Bildung, so hört und liest man es immer wieder, ist nichts, was mit der Absolvierung einer Schule, Hochschule oder Universität abgeschlossen wäre, nichts, was mit einigen Kursen erledigt, nichts, was nur eine kurze Phase des Lebens bestimmt, nichts, was durch einige Zertifikate belegt und damit abgelegt werden könnte. Begriffe wie „lebenslanges“ oder „lebensbegleitendes“ Lernen, die permanente Aufforderung, sich beruflich weiterzubilden, der durch die Veränderung der Arbeitswelt notwendig gewordene ständige Erwerb zusätzlicher oder überhaupt neuer Qualifikationen lassen es zunehmend fragwürdiger erscheinen, Bildung auf die Kindheit und Jugend sowie auf die klassischen Einrichtungen wie Schulen und Universitäten zu beschränken. Diesem Gedanken folgte wohl auch die Europäische Kommission, als sie im Jahre 2000 ein richtungsweisendes Memorandum zum „lebenslangen Lernen“ veröffentlichte, das allerdings – wie könnte es anders sein – die Normierung und Standardisierung beruflicher Fort- und Weiterbildung in den Fokus rückte.
Wohl stimmt es, dass bei Kindern und Jugendlichen das Lernen in all seinen Formen dominiert: Sie müssen erst in eine Welt hineinwachsen, deren Regeln und Kulturtechniken, deren Wissen und Traditionen kennenlernen. Aber dass auch „Erwachsenenbildung“ möglich und nötig ist, erscheint nicht nur in einer Welt der technologischen Umbrüche vonnöten, sondern gehört auch insoweit zur humanistischen Bildungsidee, als diese Bildung als jenen Prozess der Welterschließung und Weltdeutung begriff, durch den sich auch die Persönlichkeit eines Menschen wandelt und formt. Solche Prozesse sind prinzipiell unabschließbar, der Mensch ist ein lernendes Wesen vom ersten bis zum letzten Atemzug. Und dennoch variieren die Vorstellungen, was Bildung für den erwachsenen Menschen bedeuten kann, in welchem Maße er sich weiterbilden sollte, welche Motive – von der ungerichteten Neugier bis zum zielorientierten Qualifikationsdruck der Arbeitsmärkte – dafür maßgeblich und ausschlaggebend sein könnten.
Die Veränderungen unserer Vorstellungen von Erwachsenenbildung lassen sich überraschend gut an einer eher ephemeren Einrichtung wie dem Österreichischen Staatspreis für Erwachsenenbildung ablesen. Verliehen wird dieser Staatspreis in der aktuellen Form erst seit dem Jahre 2008, und das mutet doch seltsam an. Doch trügt der Schein auch hier. Der Staatspreis für Erwachsenenbildung gehört in Wirklichkeit zu den ältesten staatlichen Auszeichnungen der Zweiten Republik, allerdings präsentierte sich diese unter wechselnden Bezeichnungen und mit unterschiedlichen Zielsetzungen, sodass sich schon allein aus der Geschichte dieses Preises eine kleine Theorie der Erwachsenenbildung in Österreich ableiten ließe.
Am Beginn stand der „Förderungspreis für Volksbildung“, der erstmals im Jahre 1956 an Viktor Frankl vergeben wurde. Diese Auszeichnung war Auftakt und Programm. Prämiert wurden die Bemühungen eines Neurologen und Psychotherapeuten, der nicht zuletzt seine Erfahrungen aus den Konzentrationslagern verarbeitete, um sich der Frage nach dem Sinn des Lebens und der Verantwortung des Einzelnen radikal zu stellen: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“. In der Denomination des Preises schwingt aber auch die bildungspolitische Situation dieser Jahre mit. Der Riss verlief nicht, wie heute gerne konstatiert, zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten, sondern schlicht zwischen den (vermeintlich) Gebildeten und dem Volk. Gleichzeitig – und dieser Gedanke reicht weit zurück, bis in die Gründerzeit der Volkshochschulen und die Anfänge der Arbeiterbildungsvereine – war es stets ein Anliegen engagierter Menschen gewesen, das „Volk“ an der „höheren“ Bildung und den damit verbundenen Einsichten und Möglichkeiten auch dann zu beteiligen, wenn dies in den offiziösen Bildungslaufbahnen nicht vorgesehen war.
