Erwachsenenbildung und Zivilgesellschaft.
Zur Rekonstruktion einer komplizierten politischen Perspektive

Die Frage nach den historischen Ressourcen des Zivilen in der Moderne ist schon deshalb relevant, weil die jüngere sozial- und politikwissenschaftliche Debatte um die Funktion der „civil society“1 den Blick auf die lange und durchaus widersprüchliche Geschichte dieses Konzepts verstellen könnte. Wie zivile Gesellschaften normativ und empirisch aussehen sollten, ist keineswegs erst ein Problem des politikwissenschaftlichen Streites um Schumpeters elitäres Demokratiemodell2 oder der vorwiegend philosophisch geführten Auseinandersetzung zwischen „liberalistischen“ und „kommunitaristischen“ Positionen einer modernen Demokratietheorie.3 Diese Frage gehört zu den politischen Kernproblemen bürgerlicher Gesellschaften seit ihren Anfängen, oder präziser: Sie betrifft die Identität eben jenes Phänomens „bürgerliche Gesellschaft“ selbst.

Die politisch-theoretische Entscheidung nämlich, dass jenseits staatlicher Regelungen Lebensformen der BürgerInnen moderner Gesellschaften eine eigene Bedeutung besitzen könnten, beschäftigt systematisch bereits Adam Ferguson (1723–1816), der auch den Begriff „civil society“ prägt.4 Ferguson bereitet aber mit dieser Differenzierung der Idee politischen Zusammenlebens in der Moderne zugleich eine Einengung vor: die Identifizierung von „civil society“ mit „economic society“. Diese Gleichsetzung wird auf subtile Weise in der nicht nur für die deutsche Debatte folgenreichen Auseinandersetzung des frühen Marx mit Hegels5 Konzept der „bürgerlichen Gesellschaft“6 eine zentrale Rolle spielen.

Für die Erwachsenenbildung ist dieser Entstehungskontext nur indirekt von Bedeutung7 – auch wenn sich zeigen lässt, dass bestimmte Problemkonstellationen immer wieder auf diesen „Marx-Hegel-Konflikt“ verweisen. In den folgenden Überlegungen soll an ausgewählten thematischen Beispielen gezeigt werden, wie sich die Beziehung von Erwachsenenbildung und Zivilgesellschaft im Laufe der vergangenen 100 Jahre gestaltet und welche Entwicklungen dabei beobachtet werden können. Oft ist die Berührung von Bildung und Zivilität nur gleichsam „implizit“ und nicht programmatisch. Die Prognose, dass die wechselseitige Beeinflussung eher komplizierter geworden ist, erscheint wenig riskant. Im ersten Teil der Überlegungen steht deshalb eine vergessene Volksbildungsutopie im Mittelpunkt, die die Bedeutung der Verbindung von Arbeit, Bildung und Demokratie für zivile Gesellschaften zum Gegenstand hat. Im zweiten Teil sind Öffentlichkeit, Gemeinsinn und Gegenöffentlichkeit das Thema. Der dritte Teil konzentriert sich auf aktuelle Dystopien der Zivilität, die eine beträchtliche Herausforderung für die Erwachsenenbildung darstellen. Der Schlussteil befasst sich mit dem Klassiker eines kritischen Konzepts der „Zivilgesellschaft“, mit Antonio Gramscis Idee der „società civile“, und mit der ernsthaften Frage, ob seine faszinierende Bildungsutopie noch Anknüpfungspunkte in der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit findet.

1. Verlorene Utopien: Die Verbindung von Arbeit, Bildung und Demokratie als Ausdruck der Zivilität

1.1 Die Volksbildungskonzepte der 1920er-Jahre

Mit dem Thema politische Utopien und Erwachsenenbildung verbindet sich zunächst die spontane Erinnerung an die großen linksrepublikanischen Volksbildungsprojekte der Weimarer Republik, nämlich die vor allem von den Ideen Gustav Radbruchs beeinflussten praktischen Ansätze in der sogenannten „Leipziger Richtung der Volksbildung“, die auch in Berlin, Essen, Dresden oder Hannover Spuren hinterlassen haben.8  Radbruch, eigentlich Staatsrechtler an der Kieler Universität, hatte seine Schüler in der postrevolutionären Situation der frühen 1920er-Jahre nicht nur zu reformerischen Rechtsalternativen ermutigt, sondern auch mit einem erstaunlichen „Bildungsprojekt“ konfrontiert. Seine „Kulturlehre des Sozialismus“ (1927) enthält nämlich die durchaus provokante Vorstellung, dass unter den Bedingungen moderner Arbeitsteilung das Problem einer „Kultur in der Arbeit“ nicht durch banalen Proletkult schon gelöst sei, sondern sich auf das Ganze des Arbeitslebens beziehen müsse: Erwachsenenbildung gleichsam als Entfaltung der gesamten sozialen Kultur. Radbruch gibt sich also nicht mit der Bildungsutopie eines Zugangs aller, besonders der Arbeiter, zur Bildung zufrieden. Er besteht auch auf einer Umgestaltung der Arbeit selbst.Die Marxsche Dimension „lebendiger Arbeit“ – Radbruch spricht von „Arbeitsfreude“ – sei auch in der sozialistischen Gesellschaft nicht notwendigerweise schon in Vollendung gegeben: „Die Frage der Arbeitsfreude bleibt fast so schwierig in der sozialistischen wie der kapitalistischen Gesellschaft. Sie ist nicht durch den Stand der Wirtschaft, sondern durch den Stand der Technik hervorgerufen, nicht durch das Kapital, sondern durch die Maschine.“10

Diese unorthodoxen und politisch angefeindeten Ideen sind besonders von dem Radbruch-Schüler Hermann Heller ernst genommen worden. In seinem Konzept einer „Schule der Arbeit“, das er als Leiter des Leipziger Volksbildungsamtes in den frühen 1920er-Jahren gemeinsam mit Gertrud Hermes umzusetzen versuchte, entwirft er das Modell eines durch kollektive Arbeit ökonomisch abgesicherten Bildungsprozesses – nämlich eine gemeinwirtschaftlich betriebene Fabrik als Träger eines Volksbildungsheims.11 Bildungsziel ist jedoch keineswegs allein die durch Arbeit ermöglichte Weiterbildung zumindest eines Teils der Fabrikbelegschaft, sondern auch die nur in der Arbeit erwerbbare Einsicht in die Gesetze der kapitalistischen Produktion und deren demokratische Umgestaltung. Hellers entscheidende Realutopie ist nämlich die Übertragung der Maßstäbe des demokratischen Rechtsstaates auch „auf die Arbeits- und Güterordnung“12, also die verfassungsmäßig garantierte Wirtschaftsdemokratie.

Die Utopien der Radbruchschule, die die Rätebildungsidee aufgenommen und mit Aspekten von Karl Korschs Vorstellung des „praktischen Sozialismus“ verknüpft hatten,13 erschienen der radikalen Linken in der Weimarer Republik nicht revolutionär genug, weil sie den Kapitalismus nicht wirklich frontal angriffen. Heller zum Beispiel galt als Exponent des „rechten Flügels“ der Jungsozialisten. Seine Vorstellungen gerieten – wie die von Gertrud Hermes oder seines Amtsnachfolgers Paul Hermberg – in Vergessenheit. Stattdessen bekamen die pädagogisierenden und politisch nicht immer unproblematischen Innovationsideen der sogenannten „Neuen Richtung der Volksbildung“ eine ­unangemessene ­Bedeutung14 – ein Ansatz der Erwachsenenbildung, dessen Programmatik „die Praxis keineswegs in dem Maße (bestimmt hat), wie das die Theoriedebatten der 20er Jahre und der Schwerpunkt der späteren Forschung vermuten lassen“15. Die auch gegenwärtig noch anregenden utopischen Ideen der Radbruchschule traten dahinter zurück.

Wenn wir heute das Konzept und die Praxis der Leipziger Richtung mit den Phantasien vergleichen, die in der aktuellen Weiterbildungsszene miteinander konkurrieren, ist die Feststellung eines dramatischen Utopieverlustes wohl die trivialste Charakterisierung der Entwicklung. Die Komplementarität von technokratischer Professionalisierung und aggressiver Marktorientierung lässt wenig Raum für konzeptionelle Alternativen.

