Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne.

Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne.
Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, 480 Seiten.

Wir erwarten das Besondere, das Einzigartige, das Singuläre. So lautet der Befund von Andreas Reckwitz, Professor für Kultursoziologie an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder. „Der sogenannte ethische Konsument entwickelt eine differenzierende Sensibilität für Brot- und Kaffeesorten in einer Weise, wie sie früher allenfalls für Weinkenner typisch war.“ (S. 7).

Auf diese Art erklärt Reckwitz den durchgängigen Wandel in spätmoderner Kultur und Ökonomie, die zunehmend an singulären Dingen, Diensten und Ereignissen ausgerichtet sind. Der Soziologe folgert: Wir leben nicht mehr in einem industriellen, sondern in einem „kulturellen Kapitalismus“. Für die Arbeitswelt seien deshalb nicht mehr Menschen mit allgemeinen Qualifikationen, sondern mit einem besonderen „Profil“ gefragt. Im Bildungsbereich ist das inzwischen vertraut: Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung betonen ihre Unterschiede, ihr spezielles Profil und die Lernenden – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – wollen und sollen in ihren jeweils besonderen Stärken, Eigenschaften und Kompetenzen gefördert werden. Nach der Epoche der Individualisierung und Selbstverantwortung sehen sich die Individuen neu: Speziell in der neuen hochqualifizierten Mittelklasse wird Singularisierung, ein Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, zu einer gesellschaftlichen Erwartung. Reckwitz meint, wir „kuratieren“ und „performen“ unser Leben in einem ständigen Kampf um Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit.

Reckwitz verarbeitet viele empirische Untersuchungen aus den Sozial- und Kulturwissenschaften, um seine Gesellschaftstheorie in Zusammenhang mit der sozialen Realität zu präsentieren. Die Chancen und Probleme der Gegenwartsgesellschaft sieht der Autor durch eine gleiche strukturelle Ursache hervorgerufen (S. 22): „Sie sind in der Umstellung vom Primat der sozialen Logik des Allgemeinen der alten Industriegesellschaft zum Primat der sozialen Logik des Besonderen in der Spätmoderne begründet.“

Diesen Wandel von der Standardisierung und Rationalisierung der Moderne zu einer Singularisierung und Affektivierung will das Buch in seinen einzelnen Schwerpunkten belegen. Theoretische Klärungen bezüglich sozialer Logik des Allgemeinen und des Besonderen, Transformation der Kultur sowie die Abgrenzung von Moderne und Spätmoderne finden sich im ersten Kapitel. Die postindustrielle Ökonomie, die „creative economy“, Singularisierung der Arbeitswelt sowie die Digitalisierung als Singularisierung werden in den nächsten Kapiteln besprochen. Fragen der Bildung finden im Kapitel über singularistische Lebensführung, das von Lebensstilen, Klassen und Subjektformen handelt, ihren Ort. Dabei zeigt sich auch, wie Ungleichheit kulturalisiert wird. Mittlere Bildungsabschlüsse haben gegenüber höherer Bildung an Wert verloren. Ein Leben „wie alle“ zu führen, klingt nicht mehr attraktiv, mit Konformität und Konventionellem gerät man, Reckwitz zeigt dies am Beispiel der alten Mittelklasse, in die „kulturelle Defensive“.

Das abschließende Kapitel beschäftigt sich mit dem Wandel des Politischen. Die Inszenierung der Gewalt in Form von Terror und Amok nennt der Autor „negative Singularitäten“. Negative Helden erlangen durch negative Affektivität, durch das erschreckend Besondere, wenn auch nur für kurze Zeit, gesellschaftliche Sichtbarkeit. Reckwitz sieht eine Krise des Politischen z. B. in der Abkehr des Staates von gesamtgesellschaftlichen Zielen (vom Allgemeinen) zur Ermöglichung privaten Konsums (zum Besonderen) oder von der politischen Öffentlichkeit zu autonomen Teilöffentlichkeiten. Mehr und mehr geht das Allgemeine verloren. Der Autor resümiert: Singularitäten nehmen weiterhin zu, Vorstellungen anderer Art – rationale Ordnung, egalitäre Gesellschaft, homogene Kultur, balancierte Persönlichkeitsstruktur – hält er für pure Nostalgie (S. 442).

Wer sich mit Bildung theoretisch beschäftigt oder sie praktisch vermittelt, wird bei der Lektüre sicherlich hellhörig: Gibt es das Allgemeine in der Bildung noch und wie wäre es zu benennen? Sind nicht längst, wer an die vielen diversen Angebote der Weiterbildung, die zahlreichen ständig neu entstehenden Studiengänge in Fachhochschule und Universität denkt, die Singularitäten anstelle einer gerne beschworenen allgemeinen, aufklärenden Bildung getreten?

Das Buch, in elaborierter Wissenschaftsdiktion verfasst, ist kein literarischer Spaziergang – eher eine etappenreiche Reise. Es lässt den Wandel unserer komplexen Gesellschaft in neuer Perspektive sehen. Für den Bildungsbereich folgt daraus: Theoretische Grundlagen und praktisches Handeln sind hinsichtlich ihrer allgemeinen Ansprüche und ihrer umfassenden Ziele neu zu bewerten. //

Lenz, Werner (2018): Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, 480 Seiten. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr/Sommer 2018, Heft 264/69. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

Kommentare

Neuen Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Zurück nach oben