Volksbildung meinte immer zweierlei: Kompensation der durch vorenthaltene Bildungschancen bedingten Defizite und Teilhabe an den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften. Über weite Strecken verstanden sich diese Bemühungen auch als sozialpolitische Anstrengungen mit emanzipatorischem, aufklärerischem Anspruch. Berufen konnte man sich da gut und gern nicht nur auf die Bildungskonzepte der Arbeiterbewegung, sondern auch auf Wilhelm von Humboldt, der Bildung als ein Projekt zur Selbstgestaltung durch Weltaneignung gesehen hatte, von dem kein Mensch ausgeschlossen werden dürfe. Bildung, nach Humboldt der letzte Zweck unseres Daseins, war so immer auch als das entscheidende Lebensprojekt erwachsener Menschen gedacht gewesen.
1974 war es mit der Volksbildung dann vorbei, der Förderungspreis wurde nun für Erwachsenenbildung vergeben. Die Umbenennung war Programm. Die Öffnung der tradierten Bildungseinrichtungen für breite Teile der Bevölkerung in den ersten Jahren der Ära Kreisky ließ die alte Trennung zwischen Volk und Bildungsbürgertum zumindest programmatisch obsolet erscheinen. Allmählich setzte sich die Einsicht durch, dass die klassische Vorstellung, dass es im Leben eines Menschen aufeinanderfolgende Phasen der Ausbildung und Bildung, der beruflichen Tätigkeit und des Ruhestandes gäbe, den gesellschaftlichen Wirklichkeiten immer weniger entsprach. Erwachsenenbildung war schon damals durchdrungen von dem Imperativ, dass man nie aufhören könne, Neues zu lernen. Die betriebliche und die berufliche Weiterbildung, die Konzepte von Umschulung und der Erwerb von Zusatzqualifikationen bestimmten dieses Konzept, und prämiert wurden Personen und Institutionen, die diese Vorgaben realisieren konnten.
Die Entdeckung, genauer: Wiederentdeckung des Erwachsenen als lernendes und bildungsfähiges Wesen führte im Jahre 1984 zur Transformation des Förderungspreises in einen Staatspreis, der allerdings wenig später in einen „Staatspreis für Erwachsenenbildung, Büchereiwesen und Volkskultur“ umbenannt und bis zum Jahre 1998 in dieser Form vergeben wurde. Das ganze Dilemma der Erwachsenenbildung ließe sich an dieser Bezeichnung demonstrieren. Oszillierend zwischen einem humanistisch-emanzipatorischen Anspruch auf „Bildung für alle“, Förderung einer Bildungsinfrastruktur, die sich noch um das Medium „Buch“ zentrieren konnte, und einer sanft angedeuteten Opposition von Hochkultur und Volkskultur spiegelte sich darin eine Unentschlossenheit wider, die dem Bildungsbegriff selbst inhärent zu sein scheint. Denn dieser schwankt immer zwischen Exklusion und Inklusion, Entfaltung und Kompensation, Förderung und Forderung, Freiheit und Verpflichtung. Bildung hat darüber hinaus aber auch immer mit dem Widerspruch zwischen einer legitimen Kultur und diversen Sub- und Volkskulturen, zwischen innovativ-avantgardistischen Konzepten von Kunst und traditionellen Formen lebensnaher, ästhetischer Praktiken zu tun, der sich in dieser schwammigen Bezeichnung gespiegelt sieht.
Nach 1999 verschwanden das Buch und die Volkskultur in dem Nichts, aus dem sie aufgetaucht waren, die Erwachsenenbildung aber blieb. Nun allerdings wurde sie dem nun neoliberalen Geist der Zeit erneut anverwandelt. Globalisierung, Rankings und Wettbewerb waren angesagt, und so konnte es nicht ausbleiben, dass nun in Österreich „Bildungschampions“ gekürt und prämiert wurden. Auch die Bildung der Erwachsenen war nun etwas, bei dem man in erster Linie besser zu sein hatte als andere, der Slogan, der diese Neufassung des Staatspreises begleitete, lautete dann auch „Lernen bringt’s“. Das entsprach ganz den Vorstellungen der Europäischen Kommission, die „lebenslanges Lernen“ nahezu ausschließlich als Qualifizierungsprogramm sah, das vor allem die Wettbewerbsfähigkeit des Europäischen Wirtschaftsraumes und die berufliche Flexibilität, Mobilität und Anpassungsfähigkeit der Einzelnen an den Arbeitsmarkt steigern sollte: optimale Nutzung von Humankapital. Bildung degenerierte zu einem mentalen Fitnessprogramm, das die Menschen zunehmend in einen Wettlauf um Zusatzqualifikationen, Zertifikate, Abschlüsse und Investitionen in die Ich-AG hetzte. Gleichzeitig nahm die Sorge um Randgruppen und Bildungsverlierer zu, Programme und Projekte, die deren Defizite ausgleichen und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen sollten, wurden zunehmend wichtiger. Seitdem gilt Bildung nicht mehr als Ausdruck der conditio humana, sondern als Ressource, und wer diese nicht ausschöpft, handelt verantwortungslos.