1.2 Das Ende der Reformutopien der späten 1950er-Jahre

Interessanterweise kennzeichnet die Verschränkung von Arbeit und Bildung als ein wesentlicher Aspekt demokratischer Zivilität durchaus auch noch den Bildungsdiskurs der Nachkriegszeit. Lange vor Georg Pichts publizitätswirksamer Deklamation des „Bildungsnotstands“ zu Beginn der 1960er-Jahre hatte Hellmuth Becker, einer der späteren Nestoren der Bildungsreform und langjähriger Präsident des Deutschen Volkshochschulverbandes, übrigens auch enger persönlicher Freund Theodor W. Adornos, dessen Idee einer Volksbildung als „Aufklärung ohne Phrasen“16 sehr phantasievoll und kritisch zu konzeptualisieren versucht. In einer bemerkenswerten Rede Ende 1957 auf der Jahrestagung des Deutschen Werkbundes17 bilanziert Becker mit erstaunlichem Scharfsinn den Status quo des deutschen Bildungswesens:

„Wir hatten und haben im Grunde bis heute eine Elitebildung, d.h. wir hatten eine Bildung für Eliten, um es klarer zu sagen. Diese Bildung war in einer Vergangenheit richtig. Wir haben heute Bildungseinrichtungen, die für Eliten geschaffen sind und eine Massenbildung vollziehen sollen. Genau hier liegt der Punkt, an dem sich die Dinge wandeln müssen, unbeschadet der Tatsache, daß wir auch in dieser neuen Bildungswelt, in der Bildung für jeden etwas Notwendiges ist, eine hohe Zahl qualifiziert Ausgebildeter benötigen. Bei dem Beibehalten von Elitebildungseinrichtungen in einer Massenbildungswelt schaffen wir weder die echte Möglichkeit für eine Massenbildung, noch geben wir die Möglichkeit, in einem vielleicht neuen Sinne qualifiziert auszubilden.“

Beckers analytische Kritik verrät zunächst Distanz gegenüber den Widersprüchen einer preußisch-deutschen Bildungspolitik von eineinhalb Jahrhunderten.19 Die aus seiner Analyse abgeleitete Forderung nach einem „Breitmaschigwerden“ des Bildungssystems freilich ist hochmodern und liest sich fast wie ein Vorgriff auf die 30 Jahre jüngere, engagierte und kluge Rekonstruktion der Bildungsreform bei Ludwig von Friedeburg.20 Jedenfalls lässt sich ein gehöriges Maß an utopischem Überschuss des Planungsgedankens erkennen, wenn man die lebendigen Beispiele würdigt, die Hellmuth Becker verwendet:

„Lassen Sie mich von der Krananlage der Rheinischen Braunkohle ausgehen, die etwa 20 Millionen Mark kostet, 100.000 cbm Kohlen in 16stündiger Schicht fördert und von sieben Mann bedient wird; das ist eine Anlage, die immerhin in der Größenordnung einem kleinen Kreuzer entspricht, für den man früher einen Kapitän zur See und zahlreiche andere, qualifiziert ausgebildete Leute benötigte, ganz abgesehen von den Mannschaften, während hier nur sieben Mann tätig sind, von denen auch der Kranführer nichts anderes als die Vorbildung eines ungelernten Arbeiters besitzt, der im Betrieb groß geworden ist. Das bedeutet in diesem Zusammenhang, daß wir Menschen brauchen, die ein gesteigertes Maß an Verantwortung besitzen. Dieser Kranführer muß nämlich den ersten Moment erfassen, in dem etwas an den Dingen nicht funktioniert […]. Das heißt […], daß der moderne Mensch ein gesteigertes Maß an Verantwortung und ein gesteigertes Maß an Verständnis benötigt, das über das hinausgeht, was er praktisch zu tun braucht. Nun werden Sie sagen, das ist eben ein Spezialist. Das ist eben kein Spezialist; denn zu der Zeit, zu der der Mann ausgebildet worden ist, gab es diesen Kran noch gar nicht, und zu der Zeit, zu der man den Kran kannte, hat man Leute ausgebildet, bis zu deren Aktivwerden es ganz andere Einrichtungen geben wird.“21

Und Beckers Vision ist ja in gewissem Sinn durchaus Wirklichkeit geworden. Bildung lässt sich – und zwar für alle Menschen in modernen Gesellschaften – nicht mehr auf eine bestimmte biographische Phase eingrenzen. Sie wird zu einem festen Bestandteil des Lebenslaufs. Und diese Bildung findet nicht nur an hehren Stätten für ausgewählte Eliten statt. Sie reicht hinein in Betriebe, Büros und Fabriken. Sie macht – mit Nachdruck – vor der Arbeitswelt nicht halt. Über 35 Milliarden Euro werden heute – Expertenschätzungen des BIBB zufolge – jährlich allein für berufliche Weiterbildung ausgegeben. Das Bildungssystem ist ganz sicher „breitmaschiger“ geworden; die Flexibilität hat sich erhöht. Übergänge in höhere Bildungszweige sind erleichtert worden, selbst in fortgeschrittenen Phasen des Lebenslaufs.22 Die Anzahl der AbsolventInnen höherer Bildungsabschlüsse ist deutlich angestiegen – eine Tatsache, die ihrerseits auf den Ausbau des Weiterbildungssystems zurückgeht. Keine Option ist – quer zu den konkurrierenden Bildungssystemen in Europa – unbestrittener als die Notwendigkeit von Weiterbildung. Die Deklaration des European Year of Lifelong Learning durch die Europäische Union im Jahr 1996 und ihre politischen Folgen sind dafür ein Beleg.23

Umso absurder ist, dass die beiden zentralen politischen Optionen, die Hellmuth Becker mit seiner Reformutopie verbunden hatte, weiter von ihrer Verwirklichung entfernt zu sein scheinen als je zuvor: Die inhaltliche Verknüpfung von Bildung und Arbeit ist nicht wirklich vorangeschritten. In gewissem Sinn lässt sich sogar von einer „strukturellen Entkoppelung“ von Bildungs- und Beschäftigungssystem reden.24 Und auch die Demokratisierung des Bildungssystems ist steckengeblieben. Ungleichheitsrelationen sind nicht beseitigt, sondern eher noch vertieft worden.25 Trotz der unübersehbaren Bildungsexpansion, trotz des nachweisbaren Anstiegs der „Teilhabe an weiterführender Bildung […] (als) langfristige Tendenz der letzten 70 Jahre“26 beobachten wir seit Beginn der 1980er-Jahre in Deutschland einen dramatischen Umkehreffekt: Die Bildungsergebnisse werden sukzessive kontraproduktiv. Sie führen gerade nicht zu den sozialen Folgen, die sie politisch suggerieren. Eine Reihe von Befunden, die wir in (West)Deutschland vor allem der großen Lebenslaufuntersuchung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung,27 später allerdings auch den PISA-Studien verdanken, entnehmen wir ebenso überzeugende wie entmutigende Belege segmentierender Effekte von aktuellen Bildungsverläufen – so beispielsweise den ungebrochenen Einfluss sozialer Herkunft bei der Entscheidung über Alternativen im Rahmen von Bildungskarrieren,28 den nach wie vor wirkungsvollen Gender-Effekt von Bildungswegen29 oder die Aufdeckung der Illusion, dass „Bildungsumwege“ und „Weiterbildungskarrieren“ zur nachträglichen Korrektur und Nivellierung von Ungleichheitsrelationen beitragen könnten.30

Wenn wir über die Beziehung von Erwachsenenbildung und Zivilgesellschaft nachdenken, sind diese „verlorenen Utopien“ unbedingt der Erinnerung wert, weil sie verdeutlichen, dass eine kritisch-politische Liaison zwischen Erwachsenenbildung und ziviler Gesellschaft ohne die nach wie vor nicht eingelöste Verbindung zwischen Arbeit, Bildung und Demokratie nicht herzustellen ist. Antonio Gramsci hatte bei seinem Konzept der „società civile“ niemals aus den Augen verloren, dass die Zivilgesellschaft zwar „zwischen der ökonomischen Struktur und dem Staat mit seiner Gesetzgebung und seinem Zwang“ steht,31 dass sie dabei jedoch weder von der „società politica“, also dem Staat, noch von der Ökonomie unabhängig sein kann, sondern in einer kritischen Beziehung zu beiden stehen muss.

Was könnte dann ihre Funktion sein? Am ehesten denkt man hier vielleicht an jene Eigenart räsonierender Teilnahme der BürgerInnen an öffentlichen Angelegenheiten, die sich nach den Ergebnissen der überzeugenden Studie von Jürgen Habermas32 seit dem 16. Jahrhundert in europäischen Gesellschaften als „bürgerliche Öffentlichkeit“ etabliert und sich damit der „repräsentativen Öffentlichkeit“ des Hofes entgegenstellt. Die lebendigen Debatten in den neu entstehenden Kaffeehäusern – zum Beispiel in London – über die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften, die Lektüre der ersten gedruckten Zeitungen, die Etablierung literarischer Salons und Clubs geben eine sinnliche Idee von der Sphäre, die sich zwischen Staat und Ökonomie zu schieben beginnt.33

2. Öffentlichkeit und Gemeinsinn als Funktionen der Zivilgesellschaft?

Träfe mithin Gramscis Annahme zu, dass die Zivilgesellschaft eine Art „Juxtaposition“ zwischen ökonomischer Basis und Staat einnimmt, dass also der ratifizierende Konsens sozialer Akteure zwischen die ‚objektiven‘ Notwendigkeiten der Ökonomie und die rationale Steuerungstätigkeit des Staates tritt, dann wäre die Plausibilität von Theorien in Frage gestellt, die moderne Gesellschaften entweder ausschließlich unter dem Aspekt ökonomischer Zweckrationalität oder aber unter der Perspektive systemischer Selbstregulierung betrachten. Eine interessante Kritik dieser beiden Theorietypen finden wir bei Jürgen Habermas,34 der sich allerdings nicht auf Gramscis „Zivilgesellschaft“, sondern auf seine eigene Diskurstheorie bezieht.

