Judith Kohlenberger: Wir.

Judith Kohlenberger: Wir.
Wien: Verlag Kremayr & Scheriau 2021, 105 Seiten.

„Wir“ ist ein Konstrukt. Dem ist nach kurzem Nachdenken zuzustimmen. Gibt es mehrere „Wir“, denen wir angehören? Wer gehört zu welchem Wir? Wer wird davon ausgeschlossen? Auf welche Weise werden wir zu einem größeren Wir? Diese und andere Fragen beschäftigen die österreichische Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger. In ihrem übersichtlichen, verständlich formulierten Buch gibt sie klare Antworten. 

Judith Kohlenberger schreibt mit optimistischer Feder. Sie plädiert für ein Wir, das nicht andere ausgrenzt und abwehrt, sondern ein Miteinander und ein Füreinander betont, aber Debatten, Diskussionen und auszutragende Konflikte nicht scheut. Es geht nicht um ein „Gleichmachen“ sondern um ein Wir, „[…] in dem auch das Du und das Ich Platz haben“ (S. 16). Zu dieser Vision will das Buch beitragen.

Ausgangspunkt für die Autorin ist: Es gibt nicht ein Wir, sondern viele. Die Familie, der Sportverein, die Region, die Nation u. a. können jeweils ein Wir repräsentieren. Mit der Globalisierung sind die Möglichkeiten noch vielfältiger geworden. Sehr schnell macht die Autorin klar: Wir ist nicht festgefügt, es bleibt flüchtig, fluid, flüssig. Das Wir war nie homogen, erläutert Judith Kohlenberger, die gemeinsamen Merkmale waren und sind nie absolut und universell, sondern vom Kontext abhängig und in ihrer Bedeutsamkeit variabel. 

Aufgrund unserer verschiedenen sozialen Rollen gehören wir alle einem diversen Wir an. Zugehörig zu sein, bringt Rechte und Macht, es bedingt unsere Lebenschancen. Ein Wir-Gefühl wird für das eigene Leben – so belegen Befragungen – sehr wichtig genommen. Nachdrücklich hält die Autorin fest: Das Wir inkludiert und exkludiert, es definiert, was wir nicht sind – wir sind nicht die anderen!

Kernaussage von Judiths Kohlenbergers Reflexionen ist: Das jeweilige Wir entsteht über längere Zeiträume und bleibt prozesshaft. Am Beispiel des Wahlrechts wird dies gezeigt, ein anderes Beispiel wäre der Zugang von Frauen zur Bildung und zur akademischen Gemeinschaft.

Judith Kohlenberger schlägt als Definition vor (S. 27): „Das Wir ist ein ständiger Streit, den wir aushalten müssen.“ Anstelle schaler Harmonie präferiert die Autorin produktive Konflikte. Hinter Konflikten steht letztlich die Debatte um die Verteilung materieller Güter. In Gesellschaften wie unserer, in denen das Wir bunter und vielfältiger geworden ist, entsteht ein „Integrationsparadox“: Gelingende Integration erhöht Konfliktpotenzial. Denn die gegenseitige Annäherung und der intensivere soziale Austausch bewirken eine vermehrte, oft auch mühsame und anstrengende Auseinandersetzung miteinander. Judith Kohlenberger spricht von „Wachstumsschmerzen“ in einer Streitkultur, in der man nicht wegschaut oder still duldet, es aber auch nicht zum offenen Kampf kommen lässt. 

Direkt und indirekt schlägt die Autorin gesellschaftliches Lernen vor: zu lernen mit Bedrohungen zu leben, aber auch zu lernen von Pluralität zu profitieren. Zum gesellschaftlichen Lernen zählt auch, sich abzugrenzen, nicht aber andere durch „Othering“ („Fremdmachung“) abzuwerten. Ein Leitsatz der Kulturwissenschafterin lautet (S. 75): „Beenden wir Ausgrenzung und stärken die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, so stärken wir alle.“

Die Lektüre schärft politisches Bewusstsein für die soziale Dynamik und Bedingtheit unserer Existenz. Ein im besten Sinne populärwissenschaftliches Buch, das mit klarer Sprache die Komplexität des Zusammenlebens mit vielen aktuellen Beispielen die gesellschaftspolitische Entwicklung verdeutlicht. 

In ihrer Forderung nach gesellschaftlichem Lernen, wozu institutionalisierte Erwachsenenbildung beitragen kann, vergisst die Autorin aber nicht auf den Beitrag jedes/r Einzelnen: Stereotypen im Denken, Sprechen und Handeln zu überprüfen, sowie auf jene Situationen zu achten, in denen wir von einem – andere ausgrenzenden – sozialen System profitieren. 

Wer zum Wir gehören will, schreibt die Autorin gegen Ende ihres Buches, soll sich dafür auch verantwortlich fühlen. Praxisorientierte Konsequenzen für alle Ebenen des Bildungswesens lassen sich leicht daraus ableiten. 

In der Erwachsenenbildung können und sollen diesbezügliche Bildungs- und Lernprozesse – vor allem im Hinblick auf die Zielsetzung Integration – gefördert werden. Das Buch bietet interessante Anregungen dafür. //

Lenz, Werner (2021): Judith Kohlenberger: Wir. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr/Sommer 2021, Heft 273/72. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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