Woher kommt das Unbehagen in der Gesellschaft, fragt der renommierte Soziologe, Armin Nassehi, von der Ludwig-Maximilian-Universität München? Er verweist auf den Ursprung dieser Frage, indem er eine andere oft gestellte Frage zitiert: Wie können Menschen so viel Leid und Problematisches zulassen, obwohl sie bereits so viel an Wissen erworben und so viele Mittel angehäuft haben, um Probleme zu lösen? Dieses Unbehagen, selbsterzeugte Probleme nicht lösen zu können, problematisiert der Soziologe in seinem Buch.
Die Thematik, die der Hochschullehrer Nassehi seinen Studierenden gegenüber artikuliert, zeugt von Unbehagen in der modernen Gesellschaft über Probleme, die zweifach selbsterzeugt sind: zum ersten, weil sie direkt aus der gesellschaftlichen Praxis stammen (Klimawandel, soziale Ungleichheit, destruktive Waffensysteme), zum zweiten, weil gesellschaftliche Instanzen (Politik, Recht, Ökonomie) nur selektiv Probleme in den Blick bekommen, die wieder nur selbsterzeugte Lösungen erlauben. Nassehi will „diese radikale Immanenz der Gesellschaft“ rekonstruieren. Covid-Krise und Klimakrise dienen als Illustration – der Autor wollte kein „Krisenbuch“ verfassen. Er hat sich zum Ziel gesetzt, „die Immanenz von Krisen und ihre Bearbeitungsform“ verständlich darzustellen. Für ihn sind Krisen beständiger Teil der modernen Gesellschaft. Darauf konzentriert sich der Autor in seinem Buch – auf „ die Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst, die sich in krisenhaften Selbsterzählungen äußert“ (S. 25).
Mit systemtheoretischem Selbstverständnis analysiert der Soziologe und er differenziert Sinndimensionen in Verarbeitungsformen, wie wir Wirklichkeit ordnen und sehen. Er unterscheidet: „Sozialdimension“, die Frage nach dem „Wer“, „Sachdimension“, die Frage nach dem „Was“ und „Zeitdimension“, die Vergangenheit und Zukunft trennt.
Analog zum Problem der Theodizee positioniert der Autor die Soziodizee. Erstere fußt auf der Frage, warum ein allmächtiger Gott so viel Leid zulässt – aber eine eindeutige Rechtfertigung scheint menschlicher Vernunft nicht möglich. Nassehi bestimmt die Moderne als „ein Kind der Krisenerfahrung“, in der die Menschen, statt der Allmacht eines höheren Wesens zu vertrauen, selbst Verantwortung für die Welt und ihre Gestaltung übernehmen müssen.
In diesem Sinn gibt es keine Rechtfertigung für den gesellschaftlichen Status quo. Die Gesellschaft ist in verschiedene Systeme aufgeteilt, urteilt der Systemtheoretiker Nassehi, um „gesamtgesellschaftliche Strategien“ zu ermöglichen. Die Gesellschaft ist leistungsfähig, wenn auch fehlerhaft, wo sie konkrete Lösungen anbietet, aber sie ist unzureichend, wenn grundlegende Lösungskonzepte gefordert sind. Als Gesellschaft der Gegenwarten ist sie ein komplexes System, das sich in „unterschiedliche eigensinnige Formen ausdifferenziert hat“ (S. 93). Das Unbehagen, diagnostiziert der Autor, besteht daher nicht aufgrund von Krisen, wie z. B. Covid oder Klima, sondern am Scheitern der Gesellschaft an sich selbst.
Mit Bezug auf den Begriff der Latenz – etwas ist vorhanden, tritt aber nicht in Erscheinung – befindet Nassehi: Wenn „Latenzschutz“ verloren geht, wachsen Unbehagen und Überforderung an. Für den Autor hat sich am Beispiel der Covid-Pandemie die Gesellschaft als unregierbar herausgestellt. Als den größten Wunsch der Menschen bezeichnet er „Latenzschutz“ zu genießen, denn (S. 328): „Eine durchschaubare Welt ist eine unsichere Welt.“ Nicht so genau hinsehen zu müssen, ist erstrebenswert. Aber das ist zugleich, urteilt Nassehi, ein Angriff auf die aufklärerische Haltung, auf das „akademisch-professionelle Selbstverständnis“, das der Meinung ist, angemessene Erklärungen würden einsichtiges Verhalten bewirken.
Somit stellt der Autor auch Bemühungen, die sich unter dem Etikett „die Welt neu denken“ zusammenfassen lassen oder sogenannte „Modelle der Transformation“, in Frage.
Nassehi argumentiert nicht gegen das Wissen oder gegen notwendige Wandlungsprozesse, sondern er meint: Nicht die großen Transformationen, sondern die eher langsame Gewöhnung, nicht die disruptiven Veränderungen sondern die evolutionären, die den Wunsch nach Latenz nicht beseitigen, wirken. Praktisches Bewähren unterstützt Veränderung eines Verhaltes, das sich langsam in sozialen Systemen einnistet und „Latenzschutz“ beibehält.
Konsum, folgert Nassehi in einer von ihm selbst als „ätzend“ bezeichneten Formel, ist womöglich leistungsfähiger als Bildung! Mehr Wissen, wie die Dinge sein sollen oder mehr Verhalten, das sich praktisch bewährt? Es geht darum, sich in Differenzen aneinander zu gewöhnen und dadurch zu Lösungen zu kommen, denn Wissen allein ist in einer Gesellschaft, die von Zielkonflikten, Differenzierungen und Eigendynamiken geprägt ist, nicht ausreichend. Wir sollten, meint Nassehi abschließend, aus dem Wunsch nach „Latenzschutz“, aus dem größten Wunsch aller, nicht so genau hinschauen zu müssen, lernen, wie Krisen zu bewältigen sind, „denn der Krisenmodus scheint nicht wirklich geeignet zu sein, um Krisen zu meistern“ (S. 339).
Für die Bildungstätigkeit weist das Buch auf die relative und begrenzte Wirkung von Bildungsangeboten hin. Es stärkt Vertrauen, durchaus durch Bildungs- und Lernprozesse angeregt, langsame, evolutionäre Veränderungen zu erreichen, die auf bewährter Praxis basieren. Das stringent argumentierte und wissenschaftlich anspruchsvoll verfasste Buch, gehört in die Kategorie Gesellschaft, Politik und Kultur. Es sollte in wissenschaftlich ausgerichteten Bibliotheken nicht fehlen. //
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