Ein guter Erwachsenenbildner sein. Lernen aus den Erfahrungen von Paul Bélanger

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Paul Belanger während des Weltkongresses des Internationalen Rates für Erwachsenenbildung (ICAE 2015) in Montréal, mit Nelida Cespedes aus Peru und Astrid von Kotze aus Südafrika.
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Ein guter Erwachsenenbildner ist kein Intellektueller, der die Welt durch seine theoretischen Abhandlungen begreift, sich hinter seinem Laptop versteckt und mit anderen über innovative Apps interagiert. Ein guter Erwachsenenbildner ist ein Bildungspraktiker, der gemeinsam mit anderen Ideen durch soziale und transformative Praxis entwickelt.

Ein Erwachsenenbildner ist jemand, der weiß, wie man Gelegenheiten für das autonome Wachstum Anderer schafft, der Organisationen leitet, in denen Menschen leben, arbeiten und lernen, der Strategien für die intellektuelle Entwicklung aller entwickelt, der sich mit lokalen, nationalen und internationalen politischen Leitlinien zur Förderung der Freiheit der Erwachsenenbildung auseinandersetzt und der Forschung, Reflexion und „Erzählungen“ fördert, die helfen, sich in der Komplexität der Erwachsenenbildung zurechtzufinden.

Eine wunderbare Herausforderung. Die Fähigkeit, auf mehreren Ebenen zu arbeiten, ist eine seltene Eigenschaft, insbesondere, wenn es sich um Menschen handelt, die in der Wissenschaft und in internationalen Organisationen tätig sind.

Die Biographien außergewöhnlicher Persönlichkeiten helfen, zu verstehen, welche Fähigkeiten die Arbeit eines Erwachsenenbildners herausragend und gesellschaftlich nützlich machen.

Paul Bélangers Leben ist ein unerschöpflicher Quell des Lernens. Seine Lebensgeschichte kann uns dabei helfen, die Verbindung von Leben und Arbeit zu verstehen, die es einem ermöglichen, einen außergewöhnlichen Beruf mit Leidenschaft und Freude auszuüben.

Konsistenz und Sozialethik

Von Pauls Lebensweg zu lernen bedeutet vor allem, zu verstehen, dass Exzellenz nicht von der institutionellen Rolle abhängt, die man innehat, oder von den Techniken, die man beherrscht. Das Ziel seiner Arbeit lag in der Verfolgung von sozialen Emanzipationszielen und beruhte auf der individuellen Fähigkeit, diese Ziele zu erreichen, unabhängig von der sozialen und beruflichen Position. In dieser Hinsicht hatte Paul Glück und war vollkommen transparent. Paul verstand es, von allen zu lernen; er hatte seine Mentoren. Aber der wichtigste Wegweiser für diesen hervorragenden Erwachsenenbildner waren die sozialen Bewegungen und Netzwerke, die ihn sein ganzes Berufsleben begleiteten.

Paul begann sein langjähriges Engagement in den 1960er-Jahren als Teil der Studenten- und Arbeiterbewegung in Québec. Er arbeitete als Animateur für einen progressiven Filmclub, der interessante Filme zu den Themen Politik, Kultur und Zukunft zeigte und diskutierte. 

Während seiner gesamten beruflichen Laufbahn war er mit sozialen Bewegungen verbunden. Selbst als er in den 1990er-Jahren die treibende Kraft für die Confintea V war (vielleicht immer noch die wichtigste aller UNESCO-Konferenzen), war sein wichtigstes Bestreben, den sozialen Bewegungen weltweit eine führende Rolle zu geben. Zur Stärkung der Erwachsenenbildung braucht es gute politische Leitlinien. Aber die Freisetzung der kreativen und transformativen Kräfte der Bürger*innen hängt von der Existenz einer organisierten und nicht von außen gesteuerten Zivilgesellschaft ab. Aus diesem Grund zielte seine Arbeit in erster Linie darauf ab, die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft zu stärken.

Die Suche nach dem Sinn

Bildung und Forschung waren in Pauls Arbeit immer miteinander verbunden. Erwachsenenbildung lebt von Idealen und von gesundem Menschenverstand. Deshalb muss sie sich aber auch ständig bewusst sein, für welchen Sinn, welche Funktion und welche Perspektive man arbeitet. Handeln und Nachdenken nicht für nutzlose akademische Übungen zeichnet einen guten Praktiker aus. Nachdenken, Forschen und Publizieren haben Pauls Arbeit immer begleitet. Aber er war nie ein Einzelgänger. Paul förderte Forschungsprogramme und ermutigte Forscher aus der ganzen Welt, sich an ihrer Verwirklichung zu beteiligen. Es ist kein Zufall, dass viele seiner Schriften das Ergebnis der Zusammenarbeit mit etlichen anderen Autoren aus der ganzen Welt und aus zahlreichen Disziplinen sind.

