Genug geschwiegen – jetzt sind wir am Wort! Auch an Taten soll es nicht fehlen. Voll Engagement tritt die Journalistin und Lehrerin, Melisa Erkurt, dafür ein, dass sich die Bildungssituation für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund verbessern soll. Zu wenig nimmt die Bildungspolitik bislang auf die Nöte und Sorgen, auf die Erwartungen und Interessen dieser Klientel Rücksicht. Teils aus Unwissen über die Lebensbedingungen, teils aus Ignoranz der für sie verantwortlichen Lehrpersonen haben diese Jugendlichen eine schlechte Ausgangslage. Sie müssen sich gegen die traditionellen gesellschaftlichen Auffassungen ihrer Eltern und ihrer Community sowie gegen die negativen Zuschreibungen ihrer neuen Heimatgesellschaft durch- und zur Wehr setzen, um ihre Fähigkeiten zu entwickeln und ein erfolgreiches Aufwachsen in ihrer neuen Kultur zu schaffen.
Melisa Erkurt lässt Leserin und Leser an ihrem Schicksal teilhaben. Als Kleinkind floh sie Anfang der 1990er Jahre unter der Obhut ihrer Mutter aus dem belagerten, von Schafschützen bedrohten Sarajevo nach Österreich. Sie schildert die Irritationen und Widerstände, die ihr als Schulkind begegnet sind, aber auch die Unterstützung und Hilfen, z. B. die Bedeutung einer Volksschullehrerin, die sie nicht als Migrantin sondern als Kind mit Entwicklungspotential behandelt hat. Sie erklärt, wie es ihr gelang sich die von ihr geliebte Sprache Deutsch anzueignen, die Matura zu absolvieren, trotz der Skepsis ihrer Eltern zu studieren, sich das Studium durch Nebenjobs zu finanzieren und schließlich als Lehrerin und Journalistin ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Die Autorin legt ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit Kindern von Migrantinnen offen. Es handelt sich aber nicht um eine Abrechnung mit dem Bildungssystem. Melisa Erkurt klärt auf, welche Ungleichheiten in einem Schulsystem vor sich gehen, das unausgesprochen aber faktisch auf die Mitwirkung von Eltern beim Erfolg der Kinder baut. Ihr „haram“ (im Islam „verboten“) soll uns „Autochthonen“ (Einheimischen) bewusst machen, wie wir die Wege für Kinder mit Migrationshintergrund von vielen Stolpersteinen befreien könnten. Der aktuelle Integrationsbericht von September 2020 https://www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/integration/integrationsbericht.html beziffert den Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund mit etwa 25%. Das sind etwas mehr als zwei Millionen Menschen, die selbst zugewandert sind oder zugewanderte Eltern haben. Ein Viertel der Gesellschaft kann wohl nicht mehr als Minderheit bezeichnet und behandelt werden.
Melisa Erkurt schildert anschaulich, mit vielen Beispielen speziell die Lebenswelt und das Schulverhalten muslimischer Jugendlicher. Besonders auffällig ist für die Autorin, wie Burschen oft mit unbegründeten „haram“ („verboten“)-Rufen das Verhalten von Mädchen einschränken. Sie beschreibt den Bildungsalltag, das Staunen der Jugendlichen über die guten Deutschkenntnisse der Autorin, die Notwendigkeit von Vorbildern und die Chancen, die Schule eigentlich hätte, um alle Schüler/innen zu erreichen. Sie beschreibt die Dominanz und Vorurteile die Burschen gegenüber Mädchen und Frauen ausüben. Schule als Mikrokosmos, urteilt die Autorin, spiegelt die Realität wider. Es sind oft Burschen in Doppelrollen – als Aufpasser über jüngere Geschwister, Übersetzer für Eltern, zwischen zwei kulturellen Identitäten und Zweisprachigkeit – deren Potential nicht ausreichend gefördert wird. Doch wer zu viel Diskriminierung erfährt, wird gegenüber demokratischen Verhaltensweisen nicht aufgeschlossen. So ist das Buch auch ein Appell, eine Bitte, ein Aufruf individuelle Verantwortung für Jugendliche mit Migrationshintergrund zu übernehmen.
