Im Januar 2025 erschien die Autobiografie des heute vielfach vergessenen, aber im Stillen nachhaltig wirkenden Erwachsenenbildners Johannes Weinberg mit dem Titel „Das Zentrum sind für mich die Lehr-Lern-Prozesse. Leben lernen in Deutschland 1932 bis 2024“. In diesem Werk schildert Weinberg seine eigene Lebensgeschichte, immer eng verbunden mit den historischen und pädagogischen Entwicklungen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Er reflektiert darin nicht nur seinen eigenen Weg in die Erwachsenenbildung und deren zunehmende Bedeutung, sondern verknüpft diese Bestrebungen stets auch mit den grundlegenden Fragen nach den zugrundeliegenden Dimensionen von Demokratie und Aufklärung im moralischen Wiederaufbau Deutschlands. Weinbergs Engagement in der Erwachsenenbildung, die er als befreiendes und gesellschaftlich wichtiges Projekt ansieht, zeigt auf anschauliche Weise, was erforderlich ist, um Menschen zu fördern, damit sie ihre Welt bewusst und kritisch betrachten, politisch informiert und aktiv daran teilnehmen können, unangemessene Anforderungen hinterfragen und rational zu handeln imstande sind. 1932 in Potsdam geboren, war für ihn schon früh „politisches Lernen“ ein wesentlicher Aspekt seines Handelns (z. B. in der Christlichen Pfadfinderschaft). Er studierte Germanistik, Geschichte und Pädagogik und begann seine berufliche Laufbahn 1962 als pädagogischer Mitarbeiter beim Hessischen Landesverband für Erwachsenenbildung in Frankfurt am Main. Von 1964 bis 1971 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Pädagogischen Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbandes, zunächst zuständig für Internationale Erwachsenenbildung und Arbeitsplananalysen. Ab 1971 lehrte er als Hochschullehrer für Allgemeine Pädagogik mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung und Außerschulische Jugendbildung an der Pädagogischen Hochschule und später an der Universität Münster, wo er bis zu seiner Pensionierung 1997 tätig war. Weinberg hat empirisch gearbeitet (z. B. zur Entwicklung der gewerkschaftlichen politischen Bildung in Nordrhein-Westfalen), zusammen mit Horst Siebert den „Literatur- und Forschungs-Report Weiterbildung“, heute bekannt als „Zeitschrift für Weiterbildungsforschung“ gegründet und zahlreiche Werke zur Erwachsenenbildung veröffentlicht (z. B. die vielfach verwendete „Einführung in das Studium der Erwachsenenbildung“ oder „Menschenbild und Menschenbildung“).
Sowohl sein universitäres Lehren und Lernen als auch seine Tätigkeiten in der Pädagogischen Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbandes hatten stets eine gesellschafts- und demokratiepolitische Dimensionierung. Seine Absicht, individuelles Lernen durch ein didaktisch stimulierendes Projekt in der konkreten Bildungspraxis hin zu den Anderen, zur Gesellschaft zu öffnen, konnte für ihn nur erfüllt werden, wenn die Lernenden aktiv in den kollektiven Problemlösungsprozess einbezogen werden. Lernen birgt in diesem Sinn stets etwas Demokratisches (lernen von Allen) in sich, und hat auch damit zu tun, dass die Lernenden in direktem Kontakt mit der sie betreffenden Realität begriffen werden müssen. Es wird dabei von der Praxis, und nicht über die Praxis gelernt. Erst durch diese Verbindung von Lebenswelt und kritischem Austausch zwischen Lernenden und Lehrenden, kann der Überhang an Gedachtem, Ausgedachtem, Gewusstem wieder der Korrektur durch die Wahrnehmung oder Erfahrung ausgesetzt werden. „Beim Schreiben von Aufsätzen wie ‚Regionale Lernkultur und Kompetenzentwicklung‘ oder ‚Weiterbildung, Kompetenzentwicklung und innovatorische Lernkulturen für morgen‘ wurde mir bewusst, dass die Erwachsenenpädagogik angesichts solcher und anderer ungewöhnlicher andauernden Lernkonstellationen ihr bestehendes Wissenschaftskonzept grundlegend überdenken sollte“ (S. 171). Wenn Lehren und Lernen auch in erwachsenenspezifischen Strukturen die Erfahrungsarmut weiter vertieft, werden die im Handeln erkannten Schwierigkeiten und Chancen kaum tatsächlich bearbeitbar gemacht werden können. Aber zwischen dem Selbstverständlichen der Lebenswelt und dem Unverständlichen im Lernprozess liegt ein offenkundiges Problem. Es ist das Problem, wie man der Lebenswelt Sprache gibt und wie man die eigene Erfahrung, die nicht planbare, nicht begründbare, nicht kategorisierbare Wirklichkeit mündig macht, ohne die gesicherte Erkenntnis beiseite zu schieben. Weinbergs Antwort darauf ist die Betonung der Situationen: „Ich verstand mich als Hochschullehrer, dessen Aufgabe darin bestand, Studierenden eine Gesprächssituation zu ermöglichen, in der sie unter meiner Leitung und Beteiligung miteinander über wissenschaftliches Wissen einen Gedankenaustausch betreiben können“ (S. 134). Diesen Weg empfiehlt er auch für die Erwachsenenbildung, indem der „Lehrplan“ um die Bedürfnisse und Interessen der Teilnehmenden gestaltet wird. Jede erwachsene Person befindet sich in solchen Situationen in Bezug zur Arbeit, zur Privatsphäre, zum Gemeinschaftsleben, deren Bedeutungen sich nicht nur an den Begründungen, sondern vor allem an den Wirkungen ermessen lassen. Diese gemeinsame Erarbeitung gibt der Erwachsenenbildung ihre legitimierende Kraft, denn „[…] bei allem Wandel der Lernwelten wird das organisierte Lehren und Lernen weiter stattfinden“ (S. 171). //
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