
Ein weiteres Beispiel aus der Empirie5 (wieder aus Italien) stammt aus der zweiten Frauenbewegung.
(Fall-)Beispiel 3: Adriana Monti und der Film6 „La scuola senza fine“ (1983)
In den frühen 1970er-Jahren führten Verhandlungen zwischen Metallarbeitern, den männlichen Industriearbeitern, und Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen zu den so genannten „150-Stunden-Kursen“. Die 150-Stunden-Kurse waren ein seit 1974 in Italien durchgeführtes Bildungsexperiment, das zunächst für männliche Industriearbeiter und Landwirte zugänglich war und einige Jahre später auf Frauen ausgedehnt wurde. Die Mailänder Filmemacherin und Aktivistin Adriana Monti (1983) drehte den Film „Scuola senza fine“ (wörtlich: Schule ohne Ende) in einem kollaborativen Prozess mit den Frauen eines Kurses. Die 150-Stunden-Kurse waren, obwohl während der Arbeitszeit abgehalten, grundsätzlich nicht berufsbezogen, d. h. sie sollten nicht dazu dienen, die Arbeitsproduktivität zu verbessern, sondern dazu dienen, ein Nachdenken über Arbeitsbedingungen und über das Da-Sein anzuregen. Ein großer Teil der Frauen widmete sich sodann der Neubearbeitung und Neuinterpretation dessen, was als gelebte Erfahrung definiert wurde: ihre Erfahrungen mit Arbeit, mit Migration (vom Süden in den Norden Italiens), kultureller und sprachlicher Diskriminierung (das Nord-Süd-Gefälle zeigt(e) sich in Italien auch über die vielen stark voneinander abweichenden Dialekte und Sprachvarietäten), mit Gewerkschaftskämpfen, mit der Rolle der Frau in der italienischen Gesellschaft. Scuola senza Fine zeigt, wie sich das Experiment transformativ (vgl. Taylor & Cranton: 2013) und/oder transformatorisch (vgl. Koller: 2012) auf das Leben der Frauen ausdehnte, die den Kurs besuchten, von denen die meisten Hausfrauen waren. Der Film wurde in Zusammenarbeit mit der Frauengruppe und zwar im Rahmen ihres Unterrichts produziert. Diese Frauen verwandelten die Fragen des (allgemeinen) Lehrplans, u. a. über die Repräsentation von Frauen allgemein in personenbezogene Fragen über sich selbst. Der Kurs bedeutete für viele Frauen, Gedanken ausdrücken zu können und zu dürfen, die bis dahin oft unterbewertet oder ganz vernachlässigt worden waren. Die Möglichkeit dieser (transformierten) Beziehung zu sich und zu anderen Frauen und ihren Erfahrungen in einer gemeinschaftlich-geteilten Lernsituation stimulierte eine sehr interessante Art des Sprechens (der Film ist ein Beispiel), des Schreibens (die dokumentierten Tagebücher der Frauen) und des Denkens, was wiederum in den Gesprächskreisen filmisch dokumentiert ist. Nach Ende des Kursprogramms organisierten die Frauen ihre Kurse schließlich selbst. Diese selbstinitiierten Bemühungen gesellschaftlich von unten führten unter anderem zu monographischen Kursen zu ganz frauenspezifischen Themen wie z. B. über den Frauenkörper. Diese Frauen brachten inhaltlich ihre Themen selbst hervor und bestimmten eigeninitiativ dann den Lehrplan ihres Kurses. O’Cadiz, Wong und Torres sprechen hier von „a locally relevant curriculum“ (O’Cadiz, Wong & Torres: 1998, 536).
Bezogen auf die ursprüngliche ÖFEB-Kongressfrage, nämlich ob unter Umständen Bildungspolitik, Bildungsforschung und Bildungspraxis nicht auch vermessen seien, wenn ausschließlich über erwachsene LernerInnen Inhalte und Ziele entschieden werden ohne diese und deren (Lern)Interessen (vgl. Grotlüschen: 2010) auch im wechselseitigen Austausch (kommunikativ) mit den Erwachsenen mitauszuhandeln (vgl. Habermas: 1981), haben bereits international etablierte (kritische) Stimmen reflektiert (vgl. u. a. Borg & Mayo: 2007; Faulstich: 2015; Ferrer: 2011; Fiske: 1989). Was sich überdies aus den drei (Fall)Beispielen erschließen lässt, ist die besondere Relevanzsetzung der Popular Education auf das dialogische Erzählen, die mäeutischen Fragen und − als weiteres, konstitutives Element der Bildungsform − auf das kritische Denken als gemeinschaftliche Lernprozesse.
