„Wer baute das siebentorige Theben? / In den Büchern stehen die Namen von Königen. / Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? “
So beginnt Bertolt Brecht sein Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“. „Der junge Alexander eroberte Indien. / Er allein? / Cäsar schlug die Gallier. / Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“
Der Dichter schmiedet uns seine Verse aus all den Ungereimtheiten historischer Darstellungen, die nur die Namen der gekrönten Häupter nennen.
Diese Kritik an der Bildung gilt nicht allein dem Geschichtsunterricht, der Philosophie, der Theologie oder der Komparatistik. Auch die Naturwissenschaften spiegeln wider, welche Sichtweisen in der Gesellschaft gerade vorherrschen. Wäre anders zu erklären, weshalb etwa die Rassentheorien erst mit der Niederlage des Nazismus obsolet wurden?
Brechts Gedicht endet mit den Worten: „Alle zehn Jahre ein großer Mann. / Wer bezahlte die Spesen? / So viele Berichte. / So viele Fragen.“
Brecht behauptet nicht, was gelehrt werde sei ohnehin nichts als Lüge. Vielmehr zeigt er, dass erst durch Bildung der Zweifel an ihr möglich wird.
Brechts lesender Arbeiter hatte nicht im Gymnasium oder auf der Universität die Gelegenheit, vom jungen Alexander und von Caesar zu hören. Er ist einer von denen, die sich als Erwachsener Neues aneignen wollen. Manche mögen eine bessere Anstellung anstreben, andere den eigenen Neigungen jenseits ihres Berufes nachgehen, einige wiederum wollen einfach nur ihren Wissensdurst stillen. Der Mann in Brechts Gedicht möchte verstehen, wie die Machtverhältnisse funktionieren – oder besser gesagt, wie sie für solche wie ihn nicht funktionieren.
Zweifellos ist die Geschichte der Erwachsenenbildung auch mit jener der Arbeiterbewegung verknüpft. Das ist ein tieferer Grund für manche Standesdünkel und Vorurteile gegen sie. Längst hat aber die Erwachsenenbildung für alle Schichten an Bedeutung gewonnen, denn mittlerweile genügt kaum irgendwem das, was in der Jugend allein beigebracht wurde. Der Mensch in der digitalen Ära und in der Zeitenwende der Globalisierung hat permanent flexibel zu bleiben. Das lebenslange Lernen wird in beinah jeder Sonntagsrede gepriesen. Das Individuum im Neoliberalismus soll das, was es muss, gefälligst auch wollen.
Aber Erwachsenenbildung kann nicht nur der Optimierung des Einzelnen dienen, sondern ebenso den kritischen Blick schärfen. Brecht schrieb sein Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ 1935 im dänischen Exil. Die Hoffnung, den Nationalsozialismus überwinden zu können, sah er in wissbegierigen Menschen.
Damit ist nicht gemeint, was uns etwa Bernhard Schlink in seinem Roman „Der Vorleser“ glauben machen will. Schlink lässt hier die KZ-Schergin eine Analphabetin sein, als wäre sie nur als unschuldiges Opfer ihrer eigenen Unwissenheit zur Täterin geworden – als wären nicht viele der Massenmörder Akademiker gewesen. Medizinische Forscher, die kranke Kinder mordeten, studierte Architekten, die Gaskammern bauten, geniale Chemiker, die Giftgase entwickelten.
Aber Bildung kann das kritische Denken stärken, weshalb sie in autoritären Staaten eingeschränkt wird. In Afghanistan wird Frauen jeglicher Unterricht von den Taliban verwehrt. Bei aller Kritik an manchem, was zuweilen als Bildung daherkommt, ist sie jedenfalls jener ignoranten Borniertheit vorzuziehen, die alle Aufklärung verwirft, um die eigene Unbildung als Vorzug zu zelebrieren.
