David Graeber/David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit.

David Graeber/David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit.
Stuttgart: Klett-Cotta 2022, 667 Seiten.

Über die Anfänge der Geschichte der Menschheit wissen wir nicht sehr viel – vor allem nicht, wie sich das soziale Zusammenleben gestaltet hat. Überdeckt wird diese Geschichte meist von einem bestimmten Narrativ: Am Anfang bestanden paradiesische Zustände, aus denen sich unsere Vorfahren verabschiedet haben. Mit Einsetzen des großflächigen Betreibens von Landwirtschaft wurde es unmöglich, ohne Hierarchien und ohne soziale Ungleichheit zu leben. In der jüngeren Geschichte, in der imperialen Inbesitznahme der Welt ab dem 16. Jahrhundert durch Europäer, waren es überlegene Weiße, die „unschuldigen Wilden“ Zivilisation brachten.

David Graebner (1961–2020), ein Anthropologe und David Wengrow (geb. 1972), ein Archäologe an der Universität London, haben über zehn Jahre Informationen und Forschungsergebnisse zusammengetragen, um solche und ähnliche Narrative sowie Mythen über die Vergangenheit der Menschheit in Frage zu stellen. 

Die beiden Wissenschafter nehmen in ihrem Denken einen Wechsel der Perspektive auf die Geschichte vor. Sie lösen sich von eurozentrierten Darstellungen und der Great-Man-Theorie. Diese besagt, nur jeweils einzelne Denker und nicht prozessuales kollektives Denken hätten große Theorien hervorgebracht. Die Autoren berücksichtigen verstärkt indigenes Denken, das offensichtlich europäische Intellektuelle inspiriert hatte. Ausgewertet wurden dafür Berichte und Schriften von Reisenden und Missionaren. Daraus ersichtlich wird Kritik an europäischen Verhaltensweisen durch Indigene. Sie monieren mangelnde Freiheiten und „entdecken“ den Begriff der Ungleichheit. Die damalige Beliebtheit solcher Berichte erklären die Autoren: Es wurde die Existenz von Gesellschaften bekannt, „die alles ganz anders machten“. 

Eine klare Intention der Autoren ist zu erkennen. Sie wenden sich gegen die Erzählung einer ursprünglichen „Unschuld“ der Menschheit, die „unwissentlich in ein Abenteuer technologischer Entdeckungen aufbrach“ (S. 41). Mit der neuen Herrschaft über große Teile der Welt öffnete sich plötzlich für europäische Denker Zugang zu bis dahin unbekannten gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Vorstellungen. Diese Überflutung mit neuen Ideen wurde schließlich als Zeitalter der ‚Aufklärung‘ bekannt“ (S. 43). Doch indigene Kritik wurde bald als gefährlich angesehen. Sie bedrohte das europäische Modell, das den Verlust der Freiheit an den Fortschritt der Zivilisation koppelte und mit komplexer werdenden Gesellschaften verband.

Auch „Staatenbildung“ gibt den Autoren ein Beispiel, dass es sich dabei nicht um ein einmaliges und keinesfalls gleich verlaufendes Geschehen handelt. Sie sehen Staatenbildung als verwirrendes Spektrum von Bedeutungen, wobei drei Prinzipien zur Geltung kommen: Souveränität, Verwaltung und politischer Wettbewerb. Bei den uneinheitlichen Zeugnissen, die es für Schlussfolgerungen gibt – neue Techniken und Methoden der Archäologie lassen ständig „frühe Staaten“ oder „verlorene Zivilisationen“ entdecken – scheinen Wandmalereien durchgängig auf. Die Autoren sprechen von einer Art „anthropologischer Konstante“, die die Gattung Mensch von Anfang an in jedem Kulturkreis hinterlassen habe.

Graeber und Wengrow bezweifeln, dass der Weg zur heutigen Staatsform als Höhepunkt geschweige denn als unvermeidliche Entwicklung anzusehen sei. Beharrlich bleiben aber derartige traditionelle Interpretationen im Bewusstsein, weil für viele schwer vorstellbar ist, Geschichte sei nicht auf ein Ziel bezogen und viele nicht davon ausgehen können, zu den heutigen Verhältnissen gäbe es Alternativen. 

Die nordamerikanischen Ureinwohner, so belegen die Autoren, waren keine „unschuldigen Naturkinder“, sondern Erben einer anderen Geschichte. Dies zeigt sich zum Beispiel im Tal des Mississippi an ursprünglichen Kleinstädten, an geometrischen Erdwerken, an einem eigenen Messsystem oder an einer „spielerischen Landwirtschaft“. Diese geht einher mit sich verändernden Strukturen und unterschiedlicher Art der Güterverteilung. Es handelt sich um Prozesse, die sich über Jahrtausende erstreckten, weshalb der Begriff „landwirtschaftliche Revolution“ abzulehnen ist – es gab, nach Ansicht der Autoren, keinen „Garten-Eden-Zustand“, auf den Ungleichheit und Privateigentum zwingend folgten. 

Woran die Verbesserung menschlicher Gesellschaften scheiterte? Ob die Menschen die Freiheit verloren, andere Formen sozialer Existenz zu entwerfen, antworten fragend die Autoren. 

Bei der Aufarbeitung archäologischer Befunde der letzten drei Jahrzehnte, und um solche Fragestellungen zu beantworten, bemerken die Autoren, dass die Debatte um die frühe Geschichte der Menschheit vor einer neuen Betrachtungsweise steht. Dazu fehle aber nicht nur Fachliteratur, z. B. über frühe „egalitäre“ Städte, über Vergleiche zwischen Gesellschaften oder Gruppen oder über demokratische Entscheidungsprozesse. Es fehlt auch an einer geeigneten Sprache. Ist eine Stadt ohne Top-down-Strukturen ein „egalitäre Stadt“?

Resümierend lässt die Lektüre erkennen: Zivilisation ist kein „Sündenfall“, mit unvermeidlicher „Massenversklavung, Völkermord, Straflager, ja sogar Patriachat oder die Produktion durch Lohnarbeit hätten niemals geschehen müssen“ (S. 558). Andere Konzeptionen für menschliche Gesellschaften hatten bestanden und sind möglich – auch in unserer Gegenwart. Unsere Aussichten, erfolgreich in Gegenwartsgesellschaften einzugreifen, halten die Autoren für „weitaus größer, als wir zu denken geneigt sind“ (S. 558).

Das Buch zerstört Mythen und öffnet dem Denken zur Freiheit neue, alternative Formen sozialer Realität zu schaffen. Politische Aufklärung und das Bemühen um ein friedliches soziales Miteinander sind kein Monopol einer kurzen europäischen Geschichte, sondern eine Konstante einer viel, viel älteren Geschichte der Menschheit.

Angesichts der vielen Krisen ein lehrreiches Buch! Was aus der Geschichte doch zu lernen ist! Die Lektüre gibt Vertrauen in die Kreativität der Menschen und nicht zuletzt in das politische Potenzial, sich zusammenzusetzen, um sich auseinanderzusetzen. //Ein Buch, geeignet für die Bereiche Politik, Gesellschaft, Kultur und für ein erweitertes humanes Menschenbild. //

Lenz, Werner (2022): David Graeber/David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2022, 667 Seiten. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Sommer 2022, Heft 276/73. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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