Zusammenschau der drei Fallbeispiele im Hinblick auf die Bildungsform „Gespräch“
In dieser Bildungsform wird – im Idealfall − über das Sich-Erzählen und das Sich-gegenseitige-Austauschen hinaus das kritische Denken befördert. Auf das erste (Fall-)Beispiel bzw. auf die Volkshochschule der Jahrhundertwende bezogen beschreibt der Volksbildner Ludo Moritz Hartmann im Zusammenhang mit den Fachgruppen das volksbildnerische Bildungsziel der „Denkschulung“ (vgl. Filla: 2001, 26). Diese galt gewiss dem wissenschaftlichen Denken, „dem systematischen Erfassen von Zusammenhängen komplexer Verhältnisse sowie der Begriffsbildungen an konkreten Beispielen“ (Filla: 2001, 26), sie meinte allerdings auch, so Filla, „ein an neutralem Inhalt geschultes Denkvermögen für das Erkennen gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge“ (ebd.). „Denken lehren, um zum eigenständigen Aufbau eines Weltverständnisses und einer Weltauffassung zu gelangen“ (Filla: 2001, 549) war – laut Filla − das Hauptziel dieser Form volksbildnerischer Bildung.
Auf das zweite und dritte (Fall-)Beispiel 2 bezogen, also bei Dolci und Monti, aber auch im Feld der Popular Education (Paulo Freire) oder in der gegenwärtigen internationalen (kritischen) Erwachsenenbildungswissenschaft – bei Peter Mayo oder Lyn Tett im Bereich der Popular Education „Community Education“ und Basisbildung genannt – geht es schließlich in der dialogischen Praxis immer auch um ein emanzipatorisches Denken-Lernen, d. h. um die Bewusstwerdung erlebter/erfahrener/erlittener/habituell übernommener Sozialisation/en (vgl. u. a. Bourdieu: 1982) aller Beteiligten. Kritisches Denken meint hier, nach den individuellen und nach den gesamtgesellschaftlichen Bedingungen zu suchen, unter denen eine Behauptung oder eine Überzeugung über sich und die Welt und über die Rolle von sich in der Welt eventuell (nicht) wahr sein kann. Gelingt dies, dann handelt es sich hier bildungstheoretisch und aus (bildungs-)transformatorischer Sicht wohl um ein Lernen, welches eine Erweiterung des Selbst- und Weltbezugs ermöglicht – um Bildung schlechthin (vgl. Koller: 2012). Aus Sicht der Transformative Learning Theory meinte dieses Lernen dann wohl auch ein Lern-Prozess im Sinne einer Erweiterung oder Veränderung des „frame of reference“ und des „habit of mind“ (vgl. Mezirow: 1990).
„Angelehnt an Torres […] könnte man argumentieren, dass die Spezifität der Bewusstmachung in der Entwicklung von Kritikfähigkeit zu sehen ist, die das Wissen historisch untergeordneter Gruppen reflektiert und umarbeitet.“ (Mayo: 2006, 43).
Wie nach dieser diskrepanten Lernerfahrung (vgl. Meyer-Drawe: 2012), − eine neue Perspektive durchkreuzt die bisherige eigene Erfahrung − sich Lernen eventuell (phänomenologisch zeigt) oder neu orientiert, welche Bildungswege eventuell eingeschlagen werden, wie mit der eigenen (Bildungs-)Biografie umgegangen und vorangeschritten wird, ist an dieser Stelle nicht ausführbar. Mit Sicherheit können hier phänomenologische Studien oder rekonstruktive Bildungsbiografie-Arbeiten aufschlussreich sein.