2.1 Die zunehmende Fragilität der „Öffentlichkeit“ im Prozess der Moderne

An Erklärungsproblemen von Rational-Choice-Modellen und an Aporien der Systemtheorie kann Habermas zeigen, dass beide Theorietraditionen die Rekonstruktion der Funktionslogik moderner Gesellschaften verfehlen. Eine ökonomisch orientierte Theorie der rationalen Wahl übersieht, dass die Präferenzen von individuellen Akteuren in Kontexten stehen, sich mit diesen Kontextbedingungen wandeln und nur in solchen strategisch und diskursiv hergestellten Rahmenbedingungen angemessen verstanden werden können.35 Die Systemtheorie scheitert nach Habermas an ihrer Reduzierung funktional differenzierter Gesellschaften auf eine Vielzahl selbstreferentiell geschlossener Systeme, weil sie nicht mehr plausibel machen kann, wie semantisch hermetisierte Systeme „aus eigener Kraft die gemeinsame Sprache […] erfinden (können), die für die Wahrnehmung und Artikulation gesamtgesellschaftlicher Relevanzen nötig ist“36. Dieser Einwand muss schon deshalb besonders ernst genommen werden, weil mit der Umgangssprache de facto ein Code zur Verfügung steht, der diese Leistung erbringt und dem sich die nach innen spezialisierten Systeme öffnen müssen, wenn sie ihre Funktionslegitimation sichern wollen. Dies gilt mit Vordringlichkeit für das politische System:

„Das rechtsstaatlich verfaßte politische System ist intern in Bereiche administrativer und kommunikativer Macht differenziert und bleibt zur Lebenswelt hin geöffnet. Denn die institutionalisierte Meinungs- und Willensbildung ist auf Zufuhren aus den informellen Kommunikationszusammenhängen der Öffentlichkeit, des Assoziationswesens und der Privatsphäre angewiesen. Mit anderen Worten, das politische Handlungssystem ist in lebensweltliche Kontexte eingebettet.“37

Habermas’ Kritik sowohl an der mangelnden theoretischen Reichweite des ökonomisch motivierten Rational-Choice-Konzepts wie an der Selbstreferenzialitätsblockade der Systemtheorie entdeckt gewissermaßen eine „zivilgesellschaftliche Lücke“ neu. Oberhalb der ökonomischen Zwänge und unterhalb der administrativen Regulierungen entsteht eine Sphäre scheinbar nicht-ökonomischer und nicht-staatlicher sozialer Aktivitäten, ohne die weder Ökonomie noch Politik funktionieren könnten.38 Wir haben es hier, wenn man so will, mit der Außenseite der Lebenswelt zu tun. Soziale Akteure treten im „zivilen Kern“ der Gesellschaft durch spontane Assoziation miteinander in Beziehung und bilden – noch in Kontakt zu ihrer Privatsphäre – diskursive Öffentlichkeiten. Nach Habermas ist „Öffentlichkeit […] zwar ein ebenso elementares gesellschaftliches Phänomen wie Handlung, Aktor, Gruppe oder Kollektiv; aber es entzieht sich den herkömmlichen Begriffen für soziale Ordnung. Öffentlichkeit läßt sich nicht als Institution und gewiß nicht als Organisation begreifen; sie ist selbst kein Normengefüge mit Kompetenz- und Rollendifferenzierung, Mitgliedschaftsregelung usw. Ebensowenig stellt sie ein System dar […]. Die Öffentlichkeit läßt sich am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben; dabei werden die Kommunkationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, daß sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten. Wie die Lebenswelt insgesamt, so reproduziert sich auch die Öffentlichkeit über kommunikatives Handeln, für das die Beherrschung einer natürlichen Sprache ausreicht; sie ist auf die Allgemeinverständlichkeit der kommunikativen Alltagspraxis eingestellt.“39

Zivile Öffentlichkeit setzt ein Publikum voraus,40 prinzipiell also Anwesenheit und Partizipation. Öffentlichkeit ist – wie Gramscis „Zivilgesellschaft“ – auf Konsens angewiesen, wenn sie Bestand haben will. Gerade am Öffentlichkeitskonzept lässt sich aber zeigen, dass jene zivilgesellschaftliche Zwischensphäre durchaus nicht autonom ist, sondern jederzeit an Ökonomie und Politik anschließbar bleibt. Denn der öffentliche Raum ist im Modernisierungsprozess verändert worden. Bereits durch die Entstehung der Massenmedien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich eine relative Unabhängigkeit der „Öffentlichkeit“ vom eingreifenden Publikum ergeben. Wie für die Gesamtgesellschaft selbst gilt seitdem auch für modernisierte Öffentlichkeiten, dass der „zivile Kern“ von den professionell agierenden Aktionszentren zunehmend an die Peripherie gedrängt wird.41 Die Gefahr einer Spaltung der Öffentlichkeit in Produzenten und Rezipienten und die Verquickung der Produzenten mit ökonomischen bzw. politischen Präferenzen ist längst auf der Tagesordnung. Das Szenario der italienischen Parlamentswahlen von 1994, bei denen der Medienmogul Berlusconi sich gleichsam „zivilgesellschaftlich“ als Organisator eines monströsen Fanclubs erfolgreich zum politischen Führer stilisieren kann, ist nur erstaunlich kurz ein Präzedenzfall für die Porosität der zivilen Sphäre geblieben. Trumps Wahl zum US-Präsidenten 2016, seine bizarre Regierungszeit und vor allem der von ihm bis zur Inauguration seines Nachfolgers ignorierte Fakt seiner Abwahl 2020 zeigen, dass die Verwundbarkeit der Zivilität in der Postmoderne noch zugenommen hat.42 Bereits in der Mitte der 1950er-Jahre hatte übrigens Günther Anders mit erstaunlicher Weitsicht und bestechender Analyse ähnliche Szenarien für möglich gehalten.43 Zivilität bleibt fragil. Das wird am Phänomen der Öffentlichkeit besonders deutlich. Hat die Forderung nach normativen Orientierungen eine Chance, die Marginalisierung der zivilen Sphäre zu begrenzen?

2.2 Die normative Option auf „Kommunarität“ als Ausweg?

Auf den ersten Blick bietet sich zur Beantwortung dieser Frage zweifellos jene sozialphilosophische Debatte um Gemeinsinn und Gerechtigkeit an, wie sie sich zunächst in den USA im Anschluss an John Rawls44 entwickelt hat und seit Beginn der 1990er Jahre auch in Europa an Einfluss gewinnt.45 Das normative Konstrukt des „Kommunitarismus“ suggeriert dabei einen Ausweg aus den Gefahren ökonomischer und politischer Instrumentalisierung der Individuen und steht für eine zumeist auf aristotelische und hegelianische Sittlichkeitsvorstellungen bezogene neue Einbindung in Wertgemeinschaften. Auf den zweiten Blick ergeben sich Probleme. Wird mit der Option auf Gemeinsinn jene zumindest in Deutschland historisch brisante Kontrastierung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“46 wiederbelebt? Soll die kommunitaristische Option am Ende den modernen Rechtsstaat substituieren? Einige Stimmen47 im allerdings differenzierten Spektrum der „Kommunitarismus“-Vertreter geben zu solchen Fragen durchaus Anlass.

Betrachtet man das Problem jedoch pragmatischer und verzichtet auf plakative Zuschreibungen, lassen sich die im Kern hochtheoretischen Debatten um die Abhängigkeit formaler Rechtsprinzipien von bestimmten normativen Vorentscheidungen48 auch als sensibilisierende Konzepte für eine genauere empirische Analyse sozialen Wandels interpretieren. Die von den „Kommunitaristen“ angesprochenen Funktionsstörungen moderner Demokratien machen auf mindestens zwei empirisch klärungsbedürftige Fragen aufmerksam: (1) Ist soziales Überleben in modernen Gesellschaften ohne ein Minimum an selbstverständlich verfügbaren kommunitären Bezügen überhaupt möglich? (2) Können moderne Demokratien ohne ein bestimmtes Maß an gemeinsam geteilten Werten angemessen funktionieren?

Die Frage nach dem Mindestbestand an kommunitären Ressourcen lässt sich problemlos aus dem Kontext eines normativen Diskurses lösen und auf empirische Konstellationen beziehen. Wir haben empirische Belege dafür, dass die Verarbeitung von Bindungsverlusten in modernen Gesellschaften durchaus ein reales Problem darstellt und sich etwa an der Symptomkonstellation einer „Enttraditionalisierung von Lebenswelten“49 für konkrete soziale Akteure präzise belegen lässt. Es ist aber gleichzeitig nachweisbar, dass die Handlungspotenziale der von solchen Veränderungen Betroffenen gegebenenfalls auch über neue Formen sozialer Assoziation verfügen. Das bedeutet: Die Herstellung sozial unverzichtbarer Kommunarität läuft nicht zwangsläufig über die normative Bestandssicherung ehemals verfügbarer Ressourcen, sondern über die wesentlich kontingente „Erfindung“ kollektiver Netze auf neuem Niveau.50 Hier sind gerade Arrangements einer politisch sensibilisierten Erwachsenenbildung von großer Bedeutung.

