Können Kunst und Kultur für die Entwicklung einer leistungsstarken und humanistisch orientierten Zukunftsgesellschaft beitragen?1

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Martina Leibovici-Mühlberger 
Foto: ARGE Erziehungsberatung und Fortbildung GmbH

In letzter Zeit ist aus gegebenem Anlass viel vom „Humanismus“ die Rede. Und ihm möchte ich mich zuerst in einer Art Begriffsbestimmung zuwenden, denn die Frage nach der leistungsstarken Zukunftsgesellschaft, die wir uns alle hier – und nicht nur die Politik, welcher Couleur auch immer – wünschen, hängt in einem globalisierten Zeitalter mit extremer Interdependenz aller Regionen, in dem enge Nationalstaatlichkeit keine Lösungen mehr für übergreifende Themen bietet, äußerst eng mit dem Humanismus zusammen.

Der humanistische Mensch ist ein reflektierender, einer der das größere Ganze zu erkennen und in seine Entscheidungen einzubeziehen weiß, einer der über die Enge seiner situativen Befindlichkeit und seiner Triebstürme hinauszuwachsen vermag, der für überdauernde Werte zu stehen vermag, seinen momentanen persönlichen Vorteil für das bessere Wohl der Gemeinschaft zurück zu nehmen weiß, weil er eben den Überblick über das Ganze behalten kann. Er ist also der soziale Mensch, aber …

Was heißt schon sozial?

Der Frosch fängt die Mücke, der Vogel pickt den Wurm, der Wolf frisst das Lamm, der Löwe schlägt die Gazelle. Ein ewiger Kreislauf von Fressen und gefressen werden, die Schwachen trifft es zuerst. Man muss schnell, schlau, hart, brutal und ohne Skrupel sein, will man zu den Siegern gehören. Bekanntlich überleben nur die Stärksten – „survival of the fittest“, so heißt doch das Zauberwort. Hat nicht bereits der große Charles Darwin dieses Grundgesetz in seiner „Entstehung der Arten“ ganz ohne Sentimentalität ausformuliert?

Angesichts eines oberflächlichen Blicks auf die Evolution und die Abläufe der Fressfeindkette ist dies wohl mit Bedauern und entschuldigendem Achselzucken einfach so zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn sich Darwin jetzt gerade wieder in seinem Grab umdrehen sollte. Aber der gute Charles Darwin kann sich nicht wehren gegen Interpretation. Sein Satz des „survival of the fittest“ klingt ja irgendwie sehr eindeutig in unseren Ohren, zumindest fassen wir ihn so auf, und er scheint, wenn wir uns bei unserer eigenen Spezies umsehen, noch viel mehr an gewichtiger Wahrheit zu bekommen. Denn unsere Spezies ist nicht zimperlich! Das Ausleseprinzip der Konkurrenz und Verdrängung scheint uns tief eingeschrieben und Gott sei Dank stehen wir ganz oben in der Futterkette. Kraft unserer Kreativität und Reflexivität haben wir es geschafft, trotz vergleichsweise minderer anatomischer Ausstattung, uns die Erde Untertan zu machen und – nimmt man die warnenden Berichte von ExpertInnen der Harvard Universität zum Artensterben ernst – verdrängen und rotten systematisch alles, was uns in die Quere kommt aus, und das mit einer Geschwindigkeit von immerhin bis zu drei Arten in der Stunde. Und wenn wir einen noch tieferen Blick wagen sollten, so scheuen wir historisch gesehen auch vor der Vernichtung unserer eigenen Spezies, wenn wir nur die Ausrottung von Urbevölkerungen und unsere kriegerischen Auseinandersetzungen über alle Zeitalter hinweg Revue passieren lassen, selten zurück, und das bis in unsere aktuelle Gegenwart.

Die Wahrheit ist also bitter, meine Damen und Herren! Unsere Spezies ist äußerst egoistisch, wir sind, so müssen wir bekennen, bis in unser tiefstes Sein, bis in unser Mark egoistisch. Sogenannter Humanismus ist also nur eine dünne Patina. Aber wir können wohl nichts dafür, denn unser Egoismus geht sogar noch tiefer, indem er in unsere Gene hineinreicht. Richard Dawkins hat uns darüber in seinem Weltbestseller „Das egoistische GEN“ aufgeklärt. Seine These von der evolutionären Psychologie ist auf gut vorbereiteten Boden gefallen und hat die Entwicklung unserer postmodernen Gesellschaften stark beeinflusst. Denn er hat uns, zumindest scheinbar schlüssig, mit einem Grundgesetz der Evolution konfrontiert – und dem, auch wenn es hart anmutet, kann man sich doch wohl nicht entziehen!