Peter Mayo vergleicht die (Lern-)Wirkung dialogischer Bildungsformen im Kontext der Popular Education mit einem Konzept von erwachsenenbildnerischem „[…] politischem Lernen, das nicht in Qualifizierungsbemühungen um die Ware Arbeitskraft aufgeht, sondern sich – zentriert um das, was er als ‚transformative Action´ nennt und auf Persönlichkeitsbildung ausgerichtet ist – um eine grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse, von Macht- und Herrschaftsstrukturen in der Perspektive einer Demokratisierung – verknüpft mit dem Konzept von ‚Partizipation‘ […]“ (Mayo: 2006, 5) anzukurbeln.
Filla beschreibt den (politischen) Lerninhalt auf ähnliche Weise:
„Während sich politische Bildung vorrangig auf Politik und gesellschaftspolitische Themen bezieht, ist mit politischer Erwachsenenbildung, anders als dies in der Fachliteratur überwiegend der Fall ist und ohne dies deshalb zu kritisieren, hier eine Erwachsenenbildung gemeint, die gesellschaftlich relevante Themen aufgreift, die keinen direkten politischen Bezug, aber eine gesellschaftspolitische Dimension aufweisen. Das beginnt bei Grundbildung, die über die Vermittlung von Basis Fähigkeiten und -kenntnissen hinaus auf gesellschaftliche Teilhabe zielt, geht über inklusive und interkulturelle Bildungstätigkeit bis hin zum Sprachenlernen, bei dem historische, gesellschaftliche und politische Fragen der Sprachherkunftsländer angesprochen werden und reicht bis zur Gesundheitsbildung, die gesellschaftliche Grundlagen von Krankheiten und Gesundheit thematisiert sowie zur kulturellen Bildung, die politische Dimensionen von Kunst und Kultur bespricht. Politische Erwachsenenbildung bezieht überdies gesellschaftlich relevante Wissenschaftsverbreitung mit ein.“ (Filla: 2013, 11).
Ausblick(e)
Die Bedeutung volksbildnerischer Formate liegt laut Filla „in ihrer Originalität und Einzigartigkeit sowie in ihrem Bestreben, Bildungsaktivitäten systematisch mit kulturellen Aktivitäten, kollektiven Erfahrungen und Selbstorganisation zu verbinden“. (Filla: 2001, 26). Diese besonderen konstitutiven Merkmale erscheinen mir gegenwärtig als Wissenschafterin in der Qualifizierungsphase empirisch (auf)spürbar. Vielleicht können und müssen sich gewisse Lerninteressengruppen, wie sie derweil von der Autorin dieses Beitrags im Kontext Ihrer Habilitationsschrift selbst bezeichnet werden, nicht als Fachgruppe definieren, obwohl es selbst um 1900 herum in Wien unter Umständen auch weniger „wissenschaftlich“ orientierte Fachgruppen gab, wie beispielsweise die Freizeitfachgruppen (vgl. Filla: 2001, 408 f.). Doch zeichnen sich viele gegenwärtige Lerninteressengruppen u. a. durch dieselben Merkmale aus: Man denke nur an selbstinitiierte Vereinsbildungen, wie jene, die eine Sternwarte betreuen oder als Laien und Laiinnen ornithologische Beobachtungen für die Wissenschaft betreiben und in diesem Zusammenhang für breitere Gesellschaftsgruppen und Familien offen zugängliche Führungen und Vorträge halten. Genannt seien auch weitere Lerninteressengruppen, die sich im Sinne einer „Pädagogik der freien Lebenszeit“ (Opaschowski: 1996) real und/oder virtuell zusammenfinden, wie beispielsweise „Geo-Cacher“, wo es beim Suchen der Geo-Dosen nicht um bloßes Koordinatenlesen in digitalen Systemen geht, sondern unter Umständen auch um Umweltaktionen und (Umwelt)Bewusstseinsbildung in mehrfacher Hinsicht (vgl. Eichholzer: 2019). Und weiter lassen sich ganze Gemeinden in einer Region animieren und motivieren, an einem gemeinschaftlichen Lernfest teilzunehmen, wie beispielsweise das von der Plattform Kärnten/Koroška organisierte „1. Kärntner Lern@fest“ in Schloss Wernberg 2018 (vgl. Cennamo: 2019b). Ebenso ist die kulturelle Erwachsenenbildung samt handwerklich oder kulturell Tätigen sehr aktiv (speziell in Regionen), diese Menschen treffen sich regelmäßig und freiwillig gemeinschaftlich, indem sie − sich weiterbildend − einem (Lern)Interesse nachgehen (vgl. dazu bspw. das Projekt des Kärntner Bildungswerkes „An den Ufern der Drau“ in Cennamo 2019c).