Angesichts rassistischer Verschwörungsmythen geht es darum, nicht nur fachliche Kenntnisse zu mehren, sondern in unserer Gesellschaft das Verständnis und das Einfühlungsvermögen für andere Sichtweisen und die Neugier auf weitere Lebenswelten zu stärken. Gefördert werden kann so ein Blick, der zur Differenzierung und zur Ambivalenz fähig ist. Wer jenem Hass entgegentreten will, der etwa moderner Forschung entgegenschlägt, muss vor allem versuchen, die Begeisterung für den Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis zu entfachen. Wir leben im Zeitalter der sozialen Medien. Das antisemitische Machwerk „Protokolle der Weisen von Zion“ wird über Apple.Inc und Amazon vertrieben. „The Great Reset“, das rassistische Geraune über den großen Umtausch, die Mär vom Plan einer sogenannten „Umvolkung“ im Auftrag finsterer Drahtzieher ist auf Twitter, Facebook und Threema ebenso gefragt wie das rechtsextreme Hirngespinst von QAnon oder die fixe Idee, die Pandemie und die Klimakatastrophe seien nichts als Täuschungsmanöver dunkler Kräfte.
Die Hetze gegen den vermeintlich Andersartigen, ob gegen alles Jüdische, gegen Muslime oder etwa gegen Flüchtlinge – wird zum Richtspruch und nicht selten zum Todesurteil. Wer ausgegrenzt wird, beginnt bald dem Bild, das von ihm gemacht wird, zu ähneln. Von wem es heißt, er würde stinken, über den wird über kurz oder lang die Nase gerümpft, bis ihm tatsächlich ein schlechter Geruch anhaftet. Das Kennzeichnende der Fake News, jener sogenannten ‚alternativen Fakten‘, ist nicht die Lüge an sich, sondern das Ziel, jeglichen Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit zu verwischen, um die Wirklichkeit umzulügen.
Geschürt wird das Misstrauen, ja, die Feindschaft gegen analytische Wissenschaft, gegen freie Kunst, gegen kritische Redaktionen, gegen die unabhängige Justiz, gegen den Rechtsstaat, gegen demokratische Wahlergebnisse, gegen die offene Gesellschaft und gegen das in Frieden vereinte Europa. Rechtsextreme Bewegungen gewinnen an Zulauf. Koalitionen mit rassistisch populistischen Parteien, die vor wenigen Jahren noch tabu gewesen wären, werden – ob in Ungarn, in Italien, in Polen, in Israel, in den USA oder in Österreich – zum internationalen Trend. Der Tyrann im Kreml negiert unterdessen die Existenz der ukrainischen Nation, um einen Vernichtungskrieg gegen sie zu führen und uns allen mit der nuklearen Auslöschung zu drohen.
In dieser Situation kann es nicht genügen, allein auf den Unterricht in der Schule zu setzen. Es braucht die Erwachsenenbildung für die Wähler und Wählerinnen gegen die ausgewachsene Irreführung von Massen. Die Bedeutung von redaktionellen Qualitätsmedien ist hier zentral. Aber stattdessen erleben wir, wie die heimische Regierung, Abermillionen in den Boulevard pumpt, ihre Inserate vornehmlich in Hetzblättern veröffentlicht, die Wiener Zeitung, das älteste Qualitätsblatt der Welt, liquidiert und sogar vor Übergriffen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht zurückschreckt. Unterdessen hören wir aus dem ORF, dass die „Blauen Seiten“ halbiert werden. Wie kann es zudem sein, dass just beim einmaligen Kultursender Ö1 gespart und FM4 verflacht werden soll?
Das Radio ist bekanntlich ein besonders eingängiges Medium. Es kann zur Propaganda missbraucht und zur Aufklärung genutzt werden. Manches, das gesendet wird, kann sich durchaus hören lassen und nun – in digitalen Zeiten – auch nachhören lassen. Staunten nicht alle und glich es nicht einem Wunder, als Natascha Kampusch nach Jahren im Verlies sich so gewählt auszudrücken wusste? Aber auf die Frage, wo sie denn all das, was sie von sich gab, gelernt hatte, gab sie zur Antwort, sie habe in jenem Kerker unentwegt Ö1 gehört. Es ist nicht notwendig, erst eingesperrt zu werden, um das Radio zu schätzen. Es ist unser aller Freiheit, die durch guten Journalismus verteidigt wird.