2008 wurde die Vergabe des Staatspreises für Erwachsenenbildung – der Name blieb – dann erneut modifiziert und in seine bis heute gültige Form überführt. Er wird seitdem in Sparten vergeben, neben dem Erwachsenenbildner oder der Erwachsenenbildnerin des Jahres wird auch eine Auszeichnung für einen wechselnden Themenschwerpunkt vergeben sowie ein Preis für Wissenschaft und Forschung. Vor allem letzterer knüpft an ein Konzept der Erwachsenenbildung an, das untrennbar mit den Ideen und Forderungen der Aufklärung verbunden ist und damit an eine der Wurzeln der modernen Erwachsenenbildung überhaupt rührt. Es lohnt sich, diese auch einmal genauer unter dem Aspekt von Wissenschaft und Öffentlichkeit zu betrachten.
Einer Erwachsenenbildung, die sich als Beitrag zu diesem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit versteht, geht weniger um Kompensation sozial oder biografisch bedingter Bildungsdefizite, auch nicht um Fortbildung im Sinne von Qualifikationszuwächsen, sondern schlicht um die alte und stets neue Vorstellung, dass das Streben nach Bildung an sich ein Kennzeichen eines erwachsenen, mündigen Bürgers ist. Das Interesse und Engagement für die Wissenschaften, für das Gemeinwohl und die Entwicklung der Gesellschaft, für die Fragen der Zeit, für Kunst und Kultur kennzeichnen diesen Typus. Aufklärung bedeutet so immer – und dies seit Immanuel Kant – den öffentlichen Gebrauch der Vernunft, die Interaktion von Wissenschaft und Gesellschaft.
Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit heute ist ja durchaus widersprüchlich. Einerseits genießen die Wissenschaften öffentliche Aufmerksamkeit in einem bislang kaum gekannten Ausmaß. Wissenschaftsmagazine boomen, neue TV-Formate zur Propagierung wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Innovationen werden erfunden, manche Wissenschafter mutieren zu Medienstars, lange Nächte der Forschung werden inszeniert, Wissenschaftsförderung gilt als nationale Herausforderung, und die öffentlichkeitswirksame Jagd nach wissenschaftlichen Begabungen, Talenten und potenziellen Nobelpreisträgern ist voll im Gange. Aber auch darüber hinaus nehmen die Bedeutung und der Einfluss von Wissenschaften und Wissenschaftern im öffentlichen und politischen Diskurs zu. Von der Krise der Finanzmärkte bis zu den Verheißungen der Genetik, von der Klimafrage bis zur Psychopathologie des sexuellen Missbrauchs, von den Problemen der Migration bis zum Generationenkonflikt, vom Zusammenprall der Kulturen bis zur Digitalisierung und dem Einsatz neuer Medien im Unterricht: Kaum ein Thema von allgemeinem Interesse, das nicht die Expertise, den Rat, einen Kommentar oder eine Handlungsempfehlung von Wissenschaftlern benötigt und erhält. Die Aufforderung der Klimabewegung „Fridays for Future“ an die Politik, doch endlich auf die Wissenschaft zu hören, unterstreicht diesen Befund nachdrücklich. Wissenschaft wird selbst zu einem Faktor der Politik, die wissenschaftliche Argumentation soll auch ein sicheres Fundament für schwerwiegende politische Entscheidungen abgeben. Und nicht zuletzt gelten jene Disziplinen, die eine rasche technische und ökonomische Verwertung ihrer Erkenntnisse versprechen, als Garanten für profitable Unternehmen und eine prosperierende Zukunft.