Dawkins promovierte 1966 in Oxford im Fach Zoologie und hat mit seinem 1976 erschienen Buch über das egoistische Gen die evolutionäre Psychologie mitbegründet und daraus eine alles umspannende Kulturtheorie entwickelt. Die Botschaft ist einfach und auf den ersten Blick schlüssig und so attraktiv, weil sie uns selber jeder Verantwortung zu entheben scheint: „Du bist nichts, deine Gene sind alles!“ Deine Person ist gleichsam nur ein Vehikel für deine sich rastlos und rücksichtslos durchsetzen wollenden Gene. Das ist unsere Bestimmung, und da ist kein Platz für irgendwelche sozialen Überlegungen! Wir unterliegen allesamt dem unheimlichen, aber gleichzeitig unvermeidbaren Primat unserer Gene! Sie sind es, die unser Verhalten steuern und sie kennen nur ein Ziel: sich gegen jede Konkurrenz durchzusetzen und zu vermehren! Da kann man einfach nichts dafür! Ist so! Tut uns leid, aber unveränderbar! Eben unsere Natur! Alle Kultur, Moral oder Ethik, jede Phantasie eines freien Willens, jede Vorgabe von Humanismus wird hier maximal zu einer raffinierten Umwegstrategie, um den eigenen Genen doch zur Durchsetzung zu dienen. Wir sind also Marionetten an den seidenen Doppelhelixfäden unserer Gene, unsere Biographie bei genauer Betrachtung das Skript einer grausamen Durchsetzungsbemühung um Weitergabe unserer Gene! Bemühen Sie sich also hier nicht mit ihren Initiativen, Kursen, Angeboten, das hat also ohnehin keinen Sinn und gilt maximal als Beschäftigungstherapie.

Was heißt hier also schon sozial?

Eigentlich können wir hier auch schon Schluss machen, alle, die wir hier sitzen! Die Frage lässt sich ergo mit den Erkenntnissen evolutionärer Psychologie klar beantworten: Im besten Fall ist hier ein Haufen romantischer Schwärmer zusammengekommen – Dinosaurier, die wohl ihr knapp vor der Tür stehendes Aussterben feiern.

Und was heißt dies für unsere Kinder, die Jungen, die hinter uns nachkommen und die doch die Träger unserer Gene sind?

Jener Topmanager, der kürzlich in Erwin Wagenhofers so erschütternden Film „Alphabet“ zu den Bildungsgrundsätzen der Welt für unsere Kinder referiert, hat demnach eindeutig Recht, wenn er, egal mit welcher Methodik, den zukünftigen Spitzenmanager als durchsetzungsfähig fordert, und sonst nichts. Einfach durchsetzen und die Konkurrenz beseitigen ist die Devise. Egal wie, egal wie, beteuert er, immer wieder – es gehe um Wettbewerb und Durchsetzung gegenüber allen und jedem! Vielleicht sollten sie dies ins Programm nehmen und anbieten: „Wie beseitige ich jede Konkurrenz?“

Diese generell als unausweichliches Grundgesetz akzeptierte Ökonomie der Gene zieht also in der Konsequenz eine Verkürzung des gesamten Lebens auf die Ökonomie nach sich! Die Biomaschine Mensch lässt sich als eine Genbestie enttarnen, eine Wahrheit, der wir ins Gesicht zu blicken haben, so die Forderung, – eine Wahrheit, die sich folgerichtig in unseren Gesellschaftsdaten widerspiegelt, vor allem seit wir sie als unsere Realität erkannt haben! Erinnern wir uns: „Nur die Fittesten überleben!“, wen wundert es also, wenn Sie sich das größte Stück vom Kuchen sichern wollen? Betrachtet man dies nüchtern, zum Beispiel anhand der Daten der USA – denn da tut es nicht so weh, da uns der große Teich und gleichzeitig viele Argumente trennen –, so müssen wir feststellen, dass ein Prozent der reichsten Amerikaner vor rund 30 Jahren über neun Prozent der amerikanischen Wirtschaftsleistung verfügt hat, während 30 Jahre später dieses eine Prozent heute bereits über 24 Prozent der US-Wirtschaftsleistung verfügt. Im Gegenzug hat sich die Zahl der „working poor“ von 12 Prozent auf 40 Prozent erhöht. Das spricht doch für sich!

