Anstelle menschlicher Entscheidungen Software einsetzen – die Welt wird angenehmer und besser. Eine Annahme, der der international renommierte Psychologe und Verhaltensforscher Gerd Gigerenzer nicht zustimmt. Künstliche Intelligenz, meint er, könne den Menschen nur übertreffen, wenn die Rahmenbedingungen stabil sind. Big Data spiegeln nämlich die Vergangenheit, für neue, überraschende Situationen ist der Rückgriff auf große Datenmengen von begrenzter Hilfe. Menschen, eine Hauptquelle von Unsicherheit, haben deshalb evolutionär eine eigene Intelligenz entwickelt.
Das führt zum zentralen Thema des Buches. Der Autor fragt: Wie können wir in einer smarten Welt smart bleiben? Seine Antwort: Die Möglichkeiten und Risiken digitaler Technologien verstehen und die Kontrolle behalten. Es kommt auf die persönlichen Fähigkeiten, Kompetenzen und auf die Bereitschaft an, die Technologie zu steuern.
Am Beispiel der Privatsphäre wird ein Wandel in der Gesellschaft erkennbar. Die Privatsphäre wurde bis noch vor wenigen Jahren vor technologischem Zugriff auf persönliche Daten verteidigt. Doch diese Abwehr hat nachgelassen. Eine Anpassung an die Realität ist erfolgt. Realistisch urteilt der Autor: Das Bemühen der Tech-Unternehmen (z. B. Google, Facebook) geht dahin, dass KundInnen möglichst lange bei der Werbung und auf Websites verweilen. „So sind es nicht Ihre Daten, die verkauft werden, sondern Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Zeit und Ihr Schlaf“ (S. 19).
Ziel des Buches ist es, auf den Kampf zwischen demokratischen und autokratischen Systemen aufmerksam zu machen. Zugleich tritt es gegen einen technologischen Paternalismus von Unternehmen durch Computer und gegen eine angeblich überlegene „Artificial General Intelligence“ auf. Doch der Autor will keine technofeindliche Panik entfachen, sondern informierte, kritikfähige, sich selbst bestimmende BürgerInnen unterstützen. Die Menschen, nicht nur die Dinge, sollen smarter werden.
Strukturiert ist das Buch in zwei Teile. Der erste beschäftigt sich mit „Mensch und Künstliche Intelligenz“, der zweite Teil mit: „Es steht viel auf dem Spiel“. Durchwegs bieten konkrete Situationen und Fallbeispiele sowie Hinweise auf eigene Forschungen und Projekte des Autors Zugänge zu den einzelnen thematischen Schwerpunkten.
Zum Einstieg analysiert der Psychologe den aktuellen Weg, Liebe zu finden – mit Algorithmen. Dating-Plattformen von Partnerbörsen, auf denen unrichtige, beschönigende Daten eingegeben werden, Postings, die nach „likes“ süchtig machen, haben Geschäftsmodelle, die KundInnen behalten, nicht aber verlieren wollen. Der Autor macht aufmerksam, mit welchen Raffinessen KundInnen in Bann gezogen werden. Gigerenzer warnt, wir haben es mit Profilen zu tun, nicht mit Menschen. Das Profil besteht aus einer Datensammlung, das Dating bringt die unvorhergesehene Überraschung.
Er warnt auch mit diversen Beispielen, dass Betrüger, Erwartungen nach Anerkennung und Liebe oder Hoffnungen auf großen Gewinn und Reichtum, auf diesen Wegen ausnutzen.
Dem selbstfahrenden Auto gibt der Autor in Zukunft wenig Chance, eher werden sich Menschen an neue technologische Unterstützungssysteme im Auto anpassen – eine partielle Automatisierung findet schon statt.
Auch am Beispiel des „gesunden Menschenverstandes“ gelingt es dem Autor in überzeugender Weise, den Unterschied zur Künstlichen Intelligenz zu zeigen. Computer können schnell rechnen, Assoziationen in Big Data zwischen Merkmalen suchen sowie Muster in Bildern und Akustik entdecken. Der Menschenverstand denkt kausal, agiert intuitiv, empathisch und normativ. Big Data sind dort nützlich, wo stabile Situationen bestehen, menschliches Verhalten gehört nicht dazu.
Der zweite Teil behandelt in seinen einzelnen Kapiteln die Themen Transparenz, Überwachung, Abhängigkeiten von Nutzern, Sicherheit, Selbstkontrolle sowie Fakt oder Fake. Die Dimension der Überwachung reicht von der interaktiven Barbie bis zu den individuellen „scores“ (Punktestand) in der chinesischen Gesellschaft. Größte Gefahr? Das intelligente Haus („smart home“), das alle Informationen sammelt und weitergibt.
Die „Sammelerhebungen“, ein Euphemismus, eine beschönigende Beschreibung, die in China, Indien oder in den USA Informationen registrieren. Die individuellen Datensammlungen durch das „Internet der Dinge“ legen längst unsere Privatsphäre offen. Sozialkredit-Systeme oder „Große Firewall“ wie in China stützen autokratische Systeme. „Überwachungskapitalismus“ wird zur Gefahr „für die Ideale von Privatsphäre, Würde und Demokratie“ (S. 271), ist Gigerenzer überzeugt. Die Befürworter von Big Data hingegen versprechen, diese Daten tragen zu einer sichereren und besseren Welt bei.
Als Gegengewicht stellt der Autor Möglichkeiten vor, Selbstkontrolle und Selbstdisziplin zu üben, um den Versuchungen aus dem Netz, von Handy, Smartphone, intelligentem Kühlschrank oder smartem Fernseher zu widerstehen.
Die Lektüre lässt nicht unbesorgt. Die offen gelegte Macht der Einflussnahme, die bereits bestehenden Gefahren der Abhängigkeit, die Sorge mittels Daten ausspioniert und manipuliert zu werden, kratzt am Vertrauen, sich unbeschwert in der Gesellschaft zu bewegen. Die vielen Beispiele über alltägliche Erfahrungen und Verhaltensweisen, stimmen zumindest nachdenklich.
Insofern eignet sich das Buch für Veranstaltungen in der Erwachsenenbildung, die sich mit den Themen Digitalisierung und globaler Wandel auch die Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen zum Ziel setzen. //
Kommentare