Was hier eine komparativ-kasuistische Rückschau der Bildungsform Gespräch/Gesprächskreis im Rahmen vergangener Popular Education Beispielen ist, um die Wertigkeit (jener) anthropologischen Modelle aufzuzeigen, die vielleicht in „neoliberal times“ (Fitzsimons: 2017, 1) als (marxistisch?) ideologisch gelten und deshalb diskursiv in Vergessenheit geraten, an mancher Stelle (nicht zuletzt im Rahmen des ÖFEB-Kongresses) gar als emotional abgewertet, weil der linken Ideologie zugeschrieben und als solche daher verwerflich, wird von Seiten der Autorin – nicht zuletzt im Rahmen ihres Habilitationsvorhabens – eine gegenwärtige „freie Bildung“ oder „Bildung von unten“ wissenschaftlich, umfassender behandelt werden. Da wird auf empirisch begründete Erkenntnisse zu aktuellen Lernorten und gegenwärtigen Lernsettings sowie Lerninteressengemeinschaften im Kontext freier Bildung eingegangen. Diese – so die Vermutung − sind als Phänomene einer Bildung von unten noch eher unbeachtet und wissenschaftlich unterbelichtet geblieben – vielleicht, weil die (Bildungs-)Gesellschaft gegenwärtig auch nicht frei von (u. a. neoliberaler) Ideologie ist (vgl. Suoranta: 2010; Preston: 2006)? Ein Zeichen für die Verkennung und geringe Beachtung von Seiten der Wissenschaft und Bildungspolitik sehe ich gerade da, wo bundesweit selbstinitiierte, lerninteressengeleitete Bildungsveranstaltungen in statistischen Erhebungen als Sonderveranstaltungen und nicht als Bildungsveranstaltungen eingestuft werden und damit nicht als legitime und offiziell anerkannte lebensbegleitende Weiterbildung von Erwachsenen zählt (vgl. Zahlen und aber auch neue politische Entwicklungen beispielsweise in Kellner 2020, im Erscheinen).
In absoluter Konformität mit der Mäeutik bringt die Auseinandersetzung mit ursprünglichen erwachsenenpädagogischen Bildungsformen (hoffentlich) WissenschafterInnen, Lehrende und bildungspolitisch Verantwortliche an den Punkt, an dem wir selbst zur Geburt bereit sein sollten (vgl. Leigh: 2007): Mündliche Praxen, kritisches Denken, erwachsenengerechte Bildungsformen und lebens- und arbeitsnahe Lehrpläne, die u. U. mittels der lernenden Erwachsenen mitbestimmt werden dürfen, wie es in den didaktischen Prozessabläufen der Bildungsform Gespräch/Gesprächskreis vertreten wird, sollten weiterhin gepflegt, als erwachsenenpädagogisch wertvoll anerkannt und auch bildungspolitisch eingefordert werden. Es muss der pädagogische − gesellschaftspolitische, soziale und nicht zuletzt volkswirtschaftliche − Wert solcher gesprächsorientierten-reflexiven Bildungspraxen in Zeiten erhöhter sozialer Ungleichheit und Bildungsbenachteiligung nicht (hier) weiter erläutert werden. Im Sinne einer Steigerung der Weiterbildungsteilnahme könnte es wichtig sein, einerseits auf das besondere Phänomen der heutigen freien Bildung und der Bildung von unten zu schauen, um einerseits Erkenntnisse über selbstinitiierte Lerninteressengemeinschaften zu gewinnen (was in der eigenen Forschung behandelt wird) und andererseits, um statistisch weitgehend ausgeblendete Weiterbildungsteilnahmen im Hinblick auf Anerkennung und Durchlässigkeit von informell erworbenem Wissen von Erwachsenen angemessen sichtbar zu machen. //
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