Was heißt hier also sozial? Was heißt hier humanistisch?

Die Antwort darauf ist noch härter. Nicht nur ein psychoromantischer Schwärmer ist er, der soziale Mensch, sondern dumm, gefährlich dumm sogar, denn es geht um sein eigenes Überleben, zuallererst um das wirtschaftliche. Gott sei Dank scheinen die heutigen Jugendlichen, die wir heute gleich bis zu ihrem 29. Lebensjahr als solche ansprechen, dies bereits verstanden zu haben, wenn sie mit blanker Nonchalance in der letzten vorgestellten Jugendwertestudie offenherzig bekennen, sogenannte Sekundärtugenden nur mehr utilitaristisch leben zu wollen. Ich bin verbindlich, wenn und solange es mir nützt, und mit Treue, Loyalität und Durchhaltevermögen halte ich es ebenso, ist die Botschaft. Selbstoptimierung meiner Person, schlaue Positionierung meines Portfolios am Markt, sei es im privaten Bereich oder Wirtschaftsleben, allein das verspricht Zukunft.

Demnach haben auch alle jene Eltern Recht, die auf aufwändige Frühförderung schwören, angefangen vom intrauterinen Englischbeschallungskurs bis hin zu Rhetorikseminaren für Fünfjährige. Akademische Frühförderung, koste es was es wolle und frühzeitige Einführung in eine Kultur der Ellbogenpolitik und Selbstdarstellung. Nur bitte keine Gelegenheit auslassen, um sich im Morgenkreis im Kindergarten erfolgreich herauszuheben. Der Kampf um die Poleposition im Rattenrennen um die besten Plätze der Zukunft wird heute eröffnet, sobald ein positiver Schwangerschaftstest meine zu erwartende Existenz am noch fernen Horizont ankündigt.

Eine kalte Welt ist es, an der wir hier bauen!

Mitgefühl, Anteilnahme, Gemeinschaftsinteressen, Zusammenarbeit vor der ICH-AG haben da wenig Platz. Ein paar psychoromantische Schwärmer, ein paar Dumme, ein paar zum Aussterben Verurteilte! Man sollte sich tunlichst von ihnen fernhalten und seine Kinder vor ihrem Einfluss und Vorbild schützen, jetzt, wo wir die harte Wahrheit über unsere Natur als Genbestien kennen.

Doch die Wahrheit ist eine viel missbrauchte Dame! Reklamiert als die höchste unhinterfragbare Instanz in jeder Diskussion und scheinbar logisch deduktiv bewiesen, erweist sie sich oftmals dennoch nur als eine Konvention und nicht als Grundsatz unserer Natur, nur als ein mächtiges Konstrukt von uns innewohnenden Überzeugungen und Glaubensgrundsätzen.

Spricht man mit Daniel Dorling von der Universität Sheffield zum Thema einer Gesellschaftsentwicklung mit scheinbar unvermeidbaren raubtierkapitalistischen Zügen, so findet man in ihm einen profunden Denker und Kritiker der Unvermeidbarkeit dieser Entwicklungen, der in seinem Buch „Injustice: Why Social Inequality Persists“ die fünf Überzeugungen („beliefs“) identifiziert, die uns als Werte vermittelt werden und die unsere Gesellschaft modellieren.

Es sind dies fünf Glaubensüberzeugungen darüber, wie die Welt funktioniert, gehandelt im Rang von Grundwahrheiten, die ihre direkte Ableitung aus diesem Weltbild des egoistischen Gens finden und allgemein einfach nicht hinterfragt werden, und das, obwohl sie einfach nicht wahr sind. Denn die Theorie des „egoistischen Gens“, so einleuchtend sie durch ihre Einfachheit scheint, und so charmant sie durch die Verantwortungsbefreiung anmutet, in deren Gefolge ich mich als fremdbestimmte, gengesteuerte Biomaschine für mein Handeln entschuldigt sehen darf, hat bereits für jedes Kind leicht nachvollziehbare schwere Mängel.

Der heute bereits 86 Jahre alte amerikanische Evolutionsbiologe und Mathematiker Richard Lewontin aus Harvard hat die Schwäche der Theorie vom „egoistischen Gen“ mit einem sehr einfachen Beispiel, das jedem Volksschüler einleuchtet, verdeutlicht.