Bereits in jungen Jahren, im Jahr 1968, begann Paul als Forscher am Institut de coopération pour l’éducation des adultes zu arbeiten. Später war er Direktor des Institut de recherche appliquée sur le travail (1988–1989), dann Direktor des UNESCO Institute for Education (1989–2000) und schließlich Direktor des Centre de recherche interdisciplinaire sur l’éducation permanente und des Observatoire Compétences-Emplois.

Das individuelle Recht auf lebenslange Bildung jenseits der Rhetorik

Das Prinzip, die Leitidee der Erwachsenenbildung bestand für Paul in der Bekräftigung des individuellen Rechts auf Bildung und Lernen von der Wiege bis zum Grab. Bildung ist ein unveräußerliches Recht, das auf Neugier, Freiheit und Menschenwürde beruht, ein wesentliches Instrument der individuellen und kollektiven Emanzipation, eine unabdingbare Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Gleichstellung der Geschlechter, Umweltschutz und Entwicklung der Gemeinschaft. Der Ausschluss von diesem Recht trägt zur Aufrechterhaltung von Ungleichheit der Menschen bei und behindert den sozialen Fortschritt.

Paul und sein Team aus Québec waren die Hauptautoren der UNESCO-Erklärung „Das Recht auf Lernen“. Das Recht auf Lernen wurde im März 1985 auf der 4. UNESCO-Konferenz über Erwachsenenbildung in Paris verabschiedet.

Tatsächlich kann der Verweis auf das Recht auf Bildung als leere rhetorische Phrase erscheinen, Pauls fortschrittliche Überlegungen haben es uns jedoch ermöglicht, diese traditionelle Sichtweise zu überwinden, die das Recht auf Bildung nur mit dem Zugang zu Lernmöglichkeiten gleichsetzt, die von den herrschenden Mächten in Politik und Wirtschaft angeboten werden. Die Überlegungen, zu denen er uns anregte, führten uns dazu, die Teilnahme an und den Zugang zu Erwachsenenbildung nicht als Ultima Ratio zu betrachten. Der wahre Wert liegt in den individuellen und kollektiven Folgen einer aktiven und bewussten Teilnahme an Bildungsprozessen, die sich auf das Privatleben, die Arbeit und unser Leben als Verbraucher aller Arten von materiellen und immateriellen Produkten auswirken. Der wahre Wert liegt in der demokratischen Qualität der Lernprozesse.

Die Schwierigkeit, die schöpferischen Kräfte des Menschen freizusetzen

Der Pädagoge fördert nicht nur das Lernen selbst, sondern auch die Emanzipation des Menschen im Alltag und in der Arbeit durch die individuelle und kollektive Beherrschung der Lernprozesse, denen wir alle unterworfen sind. Sich von der pädagogischen Unterwerfung zu befreien, ist die epochale Herausforderung. Diese Herausforderung ist so schwierig, dass Paul nie geglaubt hätte, dass es irgendjemanden gäbe, der die richtige Antwort geben könnte. Paul dachte nie, dass es Aufgabe der Lehrer sei, den richtigen Weg zu weisen. Paul war ein ausgezeichneter Erwachsenenbildner, weil er glaubte, dass diejenigen, die nichts wissen, lehren müssen und diejenigen, die wissen, lernen müssen, und er war außergewöhnlich gut darin, jedem zuzuhören und von jedem zu lernen. //

Kurzbiographie

Paul Bélanger (19. März 1939 – 31. Jänner 2025) war Direktor des Canadian Institute for Adult Education und des Applied Research Centre on Work (1972 – 1984), Direktor des Institut de recherche appliquée sur le travail (1988 – 1989) und des UNESCO Institute for Education in Hamburg (1989 – 2000). Seit 2000 war er Professor an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität UQAM in Montreal und Direktor des interdisziplinären Forschungs- und Entwicklungszentrums für lebenslanges Lernen – Centre interdisciplinaire de recherche sur l’éducation permanente UQAM. Paul Bélanger war Präsident des Internationalen Rates für Erwachsenenbildung und Präsident des Instituts für Zusammenarbeit in der Erwachsenenbildung (Québec).

Federighi, Paolo (2025): Ein guter Erwachsenenbildner sein. Lernen aus den Erfahrungen von Paul Bélanger. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr 2025, Heft 284/76. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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