Mit der Frage nach der Bestandssicherung der Funktion moderner Demokratien durch eine gemeinsame Wertbindung demokratischer Akteure lässt sich empirisch zumindest die Beobachtung verknüpfen, dass der bloße institutionelle Aufbau und die verrechtlichten Abläufe demokratischer Prozeduren keine Garantie dafür bieten, dass Demokratien auch lebendige Gemeinwesen sind. Allerdings, auch hier erscheint zumindest diskussionswürdig, ob zur Sicherung demokratischen Lebens tatsächlich eine Art „demokratischer Sittlichkeit“51 im Sinne des politisch-normativen Diskurses von Alexis de Tocqueville bis Hannah Arendt gefordert ist, oder ob nicht die konkrete Aktion im sozialen Raum, der Aufbau und die Erhaltung ziviler Öffentlichkeiten, immer neu das Wissen verbürgen und durch zivile Praxis auch die sozialen Hintergrundorientierungen herstellen, die zum Überlebensbestand von Demokratien gehören.52 Und auch hier wäre politische Erwachsenenbildung ein wichtiger Moderator. Garantiert ist die Entstehung solcher Hintergrundorientierungen zweifellos nicht.

Hinzu tritt aber das Problem, dass der Kommunitarismusdiskurs leicht als Elitendiskurs53 missverstanden werden könnte, dass er breite Bevölkerungsschichten entweder gar nicht erreicht oder ihnen als Problem erscheinen muss, dessen Thematisierung sich nur die leisten können, die keine anderen Probleme haben. Die Sensibilität dafür, dass zivilgesellschaftlicher Konsens nur dann herstellbar ist, wenn – wie Gramsci sagt – die „Einfachen“, die „semplici“, einbezogen werden und daran teilhaben können, ist auch bei diesem Konflikt für eine Erwachsenenbildung von großer Bedeutung, die ihre zivilgesellschaftlichen Aufgaben mit der Integration möglichst vieler Teilnehmer verbindet.

2.3 Zivilgesellschaft und „Gegenöffentlichkeit“

Interessant ist dabei natürlich die Frage, ob eine herrschende Öffentlichkeit – etwa der Einfluss bestimmter Massenmedien – gegebenenfalls eine zivile „Gegenöffentlichkeit“ rechtfertigt und ob nicht gerade eine kritische Erwachsenenbildung Teil einer solchen Gegenöffentlichkeit sein sollte. Die Erfahrung der 68er-Bewegung, der Anti-Atomkraft-Bewegung, der Friedensbewegung, der feministischen Bewegung und verschiedener anderer sogenannter „Neuer Sozialer Bewegungen“54 im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts haben die Legitimität und Wirksamkeit solcher Gegenöffentlichkeiten belegt – so wie es aktuell der „Fridays-for-Future-Bewegung“ gelingt, den drohenden Klimawandel zum öffentlichen Thema zu machen.

Andererseits sind Gegenöffentlichkeiten nicht schon per se legitim, weil sie sich dem herrschenden Mainstream aktiv widersetzen. Das gilt historisch z. B. für die unsäglichen SA-Massenaufmärsche in der Zeit der Weimarer Republik – längst vor der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933. Und es gilt ebenso für die PEGIDA-Proteste oder die aktuellen Demonstrationen der sogenannten „Querdenken“-Initiative gegen die Corona-Politik in Deutschland, selbst für die bizarren Aufmärsche der „Trumpisten“ nach dem uneingestandenen Wahlverlust ihrer Ikone in den USA.

Allerdings hat der Begriff der Gegenöffentlichkeit einen anderen Bedeutungshintergrund. Er wird von Oskar Negt und Alexander Kluge in ihrem 1972 erschienenen, politisch einflussreichen Buch „Öffentlichkeit und Erfahrung“ als eine Art Vorform „proletarischer Öffentlichkeit“ verstanden. Und proletarische Öffentlichkeit ist für die Autoren im Anschluss an die von Habermas identifizierte historisch unterdrückte „plebejische Öffentlichkeit“55 nicht „eine Variante der bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern […] eine in der Geschichte angelegte, aber nicht unter der Bezeichnung Öffentlichkeit verstandene, völlig andere Auffassung des gesellschaftlichen Zusammenhangs“56. Proletarische Öffentlichkeit repräsentiert gewissermaßen das in die Zukunft weisende Projekt einer anderen Gesellschaft, die ein Bündnis anstrebt „zwischen denjenigen gesellschaftlichen Kräften, die den ganzen Umfang der Neuorganisation einer kommenden Gesellschaft zu leisten imstande sind, und denjenigen […], die unter bestimmten Bedingungen vor allem darauf gerichtet sind, überholte Herrschaftsverhältnisse aufzulösen“57; mit anderen Worten: zwischen der Arbeiterklasse und den fortschrittlichen Intellektuellen.

Diese Andeutung eines gleichsam vorrevolutionären Gesellschaftszustands ist dem Begriff Gegenöffentlichkeit verloren gegangen – selbst wenn er sich im Ausgang des 20. Jahrhunderts auf eine Fülle wichtiger Kontrastaktivitäten berufen kann. Neben den bereits genannten Gegenbewegungen sind das z. B. alternative Zeitungsprojekte wie die Stadtmagazine und „Stattzeitungen“ der 1970er-Jahre, neue Film- und Kunstforen wie die Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen, die sogenannte „soziokulturelle Bewegung“58, die verschiedenen NGOs und Greenpeace, aber auch kleinräumigere Aktionsformen wie Freiwilligenbörsen, Nachbarschaftsvereine, Selbsthilfegruppen, Mehrgenerationen-Wohnprojekte, die Hospizbewegung, die Aidskranken-Bewegung oder die Siedlungsbewegung.59 Aber auch die legitime Frage von Habermas, ob „die Gruppen, die die Erfüllung wichtiger Systemfunktionen möglicherweise passiv in Frage stellen, mit den Gruppen identisch (seien), die in Krisensituationen bewußt politisch handeln können“60, relativiert ein wenig den revolutionären Impetus des Konzepts „proletarische Öffentlichkeit“.

Denn hinter dem von Habermas zumindest angedeuteten Zweifel, dass die Intellektuellen nicht gerade die „natürlichen“ Partner einer aktionsbereiten Arbeiterschaft seien (falls davon heute überhaupt noch die Rede sein kann), verbirgt sich ein gewisser Reflexionszwang für eine gesellschaftspolitisch sensible Erwachsenenbildung. Sollte sie tatsächlich Teil einer „Gegenöffentlichkeit“ sein? Wie wäre dann eine Unterscheidung von jenen Gegenbewegungen sicherzustellen, die womöglich rechtsextremistische, rassistische und antisemitische Ideologien begünstigen? Lässt sich angesichts rechtspopulistischer Kontrastinszenierungen von Gegenöffentlichkeit sinnvoll überhaupt noch reden? Schließlich, welche Art „Zivilgesellschaft“ gilt es eigentlich zu verteidigen?

3. Dystopien der „Entzivilisierung“

3.1 Verstörende Symptome

Die provokanteste Form, ziviles Leben in spätmodernen Gesellschaften zu bedrohen, sind die barbarischen Terrorakte, die seit den 1990er Jahren besonders in westlichen Demokratien zugenommen haben. Der Anschlag auf das World Trade Center 2001, das Massaker an sozialdemokratischen Jugendlichen auf der norwegischen Insel Utøya 2011, die brachialen Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und den Club Bataclan in Paris 2015, die gezielten Massenmorde mit schweren Lastwagen auf der Uferpromenade in Nizza und auf dem Berliner Breitscheidplatz 2016 und zuletzt die brutale Enthauptung des Lehrers Samuel Paty auf offener Straße in Conflans-Sainte-Honorine und der Terroranschlag in Wien im November 2020 sind nur die spektakulärsten unter Tausenden von Terroranschlägen von islamistischen oder politisch radikalisierten Gewalttätern. Vergleichbar irritierende Effekte haben auch Amokläufe junger, fast ausschließlich männlicher Täter. Das Schulmassaker an der Colombine Highschool in Littleton, Colorado, 1999 oder der Amoklauf eines ehemaligen Schülers am Erfurter Gutenberg-Gymnasium sind nur einschneidende Beispiele einer Kette von ähnlich gelagerten monströsen Tötungsdelikten in westlichen Gesellschaften.