Nehmen Sie einen Sack, der voll Weizenkörner ist. Die eine Hälfte des Sacks sät der Bauer auf einem sehr fruchtbaren Acker aus, der gut gedüngt und bewässert ist. Die andere Hälfte verstreut er auf einem kargen Acker.

Wie, so lautet die Frage, werden sich die Weizenkörner entwickeln?

Auf dem fruchtbaren Feld werden sich nach einiger Zeit Weizenähren unterschiedlicher Größe zeigen. Manche werden besser geraten sein als andere. Das ist normal, denn obwohl die Umweltbedingungen, in diesem Fall, die Fruchtbarkeit des Bodens, Düngung und Bewässerung gleich sind, so sind die Körner doch genetisch unterschiedlich. Manche der Ähren werden also von sich aus prächtiger sein als andere!

Und wie sieht das Bild auf dem kargen Acker aus?

Genau gleich. Auch hier werden besser gediehene Pflanzen neben weniger gut entwickelten Weizenähren vorzufinden sein. Denn auch hier, auf dem kargen Acker machen sich genetische Unterschiede deutlich!

Auf dem ersten Feld sind also die Unterschiede der Ähren untereinander zu 100 Prozent genetisch anzunehmen. Dies gilt für das ersten genauso wie für das zweite Feld! Auch hier sind die Unterschiede der Weizenähren untereinander zu 100 Prozent genetisch anzunehmen.

Doch, was geschieht, wenn man die Ähren des ersten Felds, des fruchtbaren mit jenen des zweiten Felds, des kargen vergleicht?

Die Weizenähren des ersten Feldes werden allesamt besser gediehen sein als jene des zweiten kargen Felds! Doch dieser Unterschied lässt sich wohl nicht auf die Genetik zurückführen, denn die Körner waren zu Beginn alle gemeinsam in einem Sack!

Es ist die Umwelt, in diesem Beispiel Bodenqualität, Düngung und Bewässerung, im Beispiel unserer menschlichen Gesellschaft die Art und Weise, wie wir unser Sozialleben organisieren und Ressourcen verteilen, wodurch sich erst die Genexpression und damit unser Erscheinungsbild und das realisierte Potenzial entscheiden.

Wir sind also eindeutig mehr als nur willenlose Gefäße unserer uns steuernden Gene, weitaus mehr als Genbestien mit möglichst attraktiver Verpackung, darauf ausgerichtet alles und jeden um uns herum zu verdrängen. Das Soziale, das Humanistische ist uns als Humanmerkmal eingeschrieben, ist erst jener Kitt, der uns als Einzelne und als Menschheit zum größeren Ganzen und unseres Gesamtüberlebens zusammenfügt. Und darin braucht es Übung!

Das „Zoon Politikon“ als das uns Aristoteles bereits vor mehr als 2300 Jahren erkannt hat, ist, bis in sein Neurotransmittersystem als Gemeinschaftswesen angelegt. In einer Welt globaler Interdependenz ist dies zu erkennen so wesentlich wie noch nie. Unsere eigentliche Natur als solidarisches Sozialwesen zu realisieren und zu leben ist, angesichts jener eng miteinander verbundenen, globalen Regelkreise nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene, sondern, wenn wir den Gesamtraum und die Umweltsituation unseres Globus betrachten, noch nie so bedeutend, ja existentiell gewesen wie heute.

Und welche Rolle spielen Kunst und Kultur in dieser komplexen Zeit, in der wir uns schon heute befinden und deren Kompass in Richtung beträchtlicher Anforderungen für das Überleben dieses Gesamtökosystems unseres Globus ausgerichtet ist? Jetzt geht es um das sprichwörtliche Eingemachte! Wir segeln unruhigen Wassern entgegen, viele neue komplexe Anforderungen warten auf uns. Anforderungen, die wir nur gemeinsam als Homo socialis bewältigen werden können, für die wir aber auch zündende Ideen brauchen! Neue Einfälle, solche, die kollaborativ aus mehreren Wissensgebieten heraus gemeinsam entwickelt werden, sind mehr als gefragt!

Ich spüre jetzt großes Bangen, denn: „Den Boten der schlechten Nachricht lieben wir nicht!“ hieß ein Sprichwort der griechischen Antike – und obwohl bereits der berühmte Tragödiendichter Sophokles die Tradition, den Überbringer schlechter Nachrichten von der nächstbesten Klippe zu stoßen als Unsitte brandmarkte, hat die spontane Entladung von Emotion angesichts unangenehmer Mitteilungen zahlreichen Boten das Leben gekostet. Nun, seit Sophokles sind immerhin bereits rund zweieinhalb Jahrtausende vergangen, darauf verlasse ich mich.

