„Diskretion im Netz gehört endlich gelernt.“ (S. 47). Eva Menasse, vielfach preisgekrönte Journalistin und Schriftstellerin, ist besorgt. Das Briefgeheimnis besteht zwar noch immer, allerdings ohne Relevanz für Digitales. „Digitale Dinge“ sind flüchtig, sie befinden sich jedoch in einem Raum, in dem nichts verziehen und vergessen werden kann. Zudem: Digitalisierung bringt Überfluss an Information und ansteckenden Irrationalismus.
Mit Rückblick auf die Corona-Pandemie eröffnet Eva Menasse ihren Essay. Ein Virus, zuvor als Begriff für einen Schadstoff in der Software verwendet, erzeugte ein Netz. Menschen wurden darin zu Trägern von Infektionen und zu Zahlen von Toten und Kranken auf globalen Landkarten und Statistiken.
Zugleich positionierte sich wissenschaftliches, überprüfbares Denken, das im Gegensatz zu Verschwörungstheorien ständig die eigenen Annahmen kontrollierte. Menasse schätzt die „klare Schönheit“ und die „zwingende Sinnhaftigkeit“ naturwissenschaftlichen Denkens – Richtiges und Erkenntnisse gelten nur vorläufig, schon am nächsten Tag können sie revidiert werden. Ein „Netz der Verteidigung“, eine global digital vernetzte Wissenschaft produzierte funktionierende Tests, erforschte das Virus samt Mutationen und fand wirksamen Impfstoff.
Mit gleicher Geschwindigkeit wuchs allerdings, erinnert die Autorin, „digitale Hysterie“. Überfordert von der Menge der Information, unabhängig von Bildungsstand oder finanzieller Situierung werden in der Digitalmoderne „die Unterschiede zwischen Fakten und Ansichten maximal verwischt“ (S. 29).
In einer beschleunigten Welt hängen wir süchtig an Geräten, von denen wir stets Neues erwarten. Als stärkstes Bindemittel konstatiert Eva Menasse die Empörung (S. 51): „Die Empörung ist jenes Gefühl, das die Menschen an ihren Geräten hält, sie begründet den wirtschaftlichen Erfolg der sozialen Medien.“
Für das von seiner „Natur“ her „maßlose“ weltweite digitale Netz mit seiner drohenden „Informationsapokalypse“, warnt die Schriftstellerin, sollten wir tragfähige Maßstäbe gewinnen. Ihr Buch will einen Beitrag dazu leisten. Konsequenterweise argumentiert sie dafür, sich Zeit zu lassen, gegen schnelle Urteile, gegen Vergeltung im Affekt und für einen „Einsamkeitskompetenz“. Die Autorin registriert Verluste bezüglich der Qualität wissenschaftlicher Einrichtungen wie Akademien, Universitäten und Forschungsinstituten aber auch in den komplexen, argumentativ unterlegten Debatten. Von Überforderten hört sie den Stoßseufzer (S. 78): „Ich weiß einfach nicht mehr, was ich glauben soll.“
Die Digitalmoderne bezeichnet Eva Menasse als größte Herausforderung für die menschliche Ich-Konstruktion. Die Freiheit der Nutzer werde gefeiert, die gleichzeitige Gefahr, dass Wahrheit und Realität „unterspült“ werde, kleingeredet. Verständnis und Geduld für längerdauernde Prozesse und Entwicklungen, für Zeit zum Aushandeln von Lösungen gehen verloren, daher wächst die Neigung zu kompromissloser Aktion. Eva Menasse diagnostiziert den Erwachsenen in der Gegenwartsgesellschaft kindliche Verhaltensweisen – auch die Erwachsenen wollen alles und sofort, sonst erfolgt ein Tobsuchtsanfall. Der Wunsch nach dem totalen Guten wird vorgebracht, Unverständnis widerfährt der Einsicht: Es gibt nur das „weniger Schlechte“. In die Pflicht nimmt die Autorin die saturierten Eliten, an ihnen liegt es, sinnstiftende Normen und Werte für alle zu formulieren.
Als konkretes Beispiel für den Zustand der Debattenkultur bezieht sich die Autorin auf die aktuelle Diskussion über Antisemitismus (und die „documenta 15“) in Deutschland. In den letzten Jahren ist diese wieder aufgeflammt – mit dem Problem der großen Uneinigkeit, was unter Antisemitismus zu verstehen ist und wen er besonders bedroht. Es ist ein Beispiel, wie mittels „Digitalem“ ein Thema „angeheizt“ wird, sich aber nicht für Nebenwirkungen interessiert, die auf Ungereimtheiten, Ungeduld, „aggressivem Dominanzgebaren“ beruhen. Eva Menasse berichtet auch über die Konsequenzen in der Kulturszene, die sich in Auftrittsverboten, Absagen und „cultural cancelling“ äußern. Die Autorin spricht von „hochgetunten digitalpublizistischen Schlachten“, in denen nicht differenziert und der Bezug zur Lebenswirklichkeit und Sicherheit – in ihrem Beispiel von Juden in Deutschland – nicht hergestellt wird.
Digitale Massenkommunikation, folgert Eva Menasse, pflegt nicht den Kompromiss des Miteinanders, sondern will, um zu herrschen, Eindeutigkeit. Gefahr, meint sie, geht von den „Unerbittlichen“ aus. Sie folgert gegen Ende ihres Essays (S. 182): “Wir wären glücklicher und friedlicher, wenn wir nicht immer alles wissen wollten.“ Nach der Lektüre wohl ein Satz, der nicht abschließt, sondern zum Nach-Denken einlädt.
Das Buch empfiehlt sich für Teilnehmer-*innen und Erwachsenenbildner*innen, die in Kursen, Seminaren, Arbeitskreisen, Vorträgen und Diskussionen die „Digitalmoderne“ als Herausforderung annehmen. Mit dem Ziel, der Vielfalt menschlicher Existenz und ihrer intellektuellen Komplexität Erfreuliches abzugewinnen sowie im Zusammenleben mit anderen, Sinn für die eigene Identität zu finden. Ein Buch für Menschen, die sich gemeinsam mit anderen in Differenzen erleben, erfahren und dadurch bilden wollen. //
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