Die Suche nach psychologischen Gründen für die Obszönität dieser Taten trifft die Ursache allenfalls peripher. Andreas Reckwitz hat in seiner eindrucksvollen Analyse spätmoderner Gesellschaften61 eine andere Erklärung angeboten. Er interpretiert die verstörenden Phänomene von Terror und Amok als gezielten und in das Gesamtsetting durchaus passenden kulturellen Protest:

„Man könnte es zugespitzt so formulieren: Sie bringen ein Betriebsgeheimnis der Spätmoderne auf schmerzhafte Weise zu Bewusstsein. Ihre Hyperkultur, ihr Postindustrialismus, ihre Geschlechtergleichberechtigung, ihr kuratierter Lebensstil – all dies setzt eine pazifizierte Gesellschaft und eine extreme psychische Selbstkontrolle der Individuen in ihrem Alltag stillschweigend voraus; und diese Voraussetzung wird vom [sic] Terror und Amok spektakulär in Frage gestellt.“62

Die Entzivilisierungssymptome sind also kein trivialer Rückfall in vormoderne Verhaltensformen. Sie sind Konsequenzen der spätmodernen Entwicklung selbst. Gewalt ist hier, mit Walter Benjamin gesprochen, „nicht Mittel, sondern Manifestation“64.

„Als Kulturpraxis hat sie eine narrativ-hermeneutische Dimension, indem eine Vergeltungsgeschichte erzählt wird (die Eliminierung derjenigen, die das Abendland zu Grunde richten, der höhnische Triumph der Zukurzgekommenen etc.), sie hat im Sinne einer partikularen Vergeltungsethik eine ‚ethische‘ Dimension (die Rache am Westen oder an den Institutionen, die einen nie ernst genommen haben beispielsweise) und sie hat eine ‚ästhetische‘ und gestalterische Dimension im Sinne einer Inszenierung, welche die sinnliche Wahrnehmung des Publikums auf verstörende Weise fesselt.“

Dabei passt sie sich ein in die Singularitätsstrategien auf den Sichtbarkeitsmärkten der spätmodernen Gesellschaft,65 den Zwang zur Einzigartigkeit und Besonderheit. Sie kehrt die Inszenierung nur ins monströs Negative – dies allerdings im Selbstbewusstsein des „lachenden Täters“66, der nach der Objektivation seiner Tat zur historischen Manifestation dem eigenen Untergang mit demonstrativer Indifferenz begegnet. Diese überzeugende Deutung bei Reckwitz setzt allerdings eine neue Sicht auf die Gesellschaft voraus, eine Perspektive, die gegebenenfalls auch die Beziehung von Erwachsenenbildung und Zivilgesellschaft berührt.

3.2 Die neuen gesellschaftlichen Spannungen

Der gesellschaftliche Raum, Bourdieus „champ social“ , hat sich verändert. Er lebt nicht mehr von der Spannung zwischen „ökonomischem“ und „kulturellem Kapital“. Das soziale Feld ist insgesamt „kulturalisiert“ worden. Das gilt erstaunlicherweise auch und gerade für die Struktur der kapitalistischen Ökonomie. Branchen, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts an der Peripherie der industriellen Massenproduktion eine Randexistenz fristeten, rücken ins Zentrum eines Kapitalismus, der sich von der Industriegesellschaft zu lösen beginnt: Die sogenannten „creative industries“, Architektur, Werbung, Design, Mode, Musik, Film und Video, darstellende Künste, Computerspiele, alte und neue Medien, Print, Radio, TV oder Internet, dazu Branchen des Tourismus, des Sports, der Erlebnisökonomie und der explodierende Bereich eines zunehmend marktförmig organisierten Bildungs- und Wissenschaftssystems besetzen den Platz eines neuen, selbstverständlich digitalisierten „Kulturkapitalismus“68.

Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die Sozialstruktur westlicher Gesellschaften. Wir beobachten eine „Polarisierung der Arbeitsverhältnisse“69, die zu einer drastischen Konfrontation von hochqualifizierten Berufen in der Wissens- und Kulturökonomie einerseits und einfachen Dienstleistungen und standardisierten Tätigkeiten andererseits führt. Dieses Ergebnis muss zwangsläufig spannungsgeladene Gegensätze von neu entstehenden Klassenlagen und Lebensstilen zur Folge haben: Auf der einen Seite steht eine kulturell aufsteigende neue Mittelklasse, die sich Privilegien leisten kann und einen Lebensstil des Exquisiten und Besonderen pflegt und die Präferenz politischer Vorlieben erlaubt, die andere verstören. Auf der anderen Seite erlebt sich die klassische Arbeiterschaft durch die zunehmende Erosion der Industriegesellschaft als „neue Unterklasse“. Die tiefe Entwertung schafft Frustrationen und undifferenzierten Hass auf „die Eliten“. Andere soziale Milieus, wie die „bürgerliche Mitte“ oder das „liberal-intellektuelle Milieu“70, bleiben bestehen, aber sie gruppieren sich neu im gesellschaftlichen Feld. Folgenreich erscheint zudem eine „Polarisierung der sozialen Räume: Es bilden sich regional, national und global räumliche Attraktivitätsmärkte aus, die zu einer Auseinanderentwicklung zwischen ‚attraktiven‘ Orten und ‚abgehängten‘ Regionen führen.“71 All dies produziert schließlich politische Gegensätze, die die klassischen Konflikte von „Oben“ und „Unten“, „Ökonomie“ und „Kultur“, „Rechts“ und „Links“, „Kapital“ und „Arbeit“ substituieren und den gesellschaftlichen Raum verändern.

Reckwitz spricht von einem Gegensatz des „differenziellen Liberalismus“ und des „Kulturessenzialismus“72. Die artifiziell klingenden Labels nehmen allerdings zwei empirisch neue Tendenzen auf, die tatsächlich in dieser Form bisher nicht existierten: einmal die Tatsache, dass sowohl der liberale Pol der politischen Positionierung als auch der essenzialistische Kontrastpol als kulturelle Orientierungen verstanden werden müssen – nicht mehr „ökonomisch“ versus „kulturell“ lautet der Gegensatz, sondern „liberal-kulturell“ versus „illiberal-kulturell“; zum anderen die Tendenz, dass sich der neue Liberalismus in zwei Stränge teilt: Einen neuen, gleichsam „rechtsliberalen“ Wirtschaftsliberalismus – das was gewöhnlich als „Neoliberalismus“ bezeichnet wird –, und einen neuen „linksliberalen“ Politikstil, der die Stärkung der Persönlichkeitsrechte insbesondere der Gruppen im Auge hat, die im Lauf der Moderne diskriminiert waren: Frauen, Schwule, Lesben, Trans-Gender-Personen, Behinderte und Protagonisten alternativer Lebensformen sowie Menschen aus anderen Kulturen. Das Interesse an kultureller Vielfalt, an Ökologie und am Schutz des natürlichen Lebensraumes und des Klimas sind weitere Themen einer „linksliberalen“ Politik.

Und genau diese Interessen kennzeichnen den Gegensatz zu den „Kulturessenzialisten“, den ethnischen, nationalistischen, religiös-fundamentalistischen und rechtspopulistischen „Neogemeinschaften“ der Spätmoderne.73 Dabei teilen die Kulturessenzialisten die Tendenz der neuen Liberalisten, sich vom technischen Rationalismus der industriellen Moderne zu lösen und eine kulturelle Identität anzustreben. Sie stellen sich auch keineswegs gegen die neuen Singularitätsmärkte der Spätmoderne. Auch sie beanspruchen – als Communities – Einzigartigkeit und konkurrieren mit anderen Instanzen auf demselben „Sichtbarkeitsmarkt“, auf dem auch die „creative economy“ ihre Waren anbietet. Auch sie nutzen das Internet und die sozialen Medien – gelegentlich professioneller und erfolgreicher als die konventionellen kulturellen und politischen Institutionen, die Kirchen, die Parteien oder die Gewerkschaften. Was sie von der Hyperkultur und Offenheit der neuen Kreativen unterscheidet, ist die Konzentration auf eine fiktive Gemeinschaft:

„Dem singulären Individuum der Hyperkultur steht die singuläre Gemeinschaft des Kulturessenzialismus gegenüber, der Mobilität der Valorisierung in einem unendlichen Raum kultureller Elemente der Versuch der Fixierung der Valorisierung durch Innen-Außen-Antagonismen […]. Die kulturessenzialistischen Bewegungen lassen sich so generell als eine kritische Reaktion auf die Hyperkultur und als Gegenbewegung zur Struktur kompetitiver Singularitäten interpretieren […]. Die Kulturkommunitaristen versprechen ‚unverbrüchliche‘ kollektive Identitäten, welche die mobile Hyperkultur so nicht anzubieten vermag.“74

Es ist nicht zufällig, dass es in westlichen Gesellschaften vor allem die Mitglieder der alten Mittelklassen und der neuen Unterklasse sind, für die ethnische, nationale und religiöse Fundamentalismen als mögliche soziale Heimat akzeptabel erscheinen und dass sich die gleichen Gruppen auch vom Rechtspopulismus angesprochen fühlen. Es sind Akteure, die in der Spätmoderne in die Defensive geraten sind und nun – symbolisch – von der „Peripherie“ aus gegen das „Zentrum“ zum Kampf antreten. Der US-amerikanische Wahlkampf 2020 und die Weigerung Trumps und einer Majorität seiner 73 Millionen Wähler, den Sieg Bidens anzuerkennen, belegen plausibel, dass dieser Kampf der kulturellen Peripherie gegen das Zentrum keine Bagatelle, sondern bedrückende politische Realität ist.