Klar wird, dass das österreichische Bildungssystem für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe – mittlere Einkommensschichten aufwärts, „bürgerlich“ war es wohl einmal – konzipiert ist. Das beinhaltet Wohnverhältnisse mit Kinderzimmern, ausgestattet mit Büchern und elektronischen Geräten, reichlich Freizeit- und Urlaubsangebote, Auslandaufenthalte bei Bedarf, Hilfe und Nachhilfe ebenso – insgesamt ein Leben in relativem Wohlstand. Bildung gilt als Investition, höhere Bildungsabschlüsse werden deshalb auch bei vermehrten Kosten angestrebt. Von solchen Vorstellungen gehen Schule und Lehrende aus. Melisa Erkurt bedauert wie fern letzteren eine andere Lebensrealität ist: Kinder in beengten Wohnsituationen, die nachmittags auf kleinere Geschwister aufpassen müssen, sie für die Schule unterstützen und deshalb die eigenen Hausaufgaben erst spät abends in Eile erledigen. Die Autorin legt mit ihrem Buch eine Sozialreportage vor, die vielleicht in Corona-Zeiten leichter Gehör findet. Nun gibt es ja vermehrt Information, Studien und Berichte in den Medien, die belegen, wie leicht und wie viele Kinder in weniger bildungsaffinen Haushalten zurückgelassen und vom Bildungserfolg ausgeschlossen werden.
Voraussetzung für Integration, teilt uns Marisa Erkurt mit, ist es die Lebensbedingungen der Migranten/innen und ihrer Kinder zur Kenntnis zu nehmen. Die Sorgen und Verluste der Eltern, ihre Unsicherheit, ihre Empfindungen und Traumata, ihr Gefühl der Unterlegenheit aber auch ihren Wunsch das Beste für ihre Kinder zu erreichen. Selbst noch der Gesellschaft ihrer Herkunft verhaftet, spüren sie wie wenig sie ihren Kindern mit Wort und Tat – mit der neuen Sprache und ihnen fremden sozialen Beziehungen – helfen können.
Es wird klar, wie wichtig die Unterstützung dieser Eltern durch Persönlichkeitsbildung und berufliche Fortbildung ist. Klar wird auch, dass Integration, ein Prozess der Wechselwirkung, auch Engagement aus der aufnehmenden Gesellschaft bedarf. Sich mit den Arbeits- und Lebensbedingungen von Migranten/innen zu beschäftigen, über ihre Herkunftsländer, Traditionen, religiösen und kulturellen Gebräuche besser informiert zu sein, ihre Vorstellungen, Wünsche, Erfahrungen, Hoffnungen und Alltagssorgen besser kennen zu lernen, öffnet Türen zu einer gemeinsamen, friedlichen, sozialen Koexistenz. Besonders kann dies den Kindern zugutekommen, die doppelt belastet sind: durch die traditionellen Vorstellungen ihrer Eltern und durch die neuen sozialen Herausforderungen.
Für die Schulen schlägt Melisa Erkurt vor: Lehr/innen mit Migrationshintergrund für den Beruf anwerben und ausbilden, soziale Teams in der Schule einsetzen, eine verpflichtende kostenlose Ganztagsschule mit sozialer Durchmischung und Zugang zu musischen Fächern einrichten. Außerdem sollte dringendst der Deutschunterricht mit intensivem Bezug zu Literatur neu konzipiert werden und in Form einer Quotenregelung Personen mit Migrationshintergrund in Leitungspositionen tätig werden, um auch auf diese Weise Vorbildfunktionen zu erfüllen.
Lesenswert und diskussionswürdig für alle, die an positiver gesellschaftlicher Entwicklung interessiert sind, sowie für alle, die lebensbegleitende Bildung und Weiterbildung für wertvoll halten. //
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