Ich hoffe, Sie werden mit mir also humaner verfahren! Denn auch ich bin ein Überbringer einer schlechten Nachricht, sogar einer sehr schlechten. Man könnte durchwegs auch sagen, einer existentiell schlechten Nachricht. Sie lautet: An uns ist nicht viel dran!

Aus biomechanischen Überlegungen heraus sind wir nahezu als ein Disaster anzusehen, ein evolutionsbiologischer Konkursfall würde es noch genauer benennen, wenn wir uns mit dieser uns mitgegebenen körperlichen Ausrüstung in freier Wildbahn bewähren müssten. Da brauchen sie jetzt gar nicht an Extremgebiete wie die Sahara oder die Arktis zu denken. Da reichen schon unsere Alpen oder sogar das Marchfeld. Jeder Fuchs da draußen, jede Bachforelle, ja jede jetzt unter ihrer Borke schlummernde Assel – entschuldigen Sie den harten Blick auf die Wahrheit über uns als Spezies – ist uns in ihrem Habitat überlegen.

Eine Bestandsaufnahme ist mehr als ernüchternd. Ein schützendes, der Thermoisolation dienendes Fell ist uns längst ausgefallen, und den kümmerlichen Resten auf Brust und Bein wird neuerdings sogar auch noch beim männlichen Geschlecht im Zuge einer überspannten Kosmetikindustrie mit allen Mitteln und Dienstleistungen, die Einkommen versprechen, zu Leibe gerückt. Scharfe Krallen, die zu einer echten Verteidigung geeignet wären, wachsen uns nicht und das, was Nagelstudios fertigbringen, ist eher unter dem Stichwort dekorative Lebensbehinderung abzulegen. Als Läufer sind wir mehr als durchschnittlich, daran ändern auch Doping und das Erreichen von ein paar Zehntelsekunden weniger bei den Olympischen Spielen nichts. Reißzähne haken wir gleich einmal ab, ebenso das Fliegen als Angriffs- oder Fluchtmechanismus. Auch mit allem anderen, was Ihnen oder mir noch einfallen könnte, um es als Überlebensstrategie in einer herausfordernden Umwelt in die Waagschale zu bringen, sind wir, wenn wir uns unter unseren nächsten Verwandten und allen Tierarten umsehen, maximal am untersten Rand anzusiedeln.

Und damit sind wir, was das Thema Überleben betrifft, genau genommen eigentlich indiskutabel.

Unsere Hardware ist also unleugbar wenig bestechend. Sie können an dieser Stelle – und werden dies hoffentlich auch mit einem gewissen Trotz in der Stimme tun – einwenden, dass wir aber dennoch alle hier sind, nicht gefressen, nicht erfroren, sondern mit offenem Sinn, und Sie haben Recht. Ja, Sie haben Recht! Wir sind alle da und stehen als Homo sapiens sapiens nicht auf der Liste des WWF für aussterbende Arten, ganz im Gegenteil.

Dennoch habe ich mit meiner Behauptung, dass an unserer Hardware nicht viel dran ist, und sie uns in freier Wildbahn den überwiegenden Teil unserer Entwicklungsgeschichte über nicht Jäger, sondern Gejagter, also Beute hat sein lassen, auch recht. Dazwischen liegt das Mysterium des Homo sapiens sapiens, das dafür verantwortlich ist, dass eine biomechanisch dergestalt unterdurchschnittliche Konstruktion, die von vielem ein bisserl was, von manchem ein wenig und von dem meisten gar nichts im Repertoire hat, die eben nichts Spezielles wirklich gut kann und von der man maximal sagen könnte, dass das Spezielle am Menschen sein Unspeziell-Sein ist, so erfolgreich sein kann, wie wir es sind.

Die Frage lautet: Was also ist es, das uns als Spezies zu einem globalen Erfolgskonzept aufsteigen hat
lassen?

Es ist nicht die Entwicklung von Sprache, mit der wir kommunizieren, denn: Tiere wie Vögel, Wale, Delphine und sogar Bienen verfügen auch über ein komplexes Signalsystem.

Es ist nicht der Gebrauch von Werkzeugen, denn: auch Schimpansen können Werkzeuge gebrauchen.

Es ist nicht die Fähigkeit Gesellschaften zu bilden, denn: auch Ameisen oder Bienen leben in Gesellschaften.