„Kulturessenzialisten formieren sich national und international teilweise offensiv in Opposition zum politischen Liberalismus. Dies gilt für den Rechtspopulismus, für den staatlichen Kulturnationalismus und für manche Versionen des religiösen Fundamentalismus, indirekt auch für jene ethnischen Gemeinschaften, die sich kulturell abschließen. Hier wird der grundsätzliche Antagonismus zwischen den beiden Modellierungen des Sozialen und des Kulturellen manifest: Subjektive Persönlichkeitsentfaltung und der Markt kultureller Güter stehen einer Homogenisierung von Gemeinschaften, die hybride Kombinierbarkeit der Kultur der Voraussetzung einer strikten Ingroup-Outgroup-Differenz gegenüber.“75

Das bedeutet, der „Raum politisch-kultureller Mentalitäten“76 verändert sich deutlich. Die Beurteilungsfolie ist nicht mehr der Bourdieusche Sozialraum, in dem das Gesamtvolumen ökonomischen, kulturellen und sozialen „Kapitals“ die markanten „Cleavages“ bestimmt, sondern neue kulturelle Konfliktlinien, die verschiedene politische Mentalitäten kennzeichnen und die klassischen Gegensätze von „Rechts“ und „Links“, „Oben“ und „Unten“ (s.o.) hinter sich lassen. Pointiert gesagt: Der Konflikt variiert vom „Klassenkampf“ zum „Kulturkampf“. Kontrastpole sind dann auf der vertikalen Achse die Globalisierungsstrategien der Neoliberalen und der linksliberale kulturelle Kosmopolitismus einerseits, kruder Nationalismus („America first“) und aggressive „Neogemeinschaften“ (zum Beispiel die evangelikalen Fundamentalisten) auf der anderen. Horizontal steht die „Inszenierung neuer Anerkennungsformen“ einem „Protest gegen Anerkennungsentzug“77 gegenüber, der sich nicht selten als Hass gegen reale oder fiktive Eliten äußert. Das Bild, das dabei entsteht, sieht folgendermaßen aus:

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Die Abbildung zeigt zwei „Cleavages“, die kreuz und quer durch den mentalen Raum verlaufen: eine Konfliktlinie (rot), die die neu entstandenen „liberalen“ Kulturpraktiken von den „kulturessenzialistischen“ Politiken trennt, die zum Teil traditionell, zum Teil gerade in ihren radikaleren Formen ebenso „spätmodern“ sind wie die Hyperkultur der Kosmopoliten; und eine Trennlinie (blau), die gewissermaßen die „linksliberalen“ Identitätspolitiken von den „rechts“- oder neoliberalen Strategien der neuen internationalen Marktpolitiken unterscheidet.

Interessant erscheint, dass beide Konfliktlinien nicht exakt an Milieugrenzen haltmachen, sondern dass sie mitten durch gewachsene oder neue politisch-kulturelle Milieus hindurchgehen. Das gilt zum Beispiel für die „bürgerliche Mitte“, die nicht gänzlich zum Kulturessenzialismus tendiert. Es gilt aber auch für das konventionelle sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Milieu, das keineswegs zu größeren Teilen auf die neue „linksliberale“ Seite gehört, sondern sich durchaus rechtspopulistischen Tendenzen öffnet. Und auch bei den linksliberalen, vollends den kosmopolitischen Eliten können sehr wohl gleichzeitig liberale Kulturpraktiken und neoliberale Wirtschaftspraktiken präferiert werden.

Das bedeutet, Zugehörigkeiten sind nicht mehr eindeutig, was gewiss nicht überrascht bei den neu entstandenen, bewusst weltoffenen kulturellen Strategien. Aber es gilt eben auch für klassische politisch-kulturelle Milieus, deren Orientierung lange Zeit als stabil galt und die jetzt rechtspopulistischen Avancen durchaus mit Sympathie begegnen. Was allerdings nicht übersehen werden kann und sich mehr und mehr verschärft, ist (wenn man die aktuelle Situation in den USA zum Maßstab nimmt) der beinahe abgrundtiefe Hass des „kulturessenzialistischen Lagers“ gegenüber dem „liberalen Lager“, das pauschal als korrupte „Elite“ verunglimpft wird.

Und an dieser Stelle ist ein neuer Diskurs um die Zivilgesellschaft notwendig, den die zeitgenössische Erwachsenenbildung zu führen hätte. Denn es käme nicht nur darauf an, die zum Teil absurden und gefährlichen Vorwürfe des kulturessenzialistischen Lagers an die „Eliten“ zu entkräften und den drohenden Aufruf zu Kampf und Gewalt sowie die umlaufenden Verschwörungstheorien und Fakenews auf zivile Weise abzuwehren. Unverzichtbar wäre auch, den neuen links- oder neoliberalen ProtagonistInnen deutlich zu machen, dass ihre Politiken riskant sind und einer ernsthaften Korrektur bedürfen.

Reckwitz weist darauf hin, dass sowohl im neuen linksliberalen Lager wie bei den Wirtschaftsliberalen Prozesse der kritischen Selbstreflexion beginnen.79 Beispielsweise entsteht bei den Linksliberalen eine gewisse Sensibilität für die Rigorosität, mit der in der Vergangenheit mit dem Programm der „Diversität“ umgegangen wurde. „Aus dem Innern der liberalen Politik hat sich daher eine Kritik am ‚Ethno-Kult‘ und am ‚Separatismus der Kulturen‘ entwickelt.“  Hier könnte eine Diskussion über die sozialen und ethischen Grenzen der Hyperkultur beginnen, die ins Zentrum der neuen Zivilgesellschaft gehört und eine wichtige Aufgabe der Erwachsenenbildung sein könnte. Der neoliberale Wirtschaftsprozess hat in den vergangenen vier Jahrzehnten die gesellschaftliche Spaltung weltweit drastisch vertieft und verdient heftigen gewerkschaftlichen, aber auch zivilen Widerstand. Hier wäre durchaus eine neue Politik, die die Verbindung von Arbeit und Bildung, jene Utopie der Weimarer Republik, zumindest erinnert, eine Herausforderung an die aktuelle Erwachsenenbildung. Dazu könnte auch eine kritische Wiederaufnahme der Ideen Antonio Gramscis beitragen, dem wir das klassische politische Konzept der Zivilgesellschaft als eines Bildungsprozesses verdanken.

4. Die Idee der „organischen Intellektuellen“

Für Gramsci ist die Zivilgesellschaft zunächst keine Milieu-Frage, sie ist ein Alltagsphänomen. Zivile Strukturen einer konkreten Gesellschaft sind – wie das lebensweltliche Wissen – „a tergo-Strukturen“, Handlungspotenziale im Hintergrund der Sozialität. Das bedeutet allerdings gerade nicht, dass sie den Charakter von unveränderbaren Tiefenstrukturen besäßen; es kann sinnvoll nur heißen, dass sie offenbar erst dann virulent werden, wenn sie sich mit lebensweltlichen Orientierungsmustern vernetzen.

„Der Alltagsverstand ist keine einheitliche, in Raum und Zeit identische Auffassung: er ist die ‚Folklore‘ der Philosophie, und wie die Folklore bietet er sich in unzähligen Formen dar: sein grundlegender und charakteristischster Zug ist es, eine (auch in den einzelnen Hirnen) auseinanderfallende, inkohärente, inkonsequente Auffassung zu sein, der gesellschaftlichen und kulturellen Stellung der Volksmengen entsprechend, deren Philosophie er ist.“81 Diese „Alltagsphilosophie“ lässt sich gewiss nicht einfach durch die professionelle Philosophie ersetzen. So wenig die Folklore durch die „Hochkultur“ substituiert
werden kann, so wenig kann der Alltagsverstand durch Literatur und Philosophie verdrängt werden.
82
Lernprozesse zur Homogenisierung des Alltagsverstandes – und das bedeutet eben: Prozesse der Zivilisierung – beginnen nach Gramsci immer dann, wenn Gruppen von sozialen AkteurInnen ihrer selbst und ihrer gesellschaftlichen Position sich bewusst werden: „Wenn sich in der Geschichte eine homogene gesellschaftliche Gruppe herausarbeitet, arbeitet sich auch, gegen den Alltagsverstand, eine homogene […] Philosophie heraus“
83. Die Moderne ist auf diesen „Bildungsprozess“ angewiesen. Gramsci macht aber deutlich, dass damit nicht die Zivilisierung der Eliten gemeint ist, sondern die Emanzipation der Volksmassen. Alltag und Zivilität gehören zusammen. Nur wenn die „einfache Kultur“ an der zivilen Gesellschaft partizipiert, wird die Veränderung bestehender politischer und kultureller Konstellationen möglich:

„Eine neue Kultur zu schaffen bedeutet nicht nur, individuell ‚originelle‘ Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten, sie sozusagen zu ‚vergesellschaften‘ und sie dadurch Basis vitaler Handlungen, Element der Koordination und der intellektuellen und moralischen Ordnung werden zu lassen. Daß eine Masse von Menschen dahin gebracht wird, die reale Gegenwart kohärent und auf einheitliche Weise zu denken, ist eine ‚philosophische‘ Tatsache, die viel wichtiger und ‚origineller‘ ist, als wenn ein philosophisches ‚Genie‘ eine neue Wahrheit entdeckt, die Erbhof kleiner Intellektuellengruppen bleibt.“84

Wie dieser zivilisierende „Bildungsprozess“ gelingen kann, hat Gramsci an der Dialektik von Intellektuellen und „Einfachen“ entfaltet.85 Die Idee der „organischen Intellektuellen“ als gestaltender Architekten eines kohärenten Wissens enthält einen praktischen Bezug zum Alltagsverstand der Volksmassen.