Deshalb gilt es, nicht zu sparen, wenn es um genaue Recherchen, um gute Reportagen und um kluge Features geht. Diese Arbeit ist notwendiger denn je. Wir dürfen darauf nicht verzichten. Jene, die wertvolle Sendungen für uns gestalten, werden viel zu wenig honoriert. Ihre Leistungen sind nicht ausreichend anerkannt. Ich lausche ihren Aufnahmen, die mich über den Äther erreichen; ich flaniere mit ihren Stimmen im Ohr durch die Stadt; ich folge ihren Ausführungen, wenn ich im Auto sitze oder trainiere.
Einige Jahre nach seinem Gedicht über den lesenden Arbeiter ersann Bert Brecht im dänischen Exil sein Werk „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“. Einer seiner schönsten Texte. Der weise Laotse muss seine Heimat verlassen: „Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich / Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu. / Und er gürtete den Schuh.“
Auf einem Ochsen, von einem jungen Buben geführt, kommt er an die Grenze, wo ihm ein Zöllner den Weg versperrt: „‚Kostbarkeiten zu verzollen?‘ – ‚Keine.‘ / Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach: ‚Er hat gelehrt.‘/ Und so war auch das erklärt.“
Der Zöllner will wissen, ob denn der Gelehrte auch irgendetwas herausgekriegt habe. Der Knabe antwortet: „Dass das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. / Du verstehst, das Harte unterliegt.“
Wer wen besiegt, interessiert auch den Zöllner. Er bittet Laotse, seine Lehren aufzuschreiben. Als Gegenleistung gibt es Unterkunft und Verpflegung. Nach sieben Tagen kann das Buch „Tao Te King“ dem Zöllner ausgehändigt werden.
Brecht las sein Werk Walter Benjamin vor, der eine Kopie davon nach Paris mitnahm. Hier zeigte er es auch Hannah Arendt. Sie schrieb: „Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gedicht in den Lagern, wurde von Mund zu Mund gereicht wie eine frohe Botschaft, die, weiß Gott, nirgends dringender benötigt wurde als auf diesen Strohsäcken der Hoffnungslosigkeit.“
Die Kunde, das Weiche triumphiere auf längere Sicht über die rohe Gewalt, wurde zur Losung des Widerstandes gegen die Nazis. Brechts Werk über Laotse schließt mit den Worten: „Aber rühmen wir nicht nur den Weisen / dessen Name auf dem Buche prangt! / Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. / Darum sei der Zöllner auch bedankt: / Er hat sie ihm abverlangt.“
Die Nominierten, die heute herbeigerufen wurden, sind die Zöllner und Zöllnerinnen des Wissens unserer Gegenwart. Ihre Arbeit ist heute wichtiger noch, als sie es jahrzehntelang ohnehin schon war, denn die Güte ist im Erdkreis wieder einmal schwächlich und die Bosheit nimmt an Kräften wieder einmal zu.
Sie, ja, Sie hier, meine Damen und Herren, verschaffen mit Ihren Aufzeichnungen dem Gehör, was mehr Aufmerksamkeit verdient. Sie fragen nach, wo Unerhörtes geschieht. Sie haken ein, wenn Mächtige uns mit Kundmachungen oder Presseerklärungen abspeisen wollen. Sie schenken Ihr Ohr und Ihre Stimme denjenigen, die sonst allzu gerne ausgeblendet werden. Sie lassen mich den Puls der Zeit vernehmen. Sie machen mich hellhörig.
Ich danke Ihnen und gratuliere herzlich. //
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