Auf der anderen Seite allerdings wird Wissenschaft zunehmend wieder zu einem esoterischen Unternehmen, das sich von der Öffentlichkeit entfernt. Die Professionalisierung des Wissenschaftsbetriebs führt dazu, dass Wissenschaft ein selbstreferentielles System wird, in dem sich Experten an Experten wenden. Die Internationalisierung der Wissenschaften ist auch ein weltweiter sozialer Segregationsprozess, in dem sich eine schmale Schicht herauskristallisiert, deren Mitglieder in der Regel nur mehr mit ihresgleichen kommunizieren, sich nur von ihresgleichen bewerten lassen und mit ihresgleichen durch Rituale, Verbindungen und wechselseitige Hilfestellungen bei aller Konkurrenz eine verschworene Gemeinschaft bilden. Wohl wird wissenschaftliche Forschung nach wie vor in hohem Ausmaß von der öffentlichen Hand finanziert, aber über Drittmittelgeber, Akkreditierungs-, Zertifizierungs- und Evaluierungsagenturen gewinnen nichtöffentliche Interessen deutlich an Einfluss. Und das gegenwärtig überall propagierte Konzept der Wissenseliten nimmt den seit der Moderne zum Programm erhobenen exoterischen Charakter der Wissenschaften, ihre Öffentlichkeit und ihren Anspruch, selbst an der Aufklärung mitzuwirken und diese mitzutragen, in einem rasanten Tempo zurück.
Angesichts dieser Entwicklung ist Folgendes in Erinnerung zu rufen: Wissenschaft ist in erster Linie eine mühsame Arbeit der Vernunft an der Erkenntnis der Welt und des Menschen. Ihr Motiv ist die Neugier, ihr Ausgangspunkt ist der Zweifel, ihre Methode das Riskieren des Irrtums und ihre Ergebnisse sind prinzipiell vorläufig. Die Verwechslung von Wissenschaft mit ihrer technischen Anwendung und ökonomischen Verwertbarkeit könnte mittelfristig nicht nur den Prozess der Forschung selbst sabotieren, sondern auch zu verhängnisvollen gesellschaftspolitischen Fehleinschätzungen führen, was die Möglichkeiten und Grenzen von Wissenschaft betrifft. Notwendig sind deshalb öffentliche Diskurse, die sich nicht auf die Vermittlung spektakulärer Forschungsergebnisse beschränken, sondern am Konzept von Wissenschaft als Aufklärung prinzipiell festhalten.
Dahinter steht der Gedanke, dass – entgegen einer heute vielfach vertretenen Meinung – Wissenschaft nicht nur etwas ist, das sich in spezialisierten „Journals“ ereignet und deren Qualität bibliometrisch erfasst und über Impact-Faktoren ermittelt wird, sondern ein Unternehmen, das selbst einen öffentlichen und damit bildenden Charakter hat. Es geht also nicht um eine didaktisch konzipierte Wissenschaftsvermittlung, sondern um die Verpflichtung der Wissenschaften, selbst eine tragende und kritische Rolle in den öffentlichen Diskursen zu übernehmen. Die Bürger, die sich über den Klimawandel und Mobilitätskonzepte, über Entwicklungen in den Naturwissenschaften und der Ökonomie, über Historikerdebatten und philosophische Zeitdiagnosen, über Bioethik und Kunstraub informieren wollen, möchten weder ein Leben lang beschult werden noch ihre Wettbewerbschancen erhöhen, sondern schlicht jenem Bildungsanspruch folgen, der sich aus dem Status des Erwachsenen selbst ergibt. Denn nur mündige, informierte, wissende und reflektierende Bürger verleihen der Demokratie jenes Leben und jene Kraft, die diese benötigt, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.
Wo Erwachsenenbildung emphatisch gelingt, orientiert sie sich an diesen Ansprüchen. Sie ist dann frei von allen Gesten der Bevormundung, Nachschulung und Kompensation. In einer Zeit, die von Meinungsjournalismus, Verschwörungstheorien und „Fake News“ geprägt ist, gewinnen solche Modelle von Erwachsenenbildung ungeahnte politische Aktualität und können auch entscheidende Beiträge für die Diskurse der Vernunft in der nahen Zukunft bilden. //
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