„Es handelt sich […] darum, eine Philosophie auszuarbeiten, die, indem sie bereits eine Verbreitung oder eine Verbreitungstendenz besitzt, weil sie mit dem praktischen Leben verbunden und ihm implizit ist, zu einem erneuerten Alltagsverstand wird, mit der Kohärenz und der Kraft der individuellen Philosophien: dazu kann es nicht kommen, wenn nicht ständig das Erfordernis des kulturellen Kontakts mit den ‚Einfachen‘ verspürt wird.“86 „Es stellt sich erneut die bereits angedeutete Frage: ist eine philosophische Bewegung eine solche nur insofern, als sie bei der Arbeit der Ausbildung eines dem Alltagsverstand überlegenen und wissenschaftlich kohärenten Denkens niemals vergißt, mit den ‚Einfachen‘ in Kontakt zu bleiben, und gerade in diesem Kontakt die Quelle der zu untersuchenden und zu lösenden Probleme entdeckt? Nur durch diesen Kontakt wird eine Philosophie ‚geschichtlich‘, reinigt sich von den intellektualistischen Elementen individueller Art und wird ‚Leben‘.“87

Methodisch verwendet Gramsci hier zumindest implizit eine Idee, die den logischen Prämissen des frühen amerikanischen Pragmatismus sehr nahe ist: das Konzept „quasi-abduktiven“ Entdeckens der in einer historisch-konkreten Wirklichkeit verborgenen Potenziale. Die Überlegenheit wissenschaftlich kohärenten Denkens gegenüber dem Alltagsverstand besteht nämlich gerade nicht in der vermeintlichen „Substanz“ des Erkenntnisvorgangs,88 sondern in der Möglichkeit, eine Bewegung in Gang zu setzen zwischen den kontingenten Einsichten des Alltagswissens und den planvollen Ergebnissicherungen wissenschaftlichen Denkens. Dieser Prozess ist lebendig, unabgeschlossen, zukunftsoffen. Er braucht die aktive Beteiligung der „Einfachen“ und hat etwas von jener „kreativen Demokratie“, die John Dewey89 (1940) sich vorstellte und deren Qualität der Logiker des Pragmatismus, Charles Sanders Peirce, als die überraschende Fähigkeit beschrieben hat, etwas zu vernetzen, was „zusammenzubringen wir uns vorher nicht hätten träumen lassen“90.

Zivilität wird hier als demokratischer Gestaltungsprozess erkennbar. Das entlastet sie keineswegs von den Zwängen der „società politica“. Aber es macht ihre Eigenart anschaulicher: Zivilgesellschaftliche Fortschritte sind immer wieder neue Bargainingprozesse einer „alltäglichen Moderne“91. Sie können nicht in einem theoretischen oder moralischen Konzept „Zivilgesellschaft“ gleichsam stillgestellt werden. Vielmehr müssen wir sie jeweils neu entdecken und durch Konsensbildung festhalten. Die Intellektuellen tun gut daran, sich in diesem Prozess als sensible Beobachter und vorsichtige Interpreten, weniger als vollmundige Ideologen zu begreifen.92

Auf eine bestimmte Weise nehmen wir freilich Gramscis sehr sensible Überlegungen als zu anspruchsvoll, in gewissem Sinn als historisch „veraltet“ wahr, und genau deshalb erscheinen sie uns eher unrealistisch. Wir mögen seine tiefen Erkenntnisse bewundern, die in einem faschistischen Kerker entstanden sind. Die Herausforderung allerdings, sich auf seine „semplici“ – die „Einfachen“ – einzulassen, wirkt angesichts der Komplexität der Gruppen von „Entwerteten“ und „Gekränkten“ heute, beinahe ein Jahrhundert nach Gramscis „Gefängnisheften“, als kaum zu bewältigen.

Aber die „organischen Intellektuellen“, und das wären politisch sensible ErwachsenenbildnerInnen, haben es aktuell mit Blick auf die Zivilgesellschaft längst nicht mehr nur mit den „Einfachen“ zu tun. Sie müssen vor allem die „Komplizierten“ und „Anspruchsvollen“ – Reckwitz würde sagen: die „Singulären“, Außerordentlichen, Besonderen mit ihrer „Hyperkultur“ – zur Rede stellen und sie kritisch fragen, ob, was sie tun und planen, ihnen selbst und dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang noch nützt. Sie müssten Foren bilden – online und offline –, um genau dieses Problem zu diskutieren. Und sie müssten den Mut haben, auch zu den „Illiberalen“ zu gehen und wenigstens einige von ihnen zum Nachdenken zu bewegen. Das ist riskant.

Zivilgesellschaft wäre heute für die Erwachsenenbildung nicht nur – wie in der Aufklärung – der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen,93 es schlösse die couragierte Entscheidung ein, sich in die Konfliktlinien zwischen „Liberalen“ und „Fundamentalisten“ zu begeben und beide Seiten ernst zu nehmen – die wechselseitige Abwehr zu respektieren und zugleich dafür einzutreten, dass Diskurse möglich sind. Dafür gibt es keine Garantie und doch – auch in spätmodernen Gesellschaften – grundsätzlich immer eine demokratische Chance. //

1   Vgl. stellvertretend die substanzielle Studie von Jean L. Cohen & Andrew Arato, Cohen, Jean L. & Arato, Andrew (1992): Civil Society and Political Theory. Cambridge/Mass. – London: MIT Press; in Deutschland die Arbeit von: Honneth, Axel (1994): Desintegration. Bruchstücke einer soziologischen Zeitanalyse. Frankfurt am Main: Fischer, bes. 80–89; außerdem: Adloff, Frank (2005): Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis. Frankfurt am Main – New York: Campus Verlag; sowie: James, Paul & Seters, Paul van (Eds.) (2014) Globalization and Politics. 4 Volumes. Los Angeles: SAGE.

2   Vgl. dazu Schumpeter, Joseph A. (1942): Capitalism, Socialism and Democracy. New York: Harper and Brothers; zur Auseinandersetzung, die vor allem in den 1950er-Jahren in den USA geführt wurde, vgl. zusammenfassend Manley, John F. (1983): Neo-Pluralism: A Class Analysis of Pluralism I and Pluralism II. In: American Political Science Review, 77 (2), 368–383.

3   Vgl. hierzu im Folgenden den Abschnitt 2.2.

4   1767 erscheint seine auch Adam Smith beeinflussende Schrift „An Essay on History of Civil Society“. Vgl. Bobbio, Norberto (1977): Gramsci e la concezione della società civile. Milano: Feltrinelli, 24; ferner: Cohen, Jean L. & Arato, Andrew (1992): Civil Society and Political Theory. Cambridge/Mass. – London: MIT Press, 90.

5   Hegel wurde durch die Schriften der schottischen Aufklärer – namentlich Adam Ferguson, David Hume und Adam Smith – durchaus inspiriert.

6   Zum Problem der sprachlichen Übertragung von „civil society“ in „bürgerliche Gesellschaft“ vgl. Bobbio (1977): Gramsci, a.a.O., 24.

7   Ich werde im Folgenden einen „weiten“ Begriff von Erwachsenenbildung verwenden, der an historische Konzepte wie „Volksbildung“ und „Arbeiterbildung“ anschließt. Vgl. dazu Alheit et al. (Hrsg.) 1990, Bd. II, S. 1004 ff.) D.h. mich interessiert nicht allein die Bildung der Subjekte, sondern auch die damit verknüpfte Formierung von Kollektiven, ja, der gesamten Gesellschaft. Deshalb ist der Blick, den ich auf die Beziehung von Erwachsenenbildung und Zivilgesellschaft werfe, historisch motiviert. Die Auswahl der Perioden und thematischen Foki, die ich dabei treffe, ist gewiss nicht vollständig, aber auch nicht zufällig. Sie bezieht sich gewissermaßen auf „Schwellenphänomene“ der Beziehung von Erwachsenenbildung und Zivilgesellschaft während der vergangenen 100 Jahre.

