Der Neoliberalismus und das neoliberale Weltbild sind schon seit einigen Jahrzehnten die ideologische Basis der dominierenden „finanzkapitalistischen Spielanordnung“. Im Slogan, „Lassen wir unser Geld arbeiten“, drückt sich aus, dass sich das Gewinnstreben von der Real- zur Finanzwirtschaft verlagert hat. Das bringt aufgrund der damit einhergehenden Sparpolitik, der Senkung von Löhnen und des Arbeitslosengeldes wiederkehrende Krisen und Probleme mit sich. Finanzkapitalismus huldigt einer Überzeugung (S. 11): „Nur die Konkurrenz der Individuen auf deregulierten Märkten ermögliche die wirtschaftlich besten Lösungen, die Koordination übernimmt ja die ‚unsichtbare Hand‘.“
Dagegen plädiert Schulmeister für eine „realkapitalistische Spielanordnung“, die darauf zielt die Polaritäten Ökonomie und Politik, Markt und Staat, Konkurrenz und Kooperation, Unternehmer und Gewerkschaft, individuelles Glück und gesellschaftlicher Zusammenhalt zu integrieren.
Auf knapp fünfhundert Seiten entfaltet Stephan Schulmeister, langjähriger Mitarbeiter am Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO und Lehrender an internationalen Universitäten, sein aufklärerisches Anliegen. Er schreibt gegen den zurzeit bestimmenden neoliberalen ökonomischen Mainstream für ein ökonomisches Modell, das Prosperität für Europa verspricht.
Die Hauptintentionen des Buches finden sich in zwanzig kurzen Thesen zu Beginn des Buches zusammengefasst (S. 12). Schulmeister zeigt mit ihnen, dass die Folgen des Neoliberalismus auch die bisherigen positiven Werthaltungen zerstören, die Chancen eines sozial orientierten Europas in Gefahr bringen und gänzlich von egoistischem Gewinnstreben und individualistischer Konkurrenz abgelöst werden. Die Thesen eignen sich sehr gut für den Einsatz in Lehrveranstaltungen, Kursen, Diskussionsrunden – sie sind didaktische Grundlagen für die aus Schulmeisters Sicht notwendige Aufklärung über die derzeitige gesellschaftlich-ökonomische Lage und wie sie zu verändern und zu verbessern ist.
Die den Thesen zugrundeliegende Argumente, statisches Material, empirische Erhebungen sowie wissenschaftlich fundierte Literatur finden sich in den sechs Teilen des Buches. Der erste Teil befasst sich mit „Theorieproduktion als sozialer Prozess“ und erklärt sowohl die Schwierigkeit, in der Wissenschaft von eingenommenen Theoriepositionen abzukommen als auch den Wandel, der den Markt zum Subjekt machte, dem sich alle Menschen, ihrer Natur nach Egoisten, unterwerfen sollen. Im zweiten Kapitel, „Von der Depression zur Prosperität und zurück“, erläutert Schulmeister, wie das Bündnis zwischen Arbeit und Realwirtschaft, das im Rahmen des Prosperitätsmodells Vollbeschäftigung und steigende Lohnquote mit sich brachte, an sein Ende kam. Der Erfolg führte in den 1970er-Jahren zur Veränderung – das neoliberale Modell versprach den Unternehmern (dem Realkapital) ein Zurückdrängen der Gewerkschaft und den Abbau des Sozialstaats, dem Finanzkapital den Kampf gegen Inflation und die Liberalisierung der Finanzmärkte. Nachfolgende Krisen, die Verlagerung von Realinvestitionen zur Finanzspekulation bereiteten den Boden für die neoliberale Bewegung, urteilt Schulmeister. Er belegt, wie die neoliberale „Reconquista“ – Wiedereroberung – liberale Freiheiten in Politik und Gesellschaft bis hin zur Vergabe von Nobelpreisen erreichte. Mit Selbst-Entmündigung der Politik, „Gefangen im falschen Ganzen“, erklärt Schulmeister unter anderem das Aufkommen des Rechtspopulismus. Im folgenden Kapitel, „Ein neuer theoretischer Rahmen“, werden die divergierenden Interessen von Arbeit, Real- und Finanzkapital sowie der Zusammenhang von Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit erläutert.
Das Anliegen von Stephan Schulmeister ist praxisorientiert: Er will über Fehlentscheidungen in der europäischen Politik aufklären und zu einem neuen Kurs, er spricht von einer neuen „Navigationskarte“, auffordern. Im fünften Kapitel liefert er „Eine verheerende Gesamtbilanz“. Zurechtgerückt wird ein naives Menschenbild, das dem „homo oeconomicus“ als egoistisches Konkurrenzwesen interpretiert, und ein Weg wird gesucht, der von „neoliberaler Knechtschaft“ zu neuer Prosperität führt. Dies unternimmt Schulmeister im sechsten Kapitel, „Navigation aus der Krise“. Er bringt konkrete Vorschläge für die Erneuerung des europäischen Sozialmodells, die sich u.a. mit Finanztransaktionssteuer, dem Bildungswesen, erschwinglichem Wohnraum oder sozialer Mindestsicherung beschäftigen.
Letztlich hofft Schulmeister auf Krisen, die bei Ökonomen, die er an den Schaltstellen politischer und ökonomischer Macht sitzen sieht, ein Umdenken, eine Akzeptanz des Menschenbildes „Homo humanus“ bewirken sollen. Der Autor setzt auf anteilnehmende DenkerInnen mit interdisziplinärer Orientierung und erinnert WissenschafterInnen an „den sozialen Charakter ihrer Erkenntnisprozesse“ (S. 367).
Stephan Schulmeister ist ein aufklärendes Buch gelungen, mit dem er beweist, dass ökonomische und gesellschaftspolitische Zusammenhänge in verständlicher Sprache vermittelt werden können. Es handelt sich nicht um ein exklusives Wissen Auserwählter, sondern dieses Wissen wird nur zu wenig – im Sinne allgemeiner Bildung – anderen mitgeteilt und mit ihnen geteilt. Das Buch bietet zugleich eine Geschichte des wissenschaftlich fundierten ökonomischen Denkens und dessen interne Kämpfe. Darüber hinaus repräsentiert es auch eine didaktische Leistung: Es ist ein Beispiel, wie (ökonomisches) Wissen für den Bildungsbereich und speziell für die Weiterbildung aufbereitet werden kann.
Eine kurze Anmerkung sei noch erlaubt: In seiner 20. These (S. 13) meint Schulmeister, um in der EU Ungleichheit zu mildern und den sozialen Zusammenhalt zu stärken, fehle es an „Aufklärung und Mut“. Doch basiert nicht die ökonomische Lage, die Art der „Spielanordnung“ auf Interessen und auf Macht, diese durchzusetzen? Sollten wir zu „Aufklärung und Mut“ nicht noch „strategisches Denken und Handeln“ hinzufügen, um die (Macht)Verhältnisse zu ändern – als Voraussetzung für angemessene Prosperität? //
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