Es ist nicht die Fähigkeit andere zu täuschen, auch wenn manche das meinen, denn: das tun auch Affen oder aber Krähen.

Es ist nicht unser aufrechter Gang, nicht der entgegengestellte Daumen, und auch nicht – und jetzt dürfen Sie alle wirklich aufatmen – die Monogamie, denn: das alles finden wir bei der einen oder anderen Spezies genauso, und keine hat es so weit gebracht, wie wir.

Es ist unsere Kreativität und als ihr großer Ausdruck, unsere Kunst und unser Kulturschaffen, das uns zu Menschen – und global so erfolgreich – gemacht hat.

Schöpferische Gehirne – man könnte auch sagen innovative Gehirne – sind von der Evolution durch natürliche Selektion einfach favorisiert worden. Kreative Gehirne waren auf der Suche nach Nahrung, geschütztem Wohnraum oder im Paarungswettstreit sowie in der Aufzucht von Nachkommen einfach erfolgreicher.

Neurobiologie und Evolutionsbiologie müssen in ihrer Komplexität als Hand in Hand gehend verstanden werden. Erst dabei eröffnet sich dem staunenden Auge die unfassbare Bedeutung der kreativen Potenz unserer Spezies als fundamentalsten Driver unserer so erfolgreichen Durchsetzung auf diesem Globus. Ohne Fähigkeit zur Kreativität wären wir längst ausgestorben und nur ein unbedeutender Fehlversuch der Evolution, ein dürrer Seitenzweig, mit anderen Worten: ein evolutionärer Abschreibposten, nach dem heute kein Hahn mehr krähen würde.

Wenn wir das Mysterium des kreativen Prozesses in seine Bestandteile zu zerlegen versuchen, um seine Voraussetzungen zu verstehen, so finden wir drei wesentliche Leistungen, exekutive Funktionen, zu denen unser Gehirn fähig ist.

Die erste Funktion ist die Perspektivenübernahme, die Fähigkeit verschiedene Gesichtspunkte in Erwägung zu ziehen. Kraft unserer Spiegelneurone vermögen wir uns in andere hinein zu versetzen, nachzuspüren, nachzufühlen, können uns bewusst werden und darüber nachdenken, dass andere Gedanken haben können, die von unseren abweichen.

Die zweite Funktion ist jene der Repräsentation, nämlich die Fähigkeit, über Dinge nachzudenken, die uns nicht direkt vor Augen stehen, die zu dem Zeitpunkt, an dem wir über sie nachdenken, nur virtuell, also nicht gegenständlich sind.

Die dritte bahnbrechende Kompetenz ist jene der Neuorganisation, die Fähigkeit zu kombinieren, Dinge neu anzuordnen, im Hinblick auf einen gegebenen Kontext oder eine Anforderung mit Optionen frei zu spielen. Das tun KünstlerInnen – denken Sie zum Beispiel an die Fauves und die ersten Kritiken, die sie für ihre neuartige Form der Malerei erhalten haben – ebenso wie Erfinder oder begnadete Wissenschafter.

Dies ist der Schritt hinaus in neues Land. Der Schritt in den Bereich von Kunst und Kultur, der Schaffung eines beeindruckenden, berührenden, begnadeten Kunstwerks oder einer technischen, wirtschaftlichen, medizinischen oder sonstigen wissenschaftlichen Innovation. Neurobiologisch hat beides ein und dieselbe Wurzel und es wird Ihnen an dieser Stelle vielleicht auch deutlich, warum wir bei zahlreichen großen Wissenschaftlern oder Staatsmännern oder auch bedeutenden Erfindern gleichzeitig eine hohe Kunst- und Kulturaffinität finden können.

Nahezu unfassbar, ja den normalen Menschen mit Ehrfurcht erfüllend, erschließt sich die Bedeutung des kreativen Prozesses für uns als einzelne Menschen sowie für unser weiteres Überleben als Spezies, wenn wir noch tiefer vordringen und uns die neurobiologischen Mechanismen des kreativen Prozesses zu vergegenwärtigen suchen.

Die Komplexität, mit der unser Gehirn Kreativität und künstlerische Prozesse hervorbringt, führt zu ehrfurchtsvollem Staunen.

Die Evolution scherzt nicht. Wenn sie derartig viel Entwicklungsarbeit und Komplexität in die Schaffung einer Funktion setzt, so lässt sich getrost davon ausgehen, dass es sich hier um eine fundamental wichtige Sache für das Überleben dieser Art handelt.