8   Vgl. stellvertretend Tietgens, Hans (Hrsg.) (1969): Erwachsenenbildung zwischen Romantik und Aufklärung. Dokumente zur Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoek; weiters: Wollenberg, Jörg (1990): „Republik ist schon viel…“ Gustav Radbruchs Beitrag zur Volksbildung und zur politischen Kultur. In: Gedenkschrift zum 70jährigen Bestehen der Volkshochschule der Landeshauptstadt Kiel (S. 45–112). Kiel: Stadtbücherei; zuletzt: Wollenberg, Jörg (1992): Erfahrung und konkrete Utopie. Positionen – Projekte – Perspektiven zur politischen Bildung und regionalen Kulturarbeit. Nürnberg: Bildungszentrum der Stadt Nürnberg. (Nürnberger Beiträge zur Erwachsenenbildung, Bd. IV).

9   Vgl. ausführlicher Apitzsch, Ursula (1990): Zum Arbeitsbegriff der Arbeiterbildung: Karl Korsch und Hermann Heller. In: Peter Alheit et al. (Hrsg.), Abschied von der Lohnarbeit? Diskussionsbeiträge zu einem erweiterten Arbeitsbegriff (S. 39–58). Bremen: University of Bremen Press. (Forschungsreihe des Forschungsschwerpunkts Arbeit und Bildung, Bd. 12).

10   Radbruch, Gustav (1927): Kulturlehre des Sozialismus. Ideologische Betrachtungen. Berlin: J. H. W. Dietz. Zit. nach: Will, Wilfried van der & Burns, Rob (1982): Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik. Eine historisch-theoretische Analyse der sozialdemokratisch organisierten Arbeiterschaft. Frankfurt am Main: Ullstein, 49.

11   Vgl. Apitzsch (1990): Zum Arbeitsbegriff, a.a.O., 49 f.

12   Vgl. Heller, Hermann (1971): Gesammelte Schriften. 3 Bde. Leiden: Sijthoff, 451.

13   Vgl. noch einmal Apitzsch (1990): Zum Arbeitsbegriff, a.a.O., 49.

14   Vgl. dazu ausführlich: Hoffmann, Dieter (1995): Gemeinschaft in der deutschen Erwachsenenbildung. Historische Analyse und Perspektiven für die Praxis. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang.

15   Langewiesche, Dieter (1989): Erwachsenenbildung. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. V: 1918–1945. Hrsg. von Dieter Langewiesche & Heinz-Elmar Tenorth (S. 337 f.). München: C. H. Beck.

16   Adorno verwendet diese Formulierung in seiner Rede auf dem Ersten Deutschen Volkshochschultag in Frankfurt am Main 1956. Abgedruckt in: Becker, Hellmuth (1975): Weiterbildung. Aufklärung – Praxis – Theorie 1956–1974. Stuttgart: Klett.

17   Einer bereits 1907 gegründeten Assoziation vor allem von Künstlern, aus der später auch das „Bauhaus“ hervorging.

18   Becker (1975): Weiterbildung, a.a.O., 59.

19   Becker war als Sohn eines preußischen Kultusministers der 1920er-Jahre mit dieser Tradition sehr unmittelbar konfrontiert.

20   Vgl. Friedeburg, Ludwig von (1989): Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

21   Becker (1975): Weiterbildung, a.a.O., 55.

22   Blossfeldt, Hans-Peter & Nuthmann, Reinhard (1989): Strukturelle Veränderungen der Jugendphase zwischen 1925 und 1984 als Kohortenprozeß. In: Zeitschrift für Pädagogik, 35 (6), 845–867.

23   Vgl. ausführlicher: Alheit, Peter & Dausien, Bettina (2002): Bildungsprozesse über die Lebensspanne und lebenslanges Lernen. In: Rudolf Tippelt (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung (S. 569–589). Opladen: Leske + Budrich.

24   Vgl. dazu ausführlicher: Alheit, Peter (1994b): Arbeit und Bildung im Modernisierungsprozess. Entkoppelung oder neue Synthese? In: Peter Alheit et al. (Hrsg.), Von der Arbeitsgesellschaft zur Bildungsgesellschaft? Perspektiven von Arbeit und Bildung im Prozeß europäischen Wandels (S. 26 ff.). Bremen: University of Bremen Press. (Forschungsreihe des Forschungsschwerpunkts Arbeit und Bildung, Bd. 25).

25   Vgl. ebd., 27 f.

26   Meulemann, Heiner (1990): Schullaufbahnen, Ausbildungskarrieren und die Folgen im Lebensverlauf. Der Beitrag der Lebenslaufforschung zur Bildungssoziologie. In: Karl Ulrich Mayer (Hrsg.), Lebensläufe und sozialer Wandel (S. 93). Köln: Westdeutscher Verlag. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 31).

27   Stellvertretend Mayer (1989); Mayer & Blossfeld (1990); Blossfeld (1988), (1990); Blossfeld & Huinink (1989); Blossfeld & Nuthmann (1989).

28   Vgl. Bolder (1983); Blossfeld (1990); Meulemann (1990); Mayer & Blossfeld (1990). Besonders aufschlussreich erscheint die Tatsache, dass sich die sozialstrukturell selektiven Effekte mit der Ausdehnung des Bildungsweges verschärfen und schließlich zu einer Kumulation von Ausschlussmechanismen führen; besonders aufschlussreich: Meulemann (1990).

29   Stellvertretend Rabe-Kleberg (Hrsg.) (1990); Soerensen (1990); Krüger & Born (1990a), (1990b) – für die Situation vor der deutschen Wiedervereinigung.

30   Statistisch gesehen werden Second-Chance-Qualifikationen, also Korrekturen der früheren Entscheidung für einen niederen Bildungsgang, „bestraft“. Vgl. Wolf (1985); Clausen (1986). Prinzipiell gilt, dass der quartäre Bildungssektor nahtlos an die Selektionseffekte primärer und sekundärer Bildungsgänge anschließt, sie in aller Regel sogar noch verschärft (stellvertretend Becker: 1991). Die Ausdehnung von Weiterbildungsangeboten – insbesondere dort, wo ihre Ergebnisse mit positiven Karriereeffekten verknüpft sind – erweist sich de facto als Kumulation sozialer Chancen in den Bildungsgängen und Lebensläufen einer erstaunlich kleinen (zehn Prozent der Bevölkerung nicht übersteigenden und natürlich vorwiegend männlichen) Gruppe von ohnedies Privilegierten (Becker: 1991).

31   Gramsci, Antonio (1992): Gefängnishefte. Hrsg. v. Klaus Bochmann & Wolfgang Fritz Haug. Hamburg: Argument Verlag, Heft 10, Teil II, § 15, 1267.

32   In seiner prominenten Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas: [1962] 1969) untersucht er die Entstehung und Widersprüche „bürgerlicher Öffentlichkeit“.

33   Dass diese „Öffentlichkeit“ fast ausschließlich männlich war und dass sie erwartungsgemäß Angehörige der unteren sozialen Klassen exkludiert hat, muss zumindest erwähnt werden.

34   Im vorliegenden Zusammenhang interessiert uns weniger das Phänomen des historischen „Strukturwandels“ der Öffentlichkeit als vielmehr eine jüngere Habermas-Kritik an der ökonomisch motivierten Rational-Choice-Theorie und der Luhmannschen Systemtheorie (Habermas: 1992), die durch die Thematisierung der Öffentlichkeit nahegelegt wird.

35   Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 408 ff. Dieser Nachweis gelingt Habermas deshalb besonders überzeugend, weil er an Arbeiten eines der prominentesten Vertreter des Rational-Choice-Modells, Jon Elster, zeigen kann, dass dieser etwa in seinen Analysen der verfassunggebenden Versammlungen von Philadelphia (1776) und Paris (1789–1791) das restriktive Setting einer Theorie der rationalen Wahl aufgibt und implizit bereits einen theoretischen Perspektivwechsel hin zur Diskurstheorie andeutet. (Ebd., 414).

36   Ebd., 427.

37   Ebd.

38   Ebd., 443.

39   Ebd., 435 f.

40   In diesem Zusammenhang ist noch einmal an die historische Rekonstruktion des Öffentlichkeitskonzepts zu erinnern. (Vgl. Habermas: [1962] 1969).

41   Vgl. Habermas (1992): Faktizität und Geltung, a.a.O., 429 ff.

42   Mit den Folgen dieser Dystopie für Zivilgesellschaft und Erwachsenenbildung befasst sich der dritte Abschnitt der hier vorgetragenen Überlegungen.

43   Vgl. Anders, Günther (1956): Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: C. H. Beck.

44   Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

45   Stellvertretend Zahlmann (Hrsg.) (1992); Brumlik & Brunkhorst (Hrsg.) (1993); Honneth (Hrsg.) (1993).<