Lorraine Daston: Regeln. Eine kurze Geschichte.

Lorraine Daston: Regeln. Eine kurze Geschichte.
Berlin: Suhrkamp 2024, 2. Auflage, 432 Seiten.

Ein Buch über alle Regeln kommt einer Geschichte über die Menschheit gleich. Keine Kultur kommt ohne Regeln aus. Sie sind so selbstverständlich wie unverzichtbar. Regeln sind nicht gleichförmig, in ihren Inhalten und Formen treten sie in großer Vielfalt auf. 

In ihrer Einleitung erklärt Lorraine Daston, Universitätsprofessorin und emeritierte Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin (S. 15): „Regeln definieren soziale und natürliche Ordnungen mittlerer Größe und bewegen sich stets im mittleren Bereich zwischen den Extremen der Sicherheit und des Zufalls, der Allgemeinheit und der Bestimmtheit, der vollkommenen Ordnung und des reinen Chaos.“ 

Leserin und Leser werden auf den Tenor des Buches eingestimmt: Regeln bringen nicht nur Festlegungen, sondern immer auch Ausnahmen, nicht nur Klarheit, sondern immer auch Ermessenspielräume mit sich. Von bestimmter Unbestimmtheit und vor allem, „dass es keine Regeln gibt, die uns bei der Diskussion über Regeln helfen können“ (S. 329) handelt diese „Geschichte großer Zeiträume“. Als Historikerin schätzt sie solche, denn dadurch werden aktuelle Gewissheiten erschüttert und unser Sinn für Denkbares angeregt.

Ihrem Thema nähert sich Lorrain Daston auf semantischem Wege. Das altgriechische Wort „kanon“ und das altlateinische „regula“ stellt sie im historischen Kontext mit der Verwendung in der Bauwirtschaft, bei mathematischen Berechnungen und schließlich, im übertragenen Sinn, als Maß für Rechtschaffenheit und Richtigkeit, dar. 

Exemplarisch für unsere Kultur dient der Autorin die vor Mitte des 6. Jahrhunderts entstandene „Benediktsregel“ – Leitlinie für das Leben im Benediktinerkloster. Deutlich verweist die Autorin auf die Grenzen dieser Regelung. Dem Abt, erster Stellvertreter des Göttlichen und nachzueiferndes Vorbild, bleibt um der Billigkeit – discretio (lateinisch discernere: trennen, unterscheiden) – willen, ein Spielraum des Ermessens, um ein endgültiges Urteil zu fällen. Dies soll aber nicht willkürlich, sondern mit Blick auf die Individualität der Mönche und der jeweiligen Situation geschehen. Davon ausgehend diskutiert die Autorin in den weiteren Kapiteln die sich wandelnden Bedeutungen der Begriffe „Vorbild“, „Modell“, „Paradigma“ und „Beispiel“. Dies erfolgt unter der Prämisse, zu Regeln gehören Ausnahmen. 

Für die historische Erforschung der Anfänge der Erwachsenen-/Weiterbildung weckt der Verweis der Autorin auf Ratgeberliteratur im 16. Und 17. Jahrhundert Interesse. Durch Erhebung zu „Künsten“ – Bergbaukunst, Ingenieurskunst, Kochkunst aber auch Festungsbau, Landwirtschaft und diverse Handwerke wie z. B. Färberei – entstand Wissen, das durch Regeln geordnet und gesichert wurde. Zahlreiche Bücher mit praktischen Anleitungen wurden – mit dem Anspruch lehrbares Wissen/Handwerk zu vermitteln – verfasst, um der jeweiligen Praxis auch intellektuelles Ansehen zu verschaffen. Markantes Beispiel ist ein 1525 von Albrecht Dürer (1471–1528) publiziertes „Lehrbuch der Geometrie“ für Maler, Bildhauer, Goldschmiede, Steinmetze, Schreiner et cetera, also für jene, die „ein Maß“ gebrauchen. Charakteristisch für Erwachsenen-/Weiterbildung ist, dass sich diese Werke nicht an Anfänger, sondern an Personen, die schon Erfahrungen in ihren Handwerken hatten und sich darin verbessern wollten, richtete. Die Autorin urteilt (S. 91): „Es ging nicht darum, Ahnungslosen etwas beizubringen, sondern das Niveau der Praxis von Routine auf Reflexion zu anzuheben.“

Zum einen findet sich hier, was später in der Bildungsdiskussion unter „sich verbessern/erhöhen“ oder heute unter „sich optimieren“ angesprochen wird, mit dem Ziel mehr geachtet und für gute Produkte entsprechend gut honoriert zu werden. Zum anderen ging es um die Verbindung von Kopf und Hand – Pestalozzi (1746–1824) forderte als Pädagoge die Verbindung von „Kopf, Herz und Hand“.

Resümee: Regeln sollten helfen, sich zu bilden – nämlich vom Minderwertigen zum Höherwertigen, ohne aber die Eigeninitiative zu ersticken, sondern sogar, um zu eigenen Erfindungen anzuregen. 

Anhand der Bekleidungsregeln zeigt die Autorin, wie Vorschriften umgangen wurden. Die jeweiligen Untersagungen modischer Designs überholten aber die damaligen Modeschöpfer rasch mit neuen Entwürfen. Die Autorin folgert aus diesen Beispielen für „Regelversagen“, dass zu viele Vorschriften hindern, sie durchzusetzen.

Am Beispiel von Naturgesetzen und Naturrecht erörtert die Autorin heute aktuelle Fragen „universeller Gesetzlichkeit“. Das abschließende Kapitel thematisiert „das Biegen und Brechen von Regeln“. Unter Hinweis auf die Kasuistik, die Betrachtung von Einzelfällen, vermerkt die Autorin, diese teste Regeln, bevor sie gebeugt oder wir in Ungewissheit gelassen werden. So wenig, wie ein echter Fall abschließend entschieden werden kann, lasse sich auch eine Regel nie ohne Ermessen anwenden, folgert die Autorin. 

Abschließend hebt Lorraine Daston das Wertvolle an Regeln hervor. Jede noch so starre Regel gibt Gelegenheit zum Nachdenken: Ob wir sie befolgen oder umgehen, dazu brauchen wir wichtige Fähigkeiten wie „Urteilsvermögen, Ermessen und Denken in Analogien“ (S. 329). 

Das Buch gibt für die wissenschaftliche Erforschung der Erwachsenen-/Weiterbildung Anregungen, ist daher für Bibliotheken und Professionalisierung von Interesse. Außerdem eignet es sich für Lehrende und Teilnehmer*innen im historischen, gesellschaftlichen und politisch-bildenden Bereich. //

Lenz, Werner (2024): Lorraine Daston: Regeln. Eine kurze Geschichte. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr/Sommer 2024, Heft 282/75. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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