Jene, die mich kennen, wissen um meinen mäandrischen Weg von der Fachärztin und Psychotherapeutin, der mich über meine Arbeit in der „Working Group of the Quality of Childhood“ im EU-Parlament, unterschiedliche Gremien bis zur Etablierung einer Ausbildungseinrichtung der Erwachsenenbildung und der Autorenschaft gesellschaftskritischer Schriften geführt hat, und sie wissen, dass meine Sorge unseren Kindern gilt und meine mir innewohnende Mission damit der Zukunftsgesellschaft gewidmet ist. Denn unsere Kinder werden die Zukunftsgesellschaft sein. In der Art, wie wir sie begleiten, was wir ihnen an Aufwachsbedingungen und an Potenzialentfaltung ermöglichen, formen wir heute als Ältere die Zukunftsgesellschaft mit und haben sie auch mit zu verantworten. Es ist das Privileg und gleichzeitig die Verantwortung der älteren Generation, Kraft ihrer Erfahrung und ihrer ehrlichen selbstkritischen Reflexion die Kinder zu erziehen, wobei ich an dieser Stelle den viel schöneren englischen Begriff der „education“, der Führung und Begleitung ins Spiel bringen möchte, der diesen Aspekt und das Gewicht der Verantwortung noch viel deutlicher zu unterstreichen vermag.

Was also können Kunst und Kultur für die Entwicklung einer leistungsstarken und humanistisch orientierten positiven Zukunftsgesellschaft beitragen? Die Antwort ist einfach, ziehen wir die vorhergehenden Ausführungen in Betracht. Das kreative Potenzial unserer Kinder, seine Erhaltung und Förderung bis zu seiner Blüte ist der wichtigste Schlüssel, den wir in der Hand halten, um eine erfolgreiche Zukunft – und stellen wir manche auf uns zukommende globale Herausforderungen mit in Rechnung, sogar das weitere Bestehen unserer Spezies – zu gewährleisten. Nichts ist wichtiger, als unsere Kinder als allererstes Fundament zu lieben, und ihrem kreativen Potenzial zur Entfaltung zu verhelfen, ihnen eine qualitativ hochwertige, gelebte Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur zu schenken. Schon der große Albert Einstein hat salopp und richtig angemerkt, dass Kreativität wichtiger ist als Wissen.

Kreativität ist eine Schlüsselkompetenz in einer sich rapide verändernden Umwelt, wie der unseren, in einem zukünftigen Arbeitsmarkt, dessen zentrale Anforderung darin besteht – wie sich alle Experten einig sind – über „creativ problem solving skills“ zu verfügen. Nur diese Menschen verfügen über die Fähigkeit, kollaborativ neue und immer komplexere Anforderungen zu bewältigen, reflexives Denken zu entwickeln, Führung in einem rangierenden, nach situativem Fachwissen gegliederten Modus zu übernehmen.

Sorgen wir dafür, dass das unseren Kindern von der Natur mitgegebene Grundtalent der Kreativität – über das, wie sich heute messen lässt, 98Prozent noch beim Eintritt in das formale Erziehungssystem verfügen – nicht wie jetzt auf kümmerliche drei Prozent beim Austritt aus dem Akademisierungssumpf absinkt. Wir können uns dies in der Zukunft nicht mehr leisten. Der Schlüssel liegt in der Förderung von guter Kunst und Kulturerziehung unserer Kinder.

Lassen Sie mich die bedeutenden Auswirkungen, welche die Beschäftigung mit Kunst und Kultur für den einzelnen Menschen zu entfalten vermag, noch ein wenig genauer beschreiben. Mit Bezug auf ihr Angebot als Volkshochschule bieten Sie mit der Belegung eines Kurses weit mehr an, als bloß Inhalte. So etwa

  • die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls, Sozialempfindens (Sozialverhalten),
  • die Regulation der eigenen Stimmungen (Selbstmanagement),
  • Bewusstheit über eigene Stimmungen (Selbstbewusstsein),
  • die Fähigkeit zur Selbstberuhigung (Realitätsbewältigung),
  • die Förderung von Gedächtnisprozessen,
  • die Förderung von sozio-emotionaler und kognitiver Kompetenz,
  • eine Steigerung der Immunabwehr.

Das ist eine ganze Menge. Der Durchschnittsmensch würde das nicht vermuten, wenn er/sie zur Einschreibung für eine Aktivität, die ihn/sie salopp gesprochen, einfach nur interessiert kommt!

Nun, in einer Zeit, die von der modernen Soziologie als Phase der Entgemeinschaftung und Vergesellschaftung angesprochen wird, ist eine erweiterte Musikerziehung ein besseres Antidot als jedes Reparatursystem einer atompilzartig angewachsenen teuren Helferindustrie, die immer zu spät kommt! Alleine schon deswegen, ich gebe es zu, aus schnöden monetären Überlegungen, stehen Musikschulen und Kunsterziehungseinrichtungen im Zeitalter des „narzisstischen Individualismus“, der ICH-AG’s mit allen ihren schrecklichen Konsequenzen, ganz oben auf meinem persönlichen Wunschzettel. Denn diese Gesellschaftsentwicklung der narzisstischen Individualisierung – und ich darf hier in einem Sidestep anmerken, dass sich die Rate narzisstischer Persönlichkeitsstörungen bereits verdreifacht hat – tut uns als moderne Technologiegesellschaft gar nicht gut und ist, wenn 38 Prozent der europäischen Bevölkerung, wie dies der Fall ist, bereits irgendwann im Laufe des Lebens unter einer klinisch relevanten psychischen Störung leiden, auch schrecklich teuer! Schließlich handelt es sich hier in europäischen Dimensionen gedacht immerhin um rund 165 Millionen betroffene Menschen und das sind nur jene, die Psychopharmaka verschrieben bekommen. Die Dunkelziffer der einfach „Unzufriedenen und Unglücklichen“ ist hierbei vernachlässigt. Stellen Sie sich das Bergmassiv an Medikamentenpackungen vor, das diese Anzahl von Menschen jedes Jahr konsumiert. Sie brauchen einen Bergführer in der Liga eines Luis Trenker, um hier unbeschadet zu einer Überquerung anzusetzen.

Unser kreatives Potenzial, unsere Innovationsfähigkeit ist ja doch – und dies habe ich versucht hier anschaulich zu machen – jener Fixpunkt, über den wir das Himmelsgewölbe unserer Existenz als Spezies nachhaltig und dauerhaft zu sichern vermögen.

Und so komme ich zu meinem Schlussappel an Sie alle.

Investieren Sie in einen qualitativ hochwertigen, allen zugänglichen, stabilen Zugang zu Kunst und Kultur für die Menschen unserer Region, als Volksbildung für alle, die sie in unserem Bundesgebiet erreichen können, vor allem für unsere Kinder!

Ich kann Ihnen hier nicht versprechen, dass wir, wenn wir wirklich allen unseren Kindern eine qualitätsvolle Kunst- und Kulturerziehung zukommen lassen, lauter Mozarts, Schieles oder Klimts oder Madersbergers, Kaplans, Landsteiners, Ressels oder Thonets und wie unsere großen kreativen Künstler, Erfinder oder Entdecker geheißen haben, hervorbringen werden, aber ein paar werden schon dabei sein, deren Kreativität sich in irgendeinem Feld zu einer, wie man sagt, „Big C creativity“ emporschwingen wird. Und so sehr es mich gefreut und stolz gemacht hat, im Besitz eines österreichischen Passes zu sein, als mir vor einiger Zeit auf dem Weg vom Flughafen zu meinem Hotel ein New Yorker Taxifahrer Mozart vorgespielt hat und mich darüber aufklären wollte, dass dieser „Mr. Mozart“ ein wirklich begnadeter Mensch – „a very special person“– gewesen sein muss, dessen Musik ich kennen lernen sollte, weil sie einen wirklich erhebt, sosehr sind jene vielen tausend Stillen, jene, die eine „small c creativity“ oder auch „daily life creativity“ durch die Darstellung mit Kunst und Kulturunterricht entwickeln, das eigentliche Rückgrat einer geglückten Zukunft, denn sie sind jene, die innovative Lösungsstrategien für ihren jeweiligen Lebenskontext mit seinen Anforderungen finden werden.

In diesem Sinn darf ich Ihnen die Wichtigkeit guter Kunst und Kulturerziehung aus tiefstem Herzen an Ihr Herz legen! //

1   Rede zur Herbsttagung des Verbandes Niederösterreichischer Volkshochschulen am 9. Oktober 2015 im Waldlandhof bei Zwettl.

Leibovici-Mühlberger, Martina (2015): Können Kunst und Kultur für die Entwicklung einer leistungsstarken und humanistisch orientierten Zukunftsgesellschaft beitragen? In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Dezember 2015, Heft 257/66. